Bachelorarbeit, 2018
54 Seiten
1. Einleitung
2. Literaturübersicht und Forschungsstand
3. Konzeptionelle Einführung in den Neorealismus
3.1. Das Konzept der Machtbalance
3.2. Das Konzept des Sicherheitsdilemmas
3.3. Die Rolle der Nuklearwaffen im Neorealismus
4. Konfliktgeschichte: Die israelisch-iranischen Beziehungen in historischer Perspektive
4.1. Die Zeit der Pahlavi-Dynastie (1925-1979)
4.2. Die Beziehungen nach der Islamischen Revolution 1979
5. Konfliktgegenstand: Das iranische Atomprogramm
5.1. Die Entstehung des iranischen Atomprogramms
5.2. Die Verhandlungen mit dem Westen
5.3. Ziele und Inhalte des Atomabkommens
5.4. Gründe für den iranischen Beitritt zum Atomabkommen
5.5. Die israelische Kritik am Atomabkommen
6. Konfliktanalyse: Die israelisch-iranische Rivalität nach dem Atomabkommen
6.1. Analyse der iranischen Außenpolitik
6.1.1. Neorealistische Komponenten der iranischen Außenpolitik
6.1.2. Der Einfluss der Religion auf die iranische Außenpolitik
6.2. Analyse der israelischen Außenpolitik
7. Zur Bedeutung von Werten und Wahrnehmung im israelisch-iranischen Konflikt
8. Ausblick: Perspektiven nach dem Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen
9. Resümee
Literaturverzeichnis
Internetquellen
“Iran calls for Israel’s destruction, and they work for its destruction - each day, every day. [...] This is how Iran behaves today, 'without nuclear 'weapons. Think of how they 'will behave tomorrow, with nuclear weapons. Iran will be even more reckless and a lot more dangerous ” (Benjamin Netanjahu, zit. n. Kahl et al. 2012: 7).
Als am 14. Juli 2015 eine Einigung in dem sogenannten Atomstreit zwischen westlichen Staaten und dem Iran durch ein Abkommen erzielt werden konnte, wurde dies als Meilenstein diplomatischer Errungenschaften gefeiert. Mehr als 13 Jahre dauerten die Verhandlungen zwischen der P5+1-Gruppe (USA, Russland, China, Großbritannien, Frankreich und Deutschland) und dem Iran. Geprägt waren sie einerseits von konstruktivem Austausch, andererseits aber auch von rhetorischen Eskalationen, gegenseitigen Anschuldigungen und Misstrauen. Im Juli 2015 feierte die iranische Bevölkerung auf den Straßen, in der Hoffnung auf ein rasches Wirtschaftswachstum, eine Verbesserung der eigenen Lebensbedingungen und ein Ende der politischen und wirtschaftlichen Isolation ihres Landes.
Knapp drei Jahre später, Anfang Mai 2018, verkündet US-Präsident Donald J. Trump den Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen. Es sei ein einseitiger Deal, der der Regierung in Teheran Milliarden Dollar beschert hätte, ohne Frieden in die Region zu bringen (vgl. Steinvorth et al. 2018). Das Misstrauen zwischen den USA und dem Iran ist wieder da und mit ihm die Frage nach den möglichen Implikationen eines nuklear bewaffneten Iran. Ein Ministerpräsident gehörte sowohl zu Beginn der diplomatischen Verhandlungen als auch nach dem Beschluss des Atomabkommens zu seinen schärfsten Kritikern - der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Unmittelbar vor Trumps Entscheidung startete Netanjahu eine Kampagne gegen das Atomabkommen, veröffentlichte umstrittene „neue“ Geheimdienstinformationen und bezichtigte die iranische Regierung der Lüge. Die Internationale Atomenergieorganisation, eine Organisation innerhalb der UN, die die Einhaltung des Atomabkommens überwacht (nachfolgend IAEO), konnte die israelischen Enthüllungen nicht bestätigen: Die Behörde habe „keine glaubwürdigen Hinweise“ auf Aktivitäten im Iran nach 2009, die für die Entwicklung eines nuklearen Sprengkörpers relevant seien (IAEA 2018).
Für Premierminister Netanjahu ist der Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen, verbunden mit der erneuten Verhängung von Wirtschaftssanktionen, der einzig richtige Weg, den Iran von der Herstellung von Atomwaffen abzuhalten. Ein nuklear bewaffneter Iran käme Netanjahu einem „zweiten Holocaust“ (Benjamin Netanjahu, zit. n. Lis 2012) gleich und stelle eine existenzielle Bedrohung für den Staat Israel dar. Die Regierung in Teheran ist nach seiner Auffassung ein irrationaler und unberechenbarer Akteur, der von religiösem Fanatismus gesteuert wird und die Annihilation Israels zum Ziel hat.
