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Fachbuch, 2020
69 Seiten
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Freien Waldorfschulen und ihre Gründung
2.1 Gründungsgeschichte und Gründungsimpuls der Freien Waldorfschulen
2.2 Soziale Herkunft der Waldorfschüler*innen und der Waldorfelternschaft in den Gründungsjahren
3 Die Waldorfelternschaft heute
3.1 Die soziale Herkunft der Waldorfeltern und -kinder
3.2 Waldorfeltern und -kinder mit Migrationshintergrund
3.3 Abschließende Bewertung
4 Die Theorie der „kulturellen Passung“
4.1 Ursprünge der „kulturellen Passung“ bei Bourdieu und Passeron – Vom primären und sekundären Habitus
4.2 Ausdifferenzierung der „kulturellen Passung“ bei Kramer und Helsper
5 Der sekundäre Schülerhabitus an Waldorfschulen
5.1 Stellung der Klassengemeinschaft und Stellung der Schüler*innen
5.2 Was bedingt die Passung oder Abstoßung? Zentrale Eigenschaften
5.3 Familiäre Lebenswelt
5.4 Umgang mit Leistungsansprüchen
5.5 Gemeinsame Weltzugänge und Interessenlagen
5.6 Subkulturen und Individualisierungsansprüche
5.7 Zusammenfassung
6 Migrantenmilieus in Deutschland und deren Passung zur Waldorfschule
6.1 Die traditionsverwurzelten Migrantenmilieus
6.2 Die bürgerlichen Migrantenmilieus
6.3 Die ambitionierten Migrantenmilieus
6.4 Die prekären Migrantenmilieus
6.5 Zusammenfassung der Ergebnisse
7 Die Interkulturelle Waldorfschule Mannheim
8 Exploration an der Interkulturellen Waldorfschule Mannheim: Vorstellung der Forschungs- und Auswertungsmethode
8.1 Die Fragestellung der Analyse
8.2 Forschungsfeld
8.3 Forschungsmethode: Das Experteninterview
8.4 Bestimmung des vorliegenden Ausgangsmaterials
8.5 Qualitative Inhaltsanalyse in Anlehnung an Philipp Mayring
9 Darstellung und Interpretation der Forschungsergebnisse
9.1 Kategorie „Selbstpositionierung in der Waldorfbewegung“
9.2 Kategorie „Zentrale Elemente des Schülerhabitus“
9.3 Kategorie „Bedingungen und Grenzen der Passung“
9.4 Kategorie „Maßnahmen zur Erreichung der Migrantenmilieus“
9.5 Zusammenfassung der Forschungsergebnisse
10 Fazit und Forschungsausblick
Literaturverzeichnis
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Impressum:
Copyright © Social Plus 2020
Ein Imprint der GRIN Publishing GmbH, München
Druck und Bindung: Books on Demand GmbH, Norderstedt, Germany
Covergestaltung: GRIN Publishing GmbH
Abbildung 1: Waldorfeltern und deutsche Bevölkerung im Alter von 15 Jahren und mehr – Hochschulabschlüsse im Vergleich
Abbildung 2: Anteil der ausländischen Schüler*innen an Waldorfschulen und an allen deutschen Schulen insgesamt im Jahr 2017
Tabelle 1: Kategorien der qualitativen Inhaltsanalyse samt Definitionen und Ankerbeispielen
Die Freien Waldorfschulen sind seit einem Jahrhundert wahrlich ein Erfolgsmodell. Neben der Montessori-Pädagogik kann die Waldorfpädagogik inzwischen als die erfolgreichste reformpädagogische Bewegung bezeichnet werden (vgl. Ullrich 2015a, S. 7). Waldorfschulen, die erste im Jahre 1919 unter der Leitung von Rudolf Steiner eröffnet, sind heute auf allen fünf Kontinenten der Welt vertreten: Im Jahre 2019 existieren fast 1.200 Waldorfschulen – Tendenz steigend (vgl. Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners 2019, S. 6). Mit diesem weltweiten Erfolg verbinden sich jedoch auch vielfältige Herausforderungen, welche von der Waldorfschule als eine im öffentlichen Fokus stehende Bildungsinstitution bewältigt werden müssen. Dabei stellt der Umgang mit einer durch Migrationsbewegungen und Globalisierungsprozesse immer heterogener werdenden Gesellschaft eine in hohem Maße herausfordernde Gestaltungsaufgabe dar, welche an den deutschen Waldorfschulen bislang weitgehend unbemerkt geblieben ist (vgl. Adam / Schmelzer 2019b, S. 7). Grundsätzlich besteht bis heute ein zentrales Problem darin, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungswesen benachteiligt und ihnen nicht dieselben Chancen wie Kindern und Jugendlichen mit deutscher Herkunft eingeräumt werden. Diese Form der „institutionellen Diskriminierung“ (Gomolla 2015, S. 193) ist in der Vergangenheit immer wieder empirisch dokumentiert worden. Es zeigt sich demnach eine schwierige Ausgangslage, die in den kommenden Jahren bei wachsender Bevölkerung mit Migrationshintergrund weiter Bestand haben wird. Vor diesem Hintergrund wurde in Mannheim im Jahre 2003 die erste Interkulturelle Waldorfschule gegründet, welche dezidiert das Ziel verfolgt, eine kulturell heterogene Schülerschaft mit hohem Migrantenanteil aus allen sozialen Schichten zu beherbergen (vgl. Schmelzer 2016, S. 891). Dieser Vorsatz stellt im Feld der Waldorfschulen insofern eine Besonderheit dar, als dass gerade ihre Schüler*innen meist aus gut situierten, bürgerlichen Elternhäusern stammen. Dagegen sind Waldorfschüler*innen aus sozial schwachen Familien und / oder mit Migrationshintergrund eine Seltenheit (vgl. Ullrich 2015a, S. 151). Diese Ausgangslage wirft mehrere Fragen auf. Erstens, wie es erklärt werden kann, dass es der Interkulturellen Waldorfschule in Mannheim gelingt, eine Schüler- und damit eine Elternschaft zu erreichen, die mehrheitlich aus Migrantenmilieus1 stammt und daher in vielerlei Hinsicht von der Schüler- und Elternschaft anderer Waldorfschulen abweicht bzw. an Waldorfschulen nicht zu erwarten wäre. Zweitens ist es folglich relevant zu hinterfragen, ob es der Interkulturellen Waldorfschule wirklich gelingt, alle sozialen Schichten und damit alle Migrantenmilieus zu erreichen. Nach einem kurzen Exkurs zur Gründung der ersten Waldorfschule gehe ich zu Beginn auf die Zusammensetzung der Waldorfelternschaft und ihre soziale und kulturelle Herkunft zur Zeit des Gründungsimpulses (2) und im Vergleich dazu in der heutigen Zeit (3) ein. Anschließend erläutere ich die Theorie der „kulturellen Passung“ nach Kramer und Helsper sowie ihre theoretischen Ursprünge bei Bourdieu und Passeron (4). Danach umreiße ich wesentliche Merkmale eines sekundären Schülerhabitus an Waldorfschulen (5), um nachfolgend theoretisch begründet darlegen zu können, warum eine kulturelle Passung zwischen der Waldorfschule und den in Deutschland beheimateten Migrantenmilieus nur schwer möglich erscheint (6). Darauffolgend stelle ich in aller Kürze die Interkulturelle Waldorfschule in Mannheim vor (7). Um Antworten auf die oben gestellten Forschungsfragen näher zu kommen, schließt sich der empirische Teil der Arbeit an (8): Die empirischen Daten, welche in einem Experteninterview mit einem Funktionsträger der Interkulturellen Waldorfschule Mannheim erhoben worden sind, werden qualitativ ausgewertet, dargestellt und im Hinblick auf die Forschungsfragen interpretiert und diskutiert (9). Abschließend runden ein Fazit und ein Forschungsausblick die Arbeit ab (10).