Die vorliegende Bachelorarbeit hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Nuklearmachtambitionen des Iran und ihre Auswirkungen auf die israelisch-iranischen Beziehungen aus neorealistischer Perspektive zu analysieren. Würde ein atomar bewaffneter Iran Israel in seiner Existenz bedrohen oder würde die Situation zu einem Machtgleichgewicht führen, das in langfristiger Perspektive Stabilität in den iranisch-israelischen Konflikt bringt? Welche Zielvorstellungen verbindet die iranische Regierung mit dem Aufbau eines zivilen Atomprogramms einerseits und einer potentiellen Herstellung von Nuklearwaffen andererseits? Mit welchen Sicherheitsrisiken sieht sich Israel durch die Nuklearmachtambitionen des Iran konfrontiert? Diesen Fragen möchte die vorliegende Bachelorarbeit nachgehen mit dem Ziel, das Streben des Iran nach Atomwaffen und den daraus folgenden Implikationen für die Konstellation der Regionalmächte Israel und Iran unter Zuhilfenahme der Theorie des Neorealismus in den Internationalen Beziehungen zu analysieren. Dabei lautet die Forschungsthese:
Ein nuklear bewaffneter Iran stellt eine existenzielle Bedrohung für Israel dar, da er revisionistische Ziele im Nahen Osten verfolgt und vermutlich nicht in die Dynamik der gegenseitigen atomaren Abschreckung eintreten würde.
Die Grundannahmen des Neorealismus erscheinen auf den ersten Blick prädestiniert für die Analyse der israelisch-iranischen Beziehungen im Hinblick auf die Nuklearfrage: Zwei Staaten konkurrieren in einem anarchisch-dezentralisierten Selbsthilfesystem durch das Mittel der Machtakkumulation um ihre jeweilige Sicherheit. Diese Dynamik führt in Abwesenheit einer zentralen Autorität zu einem Sicherheitsdilemma, da beide Staaten die relativen Gewinne ihres Antagonisten auszugleichen oder zu übertreffen versuchen. Darüber hinaus stellt der Neorealismus eine der wenigen Theorien der Internationalen Beziehungen dar, die das staatliche Streben nach Nuklearwaffen dezidiert in ihre Argumentation miteinbezieht. Der neorealistische Analyserahmen soll insbesondere die Dynamiken auf militärischer und machtpolitischer Ebene beleuchten.
Eine konstruktivistische Perspektive soll darüber hinaus die zugrundeliegenden Werte und Wahrnehmungen des mitunter ideologisch anmutenden Konfliktes erklären. Der Konstruktivismus in den Internationalen Beziehungen ist eine in den 1990er-Jahren entwickelte Theorieschule, die das Handeln von Akteuren auf internationaler Bühne als von internalisierten Werten und Normen geprägt annimmt. Anders als im Neorealismus nach Kenneth N. Waltz wird das Handeln von Staaten nicht von objektiv-rationalen Abwägungen und internationalen Sachzwängen determiniert, sondern erfolgt auf Basis der eigenen Wertkonfiguration. Abseits der militärischen und machtpolitischen Faktoren wird sich dieser Teil mit der Frage befassen, welche Werte und Normen die israelische Außenpolitik im Hinblick auf den Iran leiten und inwieweit die Perzeption einer „iranischen Bedrohung“ sozial konstruiert ist. Ferner hinaus wird der Versuch unternommen, durch die theoretische Ergänzung des Konstruktivismus Lösungswege und policy-Optionen der im Neorealismus postulierten Dilemmata zu finden.
Die vorliegende Arbeit stellt fest, dass - entgegen israelischer Darstellungen - der Iran außenpolitisch als ein eingeschränkt rationaler Akteur agiert, der die nationale Sicherheit, die Machtakkumulation im Nahen Osten, sowie innenpolitisch die Erhaltung der Legitimationsbasis des Regimes als handlungsleitende Motive beansprucht. Das Streben nach Atomwaffen stellt allerdings nicht die Lösung des israelisch-iranischen Konflikts dar, sondern ist potentieller Initiator wachsender Instabilität in der Region, da sich durch die mögliche Proliferation an die vom Iran unterstützten Organisationen Hisbollah und Hamas und durch den möglichen, atomaren spillover-Effekt auf Regionalmächte im Nahen Osten multiple Bedrohungsszenarien für Israel ergeben. Trotz des unilateralen Aussteigens der USA aus dem Atomabkommen sollte die Unterbindung einer nuklearen Aufrüstung des Iran durch einen internationalen Vertrag die oberste Maxime sein.
Im Anschluss an diese Einleitung folgt ein Überblick über die bestehende Literatur und den Forschungsstand bezüglich der Auswirkung einer nuklearen Aufrüstung des Iran auf die israelisch-iranischen Beziehungen, die sich zum Großteil auf die Zeit vor dem Atomabkommen konzentriert und ebenfalls den Iran im Besitz von Atomwaffen als gefährlich und risikobehaftet bewertet. Nach der darauffolgenden Vorstellung des theoretischen Rahmens des Neorealismus in den Internationalen Beziehungen schließt sich ein historischer Überblick über die israelischiranischen Beziehungen vor dem Hintergrund des Atomstreits an. Der Konfliktgegenstand der Nuklearmachtambitionen des Iran wird im weiteren Verlauf näher analysiert. In diesem Teil wird unter Zuhilfenahme der neorealistischen Theorie die Frage nach der Motivation des Iran zum Aufbau eines zivilen und mutmaßlich militärischen Atomprogramms erläutert, sowie die Motive für den Beitritt zum Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA), wie das 2015 geschlossene Atomabkommen genannt wird. Danach folgt eine Analyse der Folgen einer potentiellen, nuklearen Aufrüstung des Iran für die regionale Machtpolitik und die israelisch-irani- sehen Beziehungen. Darüber hinaus wird die Akteurskonstellation zwischen Iran, seinen Verbündeten und Israel analysiert, sowie die Maßnahmen, die Israel ergreift, um die iranische Einflusssphäre im Nahen Osten einzudämmen. Eine konstruktivistische Ergänzung des neorealistischen Paradigmas komplettiert die Arbeit: Abseits von Systemzwängen, Machtakkumulation und Sicherheitsstreben werden die internalisierten Werte und Normen der israelischen und iranischen Regierungen dargestellt.
Die Theorie des Neorealismus entstand zur Zeit des Kalten Krieges in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und wurde von dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Kenneth N. Waltz (08. Juni 1924 bis 13. Mai 2013) begründet. Spätestens mit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung im Jahr 1989, den der Neorealismus nicht vorhersah, gilt die Theorie unter ihren Kritikern nicht als realistisch, sondern als realitätsfern, starr, militaristisch und wie ein Anachronismus der heutigen Zeit. Dennoch gehört sie bis heute als fester Bestandteil in das theoretische Instrumentarium der Internationalen Beziehungen und hat gerade in der Analyse der außenpolitischen Ziele des Iran noch immer ein hohes Erklärungspotential. Die Kernannahme des Neorealismus ist, dass Staaten als einheitliche und rationale Akteure unter den Bedingungen der Anarchie durch die Akkumulation von Machtressourcen versuchen, das Minimalziel der Sicherung der eigenen Existenz zu erreichen (vgl. Masala 2014: 95).
Im Juli 2012 veröffentliche Kenneth N. Waltz einen Artikel mit dem Titel „Why Iran Should Get the Bomb - Nuclear Balancing Would Mean Stability“ in der Fachzeitschrift Foreign Affairs. In diesem viel debattierten Artikel argumentiert er, dass ein nuklear bewaffneter Iran das bestmögliche Ergebnis wäre, um Stabilität in den Nahen Osten zu bringen:
“Yet so far, every time another country has managed to shoulder its -way into the nuclear club, the other members have always changed tack and decided to live with it. In fact, by reducing imbalances in military power, new nuclear states generally produce more regional and international stability, not less ” (Waltz 2012: 3).
Waltz macht Israels Atomwaffenmonopol für die langanhaltende Instabilität im Nahen Osten verantwortlich. Anhand seines Modells des Machtgleichgewichts, das im weiteren Verlauf der Arbeit näher erläutert wird, ist die nukleare Aufrüstung des Iran eine logische Konsequenz des über Jahrzehnte anhaltenden atomaren Ungleichgewichts in der Region, das Israel durch den unilateralen Erwerb von Atomwaffen geschaffen hat. Durch die Herstellung iranischer Atomwaffen würde sich ein Machtgleichgewicht einstellen und würden sich die Kontrahenten Iran und Israel gegenseitig abschrecken, sodass aus der Situation keine unmittelbare Gefahr erwächst. In seiner Analyse versucht Waltz, durch den historischen Verweis auf andere Nuklearmächte die Ängste vor der Gefahr einer Proliferation oder eines nuklearen Krieges als unbegründet abzutun und hervorzuheben, dass Nuklearwaffen und Stabilität eine regelhafte Symbiose eingehen: „When it comes to nuclear weapons, now as ever, more may be better“ (ebd.: 5).