Zu Anfang eher ein Randphänomen auf reformpädagogischem Terrain und während des dritten Reichs verboten, verbreiteten sich die Freien Waldorfschulen – angestoßen auch durch das gesellschaftliche Klima infolge der „68er-Bewegung“ – in den Folgejahren rasant und avancierten „vom Außenseiter zum Anführer der Reformpädagogischen Internationale“ (Ullrich 2002, S. 142). Die Waldorfschulen stechen im deutschen Privatschulwesen mit einer speziellen pädagogischen Ausrichtung und einer besonderen anthroposophischen Schulkultur heraus. Meist in der privaten Trägerschaft eines Schulvereins und geleitet von gleichberechtigten Kollegen, handelt es sich bei Waldorfschulen um „koedukative Gesamtschulen“ (Ullrich 2012, S. 62, Hervorh. im Orig.). Demnach lernen Schüler*innen durchgehend vom ersten bis zum zwölften Schuljahr in einem gemeinsamen und leistungsheterogenen Klassenverband, ohne dass ihre Leistungen mit Zensuren bewertet werden oder eine Versetzung ins nächste Schuljahr erreicht werden muss. Sowohl die Inhalte des Lehrplans als auch der Unterrichtsaufbau sollen an der individuellen Entwicklung der Schüler*innen ausgerichtet sein. Der oder die Klassenlehrer*in begleitet die Schüler*innen durch die ersten acht Schuljahre und steht als die Identifikationsfigur in besonderer „personaler Nähe“ (Ullrich 2015a, S. 39) zu den Schüler*innen.2
Die erste Waldorfschule wurde im Jahre 1919 gegründet. Der Stuttgarter Unternehmer Emil Molt war Initiator und Gönner dieser Schulgründung. Er führte die Waldorf-Astoria-Zigarrenfabrik in Stuttgart. Molt galt als Unternehmer, dem die soziale Sicherheit sowie kulturelle Bildung seiner Angestellten am Herzen lag (vgl. Frielingsdorf 2019, S. 45). Die konkrete Idee zur Gründung einer an den Betrieb angegliederten Schule kam Molt, nachdem ihm bewusst wurde, dass es in der damaligen Zeit schwer bis unmöglich für Kinder aus der Arbeiterschicht war, eine höhere Schule zu besuchen und damit den Zugang zu besserer Allgemeinbildung zu erhalten. Molt hatte folglich im Sinn, eine Schule für die Kinder der Fabrikarbeiter*innen zu gründen, welche diesen den sozialen Aufstieg unabhängig vom elterlichen Vermögen ermöglichte (vgl. ebd., S. 46). Daneben war ein Ziel, das mit der Schulgründung verfolgt wurde, die Vermittlung einer „Gesinnung des Friedens und eine[r] Wertschätzung anderer Kulturen“ (Leber 2011, S. 38). Interkulturalität sowie die Friedfertigkeit gegenüber anderen Menschen gehörten demnach ebenso zum angestrebten schulkukturellen Profil wie der von materiellen Verhältnissen unabhängige Zugang zu exzellenter Bildung für alle Schichten. Zur Zeit der Deutschen Revolution 1918 / 1919 war die Reformpädagogik mit dem Ideal einer am Kind und an ganzheitlicher Bildung orientierten Schule generell auf dem Vormarsch (vgl. Ullrich 2011, S. 82). Die zentralen Forderungen der Reformer waren die Einheitsschule für alle Kinder sowie das gemeinsame Unterrichten beider Geschlechter (vgl. ebd., S. 83). Das Bestreben zur Gründungszeit war es demnach auch immer, eine Einheitsschule für alle Schichten zu installieren. Auch Steiner selbst sah diese Notwendigkeit und zeichnete die Schule der Zukunft als eine, die „allen Kindern gleichermaßen offen steht“ (Frielingsdorf 2019, S. 55). Die revolutionäre Stimmung des Neuanfangs nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sollte einen Nährboden bilden, auf welchem Steiner seine Vision, wie Erziehung im Rahmen der Dreigliederungsbewegung3 aussehen solle, in die Praxis umsetzen konnte (vgl. Ullrich 2003, S. 68). Im Sommer des Jahres 1919 wurde schlussendlich die erste Freie Waldorfschule in Stuttgart eröffnet und Emil Molt beauftragte Rudolf Steiner mit der Planung und Leitung dieser koedukativen Einheitsschule (vgl. Ullrich 2011, S. 82).
Bei Schulbeginn am 18. September 1919 wurden an der Waldorfschule in Stuttgart-Uhlandshöhe 256 Jungen und Mädchen in acht Klassen unterrichtet. Von diesen kamen 191 Kinder aus den Arbeiterfamilien der Waldorf-Astoria-Zigarrenfabrik. Mit 65 Kindern kam eine deutliche Minderheit von außerhalb (vgl. Esterl 2006, S. 70), und zwar aus „gut situierten anthroposophischen Elternhäusern“ (Ullrich 2011, S. 85). Das zeigt sich auch an der schulischen Herkunft der Schüler*innen. Nur 64 Kinder kamen aus Höheren Schulen an die Waldorfschule. Dagegen kamen 161 Kinder aus Volksschulen und 50 Kinder aus Mittelschulen (vgl. Esterl 2006, S. 70), woran sich der Überhang an Schüler*innen aus sozial schwächer gestellten Familien ablesen lässt. Schon im folgenden Jahr wurde zwar die Zahl der Kinder, die nicht mehr direkt aus der Belegschaft der Waldorf-Astoria-Fabrik abstammten, größer. Aber auch diese kamen meist keineswegs aus finanzstarken Elternhäusern, sodass das Bestreben bei Schulgründung, den Kindern aus schlechter gestellten Familien den Zugang zu höherer Allgemeinbildung zu ermöglichen, in den Anfangsjahren als erfolgreich gelten kann (vgl. Leber 2011, S. 40). Dieses Bild kehrte sich jedoch in den nachfolgenden Jahren schnell um. Da die Waldorfschule zentrale Anliegen der damaligen Arbeiterbewegung – koedukativer Unterricht, einheitliches Gesamtschulwesen, Aufhebung der Konfessionsgebundenheit – mit Nachdruck und Stringenz umsetzte, erfreute sie sich schnell zunehmender Beliebtheit (vgl. Frielingsdorf 2019, S. 66). Zügig sprach die Schule neben der Arbeiterschaft auch bildungsbürgerliche Schichten an, welche „für die Zukunft der Waldorfschulbewegung zunehmend wichtig wurden“ (ebd., S. 67). Aus ganz Deutschland und aus allen Bevölkerungsschichten, sogar aus dem Ausland, signalisierten Eltern ihr Interesse daran, ihre Kinder an der Waldorfschule anzumelden (vgl. ebd., S. 65). Die soziale Durchmischung an der Waldorfschule wurde demnach größer. Der Grund hierfür lag jedoch nicht darin, dass die Verantwortlichen der Waldorfschule keine Arbeiterkinder mehr ansprechen wollten, sondern vielmehr am Konzept der Schule. Ihr einzigartiger „Gesamtschulcharakter“ (ebd., S. 65) sorgte, gerade auch mit dem Aufbau einer Oberstufe, für einen schnellen Sympathiezuwachs in den 1920er-Jahren. Schlussendlich ist festzuhalten, dass die Waldorfschulen ursprünglich viele Schüler*innen aus bildungsfernen Schichten beheimaten wollten. Eine Erziehung zum Verständnis und zum Respekt gegenüber fremden Kulturen war ebenso wichtig wie der Wille, gerade sozial schwachen Kindern den Zugang zur Allgemeinbildung zu ermöglichen. Dies gelang in den Anfangsjahren noch sehr gut, schnell wurde das Waldorfschulwesen jedoch auch für Elternhäuser aus bildungsnahen Schichten interessant.
Der Anspruch der Waldorfschule bei ihrer Gründung, eine Einheitsschule für alle Kinder der damals sozial Bedürftigen zu sein, zielte zu dieser Zeit vorrangig auf die oft verarmte und sozial schlecht gestellte Arbeiterschicht ab. Will die Waldorfschule ihre Ursprungsziele heutzutage umsetzen, so müsste es ihr Anspruch sein, die sozial Schwachen der heutigen Gesellschaft zu erreichen und ihnen den Bildungszugang sowie eine erfolgreiche Bildungskarriere zu ermöglichen. Ein Teil dieser weniger privilegierten Gruppe sind Menschen mit Migrationshintergrund. Schon der Blick auf die gegenwärtige Situation im Bildungswesen genügt zur Verdeutlichung. Der aktuelle Bildungsbericht aus dem Jahr 2018 weist zwar darauf hin, dass in den vergangenen Jahren „migrationsbezogene Disparitäten“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2018, S. 20) leicht ruckläufig sind, konstatiert aber nichtsdestotrotz, dass der Bildungserfolg nach wie vor stark in Zusammenhang mit dem Migrationshintergrund steht. So bleiben unter den 30 – 35-Jährigen mit Migrationshintergrund mit über 30% dreimal so viele ohne beruflichen Bildungsabschluss wie bei der gleichaltrigen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Bei den Schulabschlüssen zeigt sich ein ähnliches Bild. Im Alter zwischen 30 und 35 Jahren haben Personen ohne Migrationshintergrund beinahe alle einen Schulabschluss, während 10 % der Bevölkerung mit Migrationshintergrund keinen allgemeinbildenden Schulabschluss vorweisen kann (vgl. ebd., S. 55). Somit scheint es nur logisch, dass es die Waldorfschulen – gerade vor dem Hintergrund ihrer eigenen Gründungsziele – anstreben müssen, ihren Teil zur Behebung der Bildungsbenachteiligung von Migrant*innen zu leisten. Der folgende Forschungsstand, der die soziale und kulturelle Herkunft der Waldorfelternschaft (und damit auch der Schüler*innen, die mit den Eltern aus dem jeweiligen Milieu stammen) betrachtet, soll nun der Frage nachgehen, ob Waldorfschulen diesem Ziel entsprechen: Woher kommen die Waldorfeltern der heute an Waldorfschulen ansässigen Schülerschaft? Ist die Waldorfschule heute noch eine Schule für alle sozialen Schichten? Werden an Waldorfschulen Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund – als eine von Bildungsungleichheit betroffene Gruppe – unterrichtet? Die Erforschung der Waldorfelternschaft steckte lange Jahre nach dem zweiten Weltkrieg noch in den Kinderschuhen (vgl. Ullrich 2015a, S. 168) sowie in der Waldorfgeschichte prinzipiell in allen Themenbereichen lange eine „Empirieabstinenz“ (Randoll 2010, S. 127) zu beklagen war. Inzwischen ist es jedoch möglich, die oben gestellten Fragen empirisch zu beantworten.