Diese gleichsam nebulöse wie provokante Schlussthese blieb nicht lange Zeit unbeantwortet: Bereits in der nächsten Ausgabe der Foreign Affairs (September/Oktober 2012) schrieb der Politikwissenschaftler Colin H. Kahl, der dem Konstruktivismus nahesteht, eine Replik auf Waltz‘ Artikel, in der er ihm Ignoranz und historische Fehlinterpretationen vorwarf:
„[...] But he is dead wrong that the Islamic Republic would likely become a more responsible international actor if it crossed the nuclear threshold. In making that argument, Waltz mischaracterizes Iranian motivations and badly misreads history” (Kahl 2012a: 157).
Kahl teilt Waltz‘ Auffassung vom Iran als einem rationalen Akteur, jedoch argumentiert er - ebenfalls durch einen historischen Verweis -, dass neue Atommächte sich selbstbewusster und mutiger präsentieren und dadurch häufig in Konflikte geringerer Intensität involviert sind (vgl. ebd.: 160). Das Abschreckungspotential des Iran in direkten Konfrontationen würde steigen und dem Iran somit gewisse Freiheiten erlauben, um beispielsweise seine Verbündeten im Libanon, Syrien oder Palästina mit konventionellen Waffen zu versorgen und als rhetorischer Scharfmacher den Friedensprozess zwischen Israelis und Palästinensern zu stören.
Bereits einige Monate zuvor, im Juni 2012, hat Kahl zusammen mit Melissa G. Dalton und Matthew Irvine vom Center for a New American Security eine Studie über die möglichen Konsequenzen einer nuklearen Aufrüstung des Iran veröffentlicht, an welche die vorliegende Arbeit anknüpfen möchte. Die Studie resümiert, dass die Regierung in Teheran nicht „suicidal“ (Kahl et. al. 2012b: 6) sei und deshalb sowohl von einem direkten Einsatz von Atomwaffen gegen Israel als auch von deren Proliferation an Verbündete absehen würde. Der Erhalt der Islamischen Republik und ihres Regimes stehe an oberster Stelle und eine nukleare Auseinandersetzung würde ihr unmittelbares Ende bedeuten. Jedoch werde die israelisch-iranische Rivalität durch eine nukleare Aufrüstung des Iran krisenanfälliger und beinhalte das Risiko eines unumkehrbaren, nuklearen Krieges (ebd.).
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch die ein Jahr zuvor veröffentlichte Studie von Dalia Dassa Kaye, Alireza Nader und Parisa Roshan, die bislang am umfangreichsten die möglichen Folgen eines nuklear bewaffneten Iran analysiert. Diese Studie der RAND Corporation, einem amerikanischen Thinktank, kommt zu dem Ergebnis, dass ein nuklear bewaffneter Iran zu einer wachsenden Rivalität gegenüber Israel beitragen könnte. „The lack of direct communication between the two countries could potentially lead to misinterpreted signals and confusion regarding each actor’s intentions and red lines” (Kaye et. al. 2011: ix). Gleichzeitig heben die Autoren die historisch gewachsenen Verbindungen zwischen beiden Ländern hervor, die insbesondere vor der Iranischen Revolution im Jahr 1979 bestanden: „Each country has traditionally maintained distinct regional zones of interest (the Levant for Israel and the Persian Gulf for Iran)“ (ebd.). Erst mit dem Ausbau eines konventionellen Raketenprogrammes und der nuklearen Kapazitäten in den 1990er-Jahren, sowie dem Aufstieg von Fundamentalisten um den damaligen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad an die Regierungsspitze des Iran im Jahr 2005, seien Signale einer wachsenden Einflusssphäre des Iran nach Israel vorgedrungen. Die Autoren empfehlen insbesondere der Regierung der USA, die Sanktionen aufrechtzuerhalten und Wege in Richtung eines demokratischeren Iran zu ebnen, um die Beziehungen zu Israel in Zukunft zu normalisieren.