Rückschlüsse auf die soziale Herkunft der Eltern und damit auch ihrer Kinder erlauben uns hauptsächlich die erhobenen Daten aus der großen Absolvent*innenstudie von Barz und Randoll (2007a), deren Befunde mit der ersten offiziellen Eltern-Studie von Koolmann, Petersen und Ehrler (2018) erhärtet werden können.
Die Absolvent*innenstudie von Barz / Randoll (2007a) hatte das Ziel, zu untersuchen, wie sich ein Waldorfschulbesuch auf die ehemaligen Schüler*innen auf verschiedenen Ebenen auswirkt (vgl. Barz / Randoll 2007b, S. 13). Dafür wurden 1.124 Waldorfschüler*innen mit einem Fragebogen befragt. Die Befragten kamen aus drei Alterskohorten (vgl. Randoll 2007, S. 34 ff.). Diese Studie gibt u.a. Einblicke in das soziale Klientel, das die Waldorfschule beheimatet. Inspiziert man die beruflichen Abschlüsse der Eltern, ist zu erkennen, dass die ehemaligen Waldorfschüler*innen fast ausschließlich aus der gehobenen Mittelschicht stammen, früher auch „Bildungsbürgertum“ genannt. Ein Blick auf den Akademiker*innenanteil lässt dies überdeutlich werden. Mehr als 42 % der befragten Väter haben einen universitären Hochschulabschluss, außerdem immerhin 16,6 % der Mütter; bei beiden Gruppen mit steigender Tendenz in den jüngeren Alterskohorten (vgl. Randoll 2007, S. 40). Vor allem bei Frauen in jüngeren Jahren steigt die Zahl der Studienabschlüsse stark an. Bei den Vätern hatten darüber hinaus nur weniger als 2 % keinen Berufsabschluss, bei den Müttern ca. 11 % (wobei diese vergleichsweise hohe Zahl beinahe ausschließlich durch die vielen Frauen ohne Abschluss in der ältesten Kohorte zustande kommt; in der jüngsten Kohorte haben nur knapp 6 % der Mütter keinen Berufsabschluss) (vgl. Randoll 2007, S. 40). Insgesamt kommt Randoll (2007, S. 40) bereits hier zu dem Ergebnis, dass die ehemaligen Waldorfschüler*innen aus Elternhäusern mit hoher Bildungsqualifikation kommen. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass Schüler*innen, deren Eltern aus sozial schwächeren Schichten stammten, in den Waldorfschulen unterrepräsentiert sind. Dafür spricht auch, dass die hoch akademisierten Berufsgruppen der Lehrer*innen, der Unternehmer*innen und der Ingenieur*innen zusammen über 40 % unter den ehemaligen Waldorfschüler*innen ausmachen (vgl. Bonhoeffer / Brater / Hemmer-Schanze 2007, S. 74). Diese Ergebnisse lassen sich durch die Studie „Waldorf-Eltern in Deutschland“ von Koolmann, Petersen und Ehrler (2018) bestätigen und teilweise verstärken. Diese Studie ist – im Unterschied zu den erschienenen Lehrer*innen-, Schüler*innen- und Absolvent*innenstudien – die erste groß angelegte Eltern-Umfrage, welche vom Bund der Freien Waldorfschulen selbst beauftragt wurde (vgl. Koolmann / Ehrler 2018, S. 17). In dieser repräsentativen Erhebung wurden 7000 Eltern aus 117 Waldorfschulen u.a. zu ihren sozioökonomischen Lebensverhältnissen (vgl. ebd., S. 17) befragt. Im Rahmen dieser Erhebung gaben 42 % der Eltern an, einen Studienabschluss zu haben, davon 61 % der Väter und 48 % der Mütter (vgl. Koolmann 2018, S. 54). Demnach ist in der jüngeren Vergangenheit der Gesamtanteil der Akademiker*innen unter den Waldorfeltern noch weiter gestiegen. Bei den Vätern steigt die Zahl weiter an. Die Anzahl der akademischen Abschlüsse bei den Müttern hat sich sogar mehr als verdoppelt. Außerdem gibt mehr als jedes zehnte Waldorfelternteil als höchsten Studienabschluss eine Promotion an. Bei den Eltern ohne Berufsabschluss ist die Zahl im Vergleich zur Absolvent*innenstudie gar rückläufig. Nur noch 4 % der Eltern haben keine abgeschlossene berufliche Ausbildung (vgl. ebd., S. 54). Diese hohe Zahl an Akademiker*innen unter den Waldorfeltern wird noch eindrücklicher, wenn man sie in Bezug zu allen Bundesbürger*innen mit Hochschulabschluss setzt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Waldorfeltern und deutsche Bevölkerung im Alter von 15 Jahren und mehr – Hochschulabschlüsse im Vergleich