Auch Emily Landau vom israelischen Institute for National Security Studies der Universität Tel Aviv hält Waltz‘ Argument über das Streben des Iran nach nuklearer Machtbalance im Nahen Osten für zu starr und simplifizierend. In einem im April 2013 veröffentlichten Beitrag schreibt sie: „Each state in the region has its own set of interests and threat perceptions; moreover, interstate understandings and alliances that have emerged over the years are not static, rather shift in line with regional political developments” (Landau 2013: 29). Ein nuklear bewaffneter Iran bedeute nicht eine Machtbalance, da es keinen monolithischen, oppositionellen Block gegen Israel gebe und Regionalmächte wie Saudi-Arabien andere Ziele verfolgten als der Iran. „The danger in this regard is not that Iran might act irrationally, rather that precisely in a very rational and calculating approach Iran seeks nuclear weapons as a shield against attempts to counteract its hegemonic moves, which will necessarily come at the expense of other states in the region” (ebd.: 33). Entgegen der Auffassung Waltz’ wäre eine nukleare Aufrüstung der Initiator für weitere Instabilität in der Region. Ähnlich besorgt sprechen sich auch andere Autoren aus (vgl. Sagan 2013: 213; Sinnreich/Khosrozadeh 2015: 147/148 [...]).
Festzuhalten bleibt deswegen, dass Kenneth N. Waltz mit seiner Auffassung, dass ein nuklear bewaffneter Iran Stabilität und Frieden in den Nahen Osten bringt, im wissenschaftlichen Diskurs eine unkonventionelle Haltung einnimmt. Die meisten AutorInnen betrachten aus unterschiedlichen Perspektiven heraus einen nuklear bewaffneten Iran mit Sorge und halten vereinzelt an der normativen Vorstellung einer weltweiten nuklearen Abrüstung fest. Obgleich Waltz vor dem Hintergrund eines strengen Auslegens seiner theoretischen Grundannahmen zu einem unkonventionellen Ergebnis kommt, erklärt der Neorealismus passend das staatliche Handeln zweier Staaten, die über keine formalen Beziehungen verfügen und quasi in einem anarchischen Mikrokosmos ohne vermittelnde Institutionen ihr Überleben sichern wollen. Damit lassen sich die Grundprämissen dieser Theorie auf den israelisch-iranischen Konflikt anwenden und dienen als Ausgangspunkt für die spätere Untersuchung.
Die wissenschaftliche Debatte um die Gefahren eines nuklearen Iran endete zunächst im Juli 2015, als das Atomabkommen zwischen der P5+1-Gruppe und dem Iran geschlossen wurde. Laut Hunt beweist dieses multilaterale Abkommen, dessen Basis ein institutioneller Rahmen mit Konzessionen und Kompromissen bildet, die mangelnde Vorhersagekraft des Neorealismus und darüber hinaus ein Abrücken der USA von einer neorealistisch geprägten Außenpolitik (vgl. Hunt 2017: 336). Durch dieses Abkommen, das ein Paradebeispiel für die Lösung eines Konflikts zweier Kontrahenten abseits militärischer Mittel darstellt, erhielten organisationstheoretische, institutionalistische und auch konstruktivistische Diskurse neuen Aufwind. Konservativere Diskurse innerhalb der USA (vgl. Phillips 2016), aber auch Stimmen in Israel (vgl. Shalom 2016) und Saudi-Arabien (vgl. Guzansky 2015), attestieren der zur damaligen Zeit amtierenden Obama-Administration und den westlichen Verhandlungspartnern hingegen Naivität und eine Verschlimmerung der Situation, durch die im Atomabkommen festgeschriebene Aufhebung der Wirtschaftssanktionen.
Spätestens mit dem einseitigen Aussteigen der USA aus dem Atomabkommen Anfang Mai 2018 hat die Frage nach dem Bedrohungspotential des Iran gegenüber Israel wieder an Aktualität gewonnen, da Israels Premierminister Benjamin Netanjahu einen nicht unerheblichen Teil zur Entscheidung des US-Präsidenten Donald J. Trump beigetragen hat. Die vorliegende Bachelorarbeit versucht deshalb einen Bogen zwischen den vorherrschenden Diskursen vor dem Abschluss des Atomabkommens und dessen ungewisser Zukunft zu schlagen.