Quelle: Eigene grafische Darstellung. Verwendete empirische Daten: Kategorie 1 „Anteil der Waldorfeltern mit Hochschulabschluss“ vgl. Koolmann 2018, S. 54; Kategorie 2 „Anteil der deutschen Gesamtbevölkerung mit Hochschulabschluss“ vgl. Statistisches Bundesamt (URL: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Bildungsstand/Tabellen/bildungsabschluss.html (29. Juni 2019)).
Wenn man den Anteil der Waldorfeltern mit Hochschulabschluss mit der deutschen Gesamtbevölkerung vergleicht, fällt eine erhebliche Diskrepanz auf. In der deutschen Bevölkerung im Alter von 15 Jahren und mehr besitzen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes nur 17,6 % einen Hochschulabschluss (s. Abbildung 1). Somit ist in der Waldorfelternschaft der Anteil der Akademiker*innen in Bezug auf den bundesdeutschen Durchschnitt mehr als doppelt so hoch.
Daran anschließend soll empirisch überprüft werden, ob Familien mit Migrationshintergrund an den Waldorfschulen zu finden sind. Randoll (2010, S. 130) weist unter Bezugnahme auf eine Studie zur Gewalttätigkeit bei deutschen und nicht-deutschen Jugendlichen darauf hin, dass eine Auffälligkeit der Waldorfschülerschaft in dem nur sehr geringen Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund besteht. Genauso stellen Liebenwein, Barz und Randoll (2012, S. 10) in ihrer Studie zu Bildungserfahrungen an Waldorfschulen im Hinblick auf die im Vergleich zu Regelschulen sehr differente Schülerpopulation fest, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund „deutlich unterrepräsentiert“ sind. Auch die Eltern-Studie von Koolmann, Petersen und Ehrler (2018) kommt zu diesem Ergebnis. Koolmann (2018, S. 50) rechnet hoch, dass ca. 95 % der Waldorf-Eltern eine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, nur 2,6 % der Eltern haben mehrere, meistens genau zwei. Daraus lässt sich erst nach einer Präzisierung des Begriffs „Migrationshintergrund“ sinnvoll etwas ableiten. Nach der Definition des Statistischen Bundesamt hat eine Person „einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt“ (Statistisches Bundesamt 2018a, S. 4). Daraus leitet sich ab, dass die genannten 2,6 %, die mehr Staatsbürgerschaften als die deutsche besitzen, als Personen mit Migrationshintergrund einzustufen sind, die überwiegende Mehrheit dagegen ohne. Auch dieser Sachverhalt weist einen großen Unterschied zur amtlichen Statistik auf. Hiernach hat knapp ein Drittel aller in Deutschland lebenden unter 18-Jährigen mindestens ein Elternteil mit Migrationshintergrund (vgl. Koolmann 2018, S. 50). Das Statistische Bundesamt stellte fest, dass im Jahr 2017 in allen deutschen Waldorfschulen nur 2,8 % ausländische4 Schüler*innen unterrichtet wurden. Dabei ist erwähnenswert, dass die erhobene Zahl des Jahres 2017 einen Hochpunkt markiert. Oftmals sank die Zahl der Schüler*innen mit Migrationshintergrund an Waldorfschulen unter die 2 %-Marke (vgl. Statistisches Bundesamt 2018b, S. 258).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Anteil der ausländischen Schüler*innen an Waldorfschulen und an allen deutschen Schulen insgesamt im Jahr 2017
Quelle: Eigene grafische Darstellung. Verwendete empirische Daten: Statistisches Bundesamt 2018b, S. 258.