Kenneth N. Waltz entwarf die Theorie des Neorealismus zunächst in seinem Buch Man, the State and War im Jahr 1959 und entwickelte die damals getroffenen Annahmen 1979 in seinem Buch Theory of International Politics weiter. Der Neorealismus ist - wie seine Vorsilbe „Neo“ vermuten lässt - die Weiterentwicklung der Theorie des klassischen Realismus in den Internationalen Beziehungen, zu deren Begründern der Politikwissenschaftler Hans J. Morgenthau (1904-1980) gehört. Morgenthau betrachtet die menschliche Existenz als von Grund auf egoistisch: „Was immer Menschen auch tun, ihr Handeln und die Intentionen, die zu ihrem Handeln führen, entspringen aus ihnen selbst, dienen in erster Linie ihnen selbst und sind auf sie selbst zurückzuführen“ (Masala 2014: 35).
Dieser Egoismus und der „Hunger nach Macht“ (ebd.) seien der Kern des Politischen und der Initiator für Krieg. Durch die Identifikation mit Kollektiven, insbesondere der Nation in der Internationalen Politik, werde dieser Machthunger an jene übertragen. Die Nation ist folglich ein Konstrukt egoistisch denkender Menschen und somit im Kontext der Internationalen Politik per se motiviert, ihre Macht und ihren Einfluss zu steigern. „Völkerrecht, Moral, internationale Organisationen und Abrüstung sind für Morgenthau keine realen Alternativen, um den Hunger nach Macht, der kennzeichnend für die zwischenstaatlichen Beziehungen ist, einzuhegen“ (ebd.: 38). Macht könne nur durch eine Gegenmacht in den Zustand der Machtbalance versetzt werden, der inhärent stabil und friedvoll sei. Damit ist die Theorie fest verwurzelt in ihrem zeitlichen Entstehungskontext, nämlich dem Zweiten Weltkrieg, in dem Recht, Moral und institutionelle Mediation außer Kraft gesetzt schienen und Krieg, Allianzbildung und Machtakkumulation die Wesenszüge der Internationalen Politik darstellten.
Von Morgenthau inspiriert, versucht Waltz die Internationale Politik als eigenständige Analyseebene zu etablieren. Sein Anliegen ist die Entwicklung einer deduktiv-nomologischen Theorie der Internationalen Politik: Aus einem allgemeinen Gesetz (dem Explanans: das Erklärende, eine unabhängige Variable) wird mithilfe einer situationsspezifischen Randbedingung (intervenierende Variable) ein bestimmter Sachverhalt (Explanandum: die erklärungsbedürftige Aussage, eine abhängige Variable) hergeleitet. Nicht die Außenpolitik bestimmter Staaten oder eine Gesamttheorie, die auch die innere Verfasstheit von Staaten inkludiert, liegt in seinem Erkenntnisinteresse, sondern er formuliert systemische Aussagen über die strukturellen Bedingungen, unter denen Staaten in der internationalen Politik interagieren und agieren. Das System der Internationalen Politik besteht aus dessen Struktur und interagierenden Einheiten: „A system is composed of a structure and of interacting units“ (Waltz 2010: 79). Die primär Handelnden sind für Waltz Staaten als einheitliche Akteure, deren inneres Ordnungsprinzip aus Super- und Subordination besteht.
“The parts of domestic political systems stand in relation of super- and subordination. Some are entitled to command; others are required to obey. Domestic systems are centralized and hierarchic. The parts of international-political systems stand in relation of coordination. Formally, each is the equal of all the others. None is entitled to command; none is required to obey” (Waltz 2010: 88).
Das Ordnungsprinzip des Internationalen Systems hingegen ist die Anarchie. Die bestehenden, supranationalen Organisationen, die zur Minderung der Anarchie beitragen sollen, würden nur so lange effektiv ihre Koordinationsfunktion wahrnehmen können, wie sie von den wesentlichen (oder mächtigen) Staaten des Systems Unterstützung erfahren. Die bloße Existenz von „principal states“ (ebd.) steht damit in direktem Widerspruch zu der formalen Annahme der Gleichheit unter den Staaten. Mit der angenommenen Gleichheit der Staaten meint Waltz jedoch deren gemeinsames Ziel, nicht ihre Handlungsweisen und Fähigkeiten. Er entwickelt die Theorie von Morgenthau weiter, in dem er für das staatliche Ziel der Machtakkumulation eine Vorbedingung schafft: Überleben. „Survival is a prerequisite to achieving any goals that states may have, other than the goal of promoting their own disappearance as political entities” (ebd.: 91/92). Alle Staaten haben somit zur Aufgabe, Sicherheit nach innen und außen zu schaffen und somit ihr Überleben zu sichern. Waltz negiert nicht die Existenz anderer Einheiten im Internationalen System - wie Nichtregierungsorganisationen - aber er konstatiert, dass der Staat noch immer das wichtigste Kollektiv im internationalen System darstellt.
Das Handeln der Einheiten - also der Staaten - wird von der internationalen Struktur geformt und beschränkt und die Struktur determiniert darüber hinaus den Erfolg von Staaten, die sich an bewährte und akzeptierte Praktiken halten. An dieser Stelle wird bereits ersichtlich, dass es Waltz um die Analyse der Wechselwirkung zwischen dem System der internationalen Politik und den interagierenden Einheiten geht. Aus diesem Grund abstrahiert und simplifiziert Waltz radikal und nimmt Variablen wie die historisch und kulturell sozialisierten Werte von Staaten, die Art des politischen Systems des jeweiligen Staates oder die Charakterzüge der jeweiligen Regierung nicht in seine Analyse mit auf. „I assume the states seek to ensure their survival [...] The assumption is a radical simplification made for the sake of constructing a theory” (Waltz 2010: 91). Um eine Theorie zu kreieren - und in seinem Fall allgemeine Gesetzmäßigkeiten aufzustellen - müsse simplifiziert und reduziert werden, argumentiert Waltz.
Staaten unterscheiden sich nicht durch die zuvor genannten Eigenschaften, sondern lediglich durch die Verteilung von „capabilities“ (Waltz 2010: 97), also Machtpotenzialen. „Die relative Positionierung der Staaten ergibt sich nach Maßgabe der Verteilung der Machtpotenziale innerhalb des Systems“ (Masala 2014: 62). Diese Machtpotenziale setzen sich aus den Parametern Bevölkerungsgröße, territoriale Größe, Ressourcen, Wirtschaftskraft, militärische Stärke, sowie politische Fähigkeit und Stabilität zusammen (vgl. ebd.: 64). Es darf kritisch angemerkt werden, dass es sich um sehr konventionelle Vorstellungen politischer Machtpotenziale handelt, die nicht zuletzt als Ausdruck des zeitlichen Kontextes Waltz‘ elaborierten Hauptwerkes Theory of International Politics von 1979 gesehen werden können. So merkt Siedschlag an, dass die „Interdependenz- und Transnationalismus-Debatte ihren Höhepunkt“ (Siedschlag 1997: 84f.) hatte und dem Staat als Akteur jegliche Relevanz aberkannt wurde. Vor diesem Hintergrund bildete Waltz‘ Theorie schon damals einen prominenten Gegenpol der Debatte und wurde nicht zuletzt durch den Kalten Krieg geprägt.
„Für ein angemessenes Verständnis der Grundlagen, Ziele und Grenzen des strukturellen Realismus [wie der Neorealismus ebenfalls genannt wird] ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, daß er genetisch gesehen seiner Grundstruktur nach eine Kriegsursachentheorie ist“ (Siedschlag 1997: 85). Waltz ging es damit explizit um die Erforschung der Dynamiken von militärischen Konflikten und welchen Einfluss die internationale Struktur auf die Staaten besitzt, zum Mittel der Gewaltanwendung zu greifen.
Sein Weltbild lässt sich als pessimistische Dystopie bezeichnen. Der sporadische Ausbruch von Konflikten ist dem internationalen System inhärent, argumentiert er:
“Whether in the family, the community, or the -world at large, contact -without at least occasional conflict is inconceivable; and the hope that in the absence of an agent to manage or to manipulate conflicting parties the use of force will always be avoided cannot realistically entertained. Among men as among states, anarchy, or the absence of government, is associated with the occurrence of violence” (Waltz 2010: 102).
Die Staaten befinden sich in einem Selbsthilfesystem, in dem sie um ihr Überleben fürchten müssen und diese Furcht konditioniert ihr Verhalten (vgl. ebd.: 105). Das Selbsthilfesystem beschränkt zudem die Kooperation zwischen Staaten, da diese zum einen befürchten müssen, dass die möglichen Gewinne einer Kooperation eher ihrem Gegenüber zugutekommen als ihnen selbst und zum anderen, dass sie durch Kooperation abhängig von anderen Staaten werden (vgl. ebd.: 107). Aus diesem Grund lehnt er die Vorstellung einer Weltregierung ab, da diese zwar die Sicherheit für jeden Staat erhöhe, gleichzeitig aber deren Freiheit - oder besser: Wahlfreiheit - reduziere. Die systemimmanente Unsicherheit vor einer potentiellen Gewaltanwendung eines Antagonisten ist für Waltz der beste Mediator von Konflikten: „The constant possibility that force will be used limits manipulations, moderates demands, and serves as an incentive for the settlement of disputes“ (Waltz 2010: 113f.).