Auch hierbei ist ein Vergleich mit dem bundesdeutschen Durchschnitt erhellend (s. Abbildung 2). Im Durchschnitt werden an allen deutschen Schulen insgesamt 10,1 % Schüler*innen mit Migrationshintergrund unterrichtet. Damit gehen in Deutschland fast viermal weniger Schüler*innen mit Migrationshintergrund an Freien Waldorfschulen zur Schule als an deutschen Schulen insgesamt. Vor dem Hintergrund der obigen Ergebnisse zur sozialen Herkunft der Waldorfeltern und -kinder liegt darüber hinaus der Schluss nahe, dass die wenigen Kinder mit Migrationshintergrund, die den Weg an eine Waldorfschule finden, tendenziell aus gehobenen und sozial privilegierten Milieus stammen, wie die überwiegende Mehrzahl aller Kinder an Waldorfschulen.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich „der soziale Status zwischen Waldorf-Eltern und den Eltern von Schulkindern im Bundesdurchschnitt […] in Bezug auf Ausbildung und Migrationshintergrund zum Teil erheblich [unterscheidet]“ (Koolmann 2018, S. 62). Das ursprüngliche Ziel, Kinder aller sozialer Schichten an den Waldorfschulen zu unterrichten und damit jegliche Klassenunterschiede zu überwinden, ist damit in der Gegenwart deutlich gescheitert. Waldorfschulen sind heute – schlussendlich ganz im Gegensatz zu ihren Ursprüngen – Schulen, die mehrheitlich ein bildungsnahes, akademisch geprägtes und sozioökonomisch privilegiertes Elternmilieu ansprechen und deren Kinder als Schüler*innen beheimaten. Außerdem gehen im Vergleich zum Bundesdurchschnitt deutlich weniger Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund auf Waldorfschulen. Auch unter Waldorfpädagogen wird diese Entwicklung weg von ihren Gründungsidealen zunehmend mit Unmut betrachtet, wenn z. B. Schneider (2006, S. 114) eine von mehreren „schwerwiegende[n] Fehlentwicklungen“ darin sieht, dass „sich die Waldorfschule als ‚patentgeschütztes‘ Alternativgymnasium behauptet, mit einer entsprechend bildungs-privilegierten Elternschaft“. Diese „Schieflage“ (Adam / Schmelzer 2019b, S. 7) zwischen den ursprünglichen Schulzielen und der gegenwärtigen Situation wird auch in der aktuellen Forschung – zunehmend im Hinblick auf Interkulturalität und die Integration von Migrantenkindern – zum Gegenstand gemacht.5 Mit Bonhoeffer, Brater und Hemmer-Schanze (2007, S. 90) kann unterstrichen werden: „Die Waldorfschule war und ist keine Schule für alle Schichten, sondern im Kern eine Schule des Bildungsbürgertums, die wiederum Angehörige des Bildungsbürgertums heranbildet.“
Für die Lage der Waldorfschulen werden in der Forschung verschiedene Gründe ausfindig gemacht. Es wird häufig auf den bewussten pädagogischen Entschluss verwiesen, der auf Elternseite nötig ist, um seine Kinder an einer freien Schule anzumelden sowie auf die geografische Lage vieler Waldorfschulen in gut situierten Stadtvierteln (vgl. Adam / Schmelzer 2019b, S. 7; Schmelzer 2016, S. 891). Dem Schulgeld, das Waldorfschulen aufgrund ausbleibender staatlicher Zuschüsse verlangen müssen, scheint hierbei eine besonders große Rolle zuzukommen, wird es doch regelmäßig als Hauptgrund für die geringe Zahl an Kindern mit Migrationshintergrund an Waldorfschulen ins Feld geführt (vgl. Brater / Hemmer-Schanze / Schmelzer 2009, S. 47; Adam / Schmelzer 2019b, S. 7; Schmelzer 2016, S. 891). Argumentiert wird, dass Eltern, die aus sozial schwächer gestellten Migrantenmilieus kommen, dieses Schulgeld nicht bezahlen können und es schlichtweg daher rührt, dass ihre Kinder nicht an die Waldorfschule gehen. Die aufgeführten Gründe scheinen plausibel und treffen sicherlich als eine Begründung für die Absenz von Familien und Kindern mit Migrationshintergrund zu. Jedoch kann sich in dieser Arbeit mit diesem Erklärungsstand nicht zufriedengegeben werden. Der Anspruch ist es daher, eine theoretisch fundierte Argumentation aufzubauen, mit welcher nachvollziehbar und schlüssig dargelegt werden kann, aus welchem Grund nur eine geringe Anzahl an Familien mit Migrationshintergrund6 ihre Kinder an eine Waldorfschule schicken. Hierzu wird im Anschluss der theoretische Ansatz der „kulturellen Passung“ vorgestellt. Nach einem Überblick über die Ursprünge dieses Ansatzes bei Bourdieu und Passeron werde ich anschließend die Ausdifferenzierung der Theorie, welche – neben anderen – hauptsächlich auf Kramer und Helsper zurückgeht und für die weitere Vorgehensweise von großer Relevanz sein wird, darlegen.
Pierre Bourdieu hat mit seinen Arbeiten und nicht zuletzt am meisten mit seinem sowohl hoch gelobten als auch harsch kritisierten Konzept des „Habitus“ für eine anhaltende Diskussion in den Sozialwissenschaften gesorgt. Ein besonders bedeutendes Feld, in welchem Bourdieus Habituskonzept immer wieder aufgegriffen und für verschiedenste Theoretisierungen verwendet wurde, ist das Bildungssystem und damit konkret die Schule (vgl. Kramer 2014, S. 183).7 Eine dezidierte Einführung in das Habituskonzept und seine Begrifflichkeit ist an dieser Stelle zu entbehren.8 Eingegangen werden muss jedoch auf die bereits in frühen Jahren von Bourdieu gemeinsam mit Passeron vorgenommene Spezialisierung bzw. Entwicklung des Habituskonzepts in einen primären und einen sekundären Habitus und der Idee einer bestehenden „kulturellen Passung“ zwischen beiden (vgl. Bourdieu / Passeron 1971, 1973).
Bourdieu beschäftigte sich zeitlebens in seinen Studien mit dem Thema der Bildungsungleichheit und deren Zustandekommen. Am Anfang der Überlegungen steht die Beschreibung, dass jede Art der pädagogischen Arbeit eine „symbolische Gewalt“ darstellt, „insofern sie mittels einer willkürlichen Gewalt eine kulturelle Willkür durchsetzt“ (Bourdieu / Passeron 1973, S. 13). Daraus folgert sich die doppelte Willkür „jeder pädagogischen Aktion, da sowohl die Vermittlungsinhalte als auch die Vermittlungsweise notwendigerweise eine kulturelle Auswahl darstellen, die an partikulare Positionen im sozialen Raum gebunden sind“ (Kramer 2014, S. 187). Im schulischen Feld besteht diese beschriebene doppelte Willkür deswegen in besonderem Maße, da die kulturell bedingte Auswahl von Vermittlungsinhalten und Vermittlungsweise hier mit denen der herrschenden Klasse deckungsgleich ist, sich aber gleichzeitig „auch an Angehörige anderer (auch unterprivilegierter) Schichten“ richtet (ebd., S. 187). Daraus folgern Bourdieu und Passeron, dass das schulische Feld von eindeutiger Chancenungleichheit betroffen ist, da „alle ein Spiel mitspielen müssen, das unter dem Vorwand der Allgemeinbildung eigentlich nur für Privilegierte bestimmt ist“ (Bourdieu / Passeron 1971, S. 39). Die Anziehung zwischen den kulturellen Gepflogenheiten, die einer sozialen Klasse inhärent sind, und den Anforderungen im schulischen Feld kann mehr oder weniger groß ausfallen, woraus sich ergibt, dass das (erfolgreiche) Bestehen oder (nicht-erfolgreiche) Scheitern im schulischen Feld „in Wirklichkeit von frühzeitigen Orientierungen […] abhängig [ist], die unweigerlich durch das familiäre Milieu bestimmt werden“ (ebd., S. 31 f.). Das kulturelle Erbe an Gepflogenheiten, welches in der und durch die Familie weitergegeben wird, löst somit im Feld der Schule unterschiedliche Reaktionen aus. Es kann dort gewürdigt oder