Aus den zuvor beschriebenen Annahmen der Theorie des Neorealismus leiten sich einige Handlungsmuster der interagierenden Einheiten ab, die für die weitere Analyse maßgeblich sind.
Das Konzept der Machtbalance, der balance of power, bildet das Kernstück des Neorealismus. Staaten sind für Waltz einheitliche Akteure, deren Minimalziel das eigene Überleben ist und deren Maximalziel eine universelle Dominanz ist (vgl. Waltz 2010: 118). Um diese Ziele zu erreichen, besitzen Staaten zwei Optionen: Sie können intern ihre Wirtschaftsleistung und die militärische Stärke steigern und „clevere Strategien“ entwickeln, oder extern eine Allianz mit anderen Staaten forcieren oder aber die Allianz anderer Staaten schwächen. „The theory says simply that if some do relatively well, others will emulate them or fall by the wayside“ (ebd.). Oder anders ausgedrückt: Die Macht eines Staates ist im internationalen System nicht unangefochten und tendiert dazu, durch die Anstrengungen eines anderen Staates ausgeglichen zu werden, um ein Machtgleichgewicht herzustellen. „Waltz erwartet eine starke Tendenz in Richtung Balance of Power, doch konzediert er auch, dass Staaten bandwagoning (Anlehnung an die übermäßige Macht) betreiben können, wenn interne und externe Machtsteigerungen nicht mög- lieh sind“ (Masala 2014: 75). Jedoch treffen nicht staatliche Akteure die bewusste Entscheidung zur Herausbildung von Machtgleichgewichten, sondern die Struktur des internationalen Systems sorgt für diese Balance.
Abermals wird also die staatliche Ebene von jeglichen normativen Motivationen entkoppelt und das Machtgleichgewicht als eine deduktive Gesetzmäßigkeit des internationalen Systems beschrieben. Eine bipolare Weltordnung ist für Waltz die stabilste, da in diesem Fall die Großmächte die Handlungen ihres Antagonisten kalkulieren können - eine multilaterale Ordnung dagegen kennzeichnet das stetige Austarieren von Kompetenzen, das häufig von Fehlinterpretationen gekennzeichnet und somit instabil ist.
Die bipolare Weltordnung während des Kalten Krieges, in der sich die USA und die UdSSR einen Rüstungswettlauf lieferten, nicht zuletzt in Nuklearfragen, bewertet Waltz daher positiv, da die Großmächte in seinen Augen verantwortungsbewusst handelten (vgl. Siedschlag 1997: 98). Jedoch muss bezüglich dieser Auffassung die Frage erlaubt sein, wie der Rüstungswettlauf geendet hätte, wenn nicht 1989 eine der beiden Weltmächte größtenteils friedlich von der Bildfläche verschwunden wäre. Die USA und UdSSR bewegten sich stets am Rande eines Krieges, wofür die Kubakrise 1962 exemplarisch ist und vor dem Hintergrund der bestehenden konventionellen und nuklearen Waffenarsenale wäre ein Ausgang verheerend gewesen. Waltz teilt diese Sorge jedoch nicht:
“Thus two states, isolationist by tradition, untutored in the 'ways of international politics, and famed for impulsive behavior, have shown themselves - not always and everywhere, but always in crucial cases - to be 'wary, alert, cautious,flexible, andforbearing” (Waltz 1988: 623).
In einer bipolaren Welt oder auf regionaler Ebene mit zwei gegebenen staatlichen Kontrahenten, stellt sich - vor dem Hintergrund der Anarchie des Systems - quasi-automatisch eine Machtakkumulation des Staates A und der entsprechenden Gegenmachtbildung des Staates B ein. Die Angst um das eigene Überleben wird die Triebfeder für militärische Aufrüstung oder allgemein einer Verbesserung der eigenen Position im System und ist ein Resultat der Struktur des internationalen Systems. „Das Dilemma liegt darin, dass jeder Staat individuell rational handelt, um seine Sicherheit zu erhöhen; weil aber alle Staaten dies tun, schaffen sie kollektiv eine riskantere Umgebung als im Ausgangszustand“ (Jetschke 2017: 145).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Eigene Darstellung, angelehnt an Jetschke 2017:144.
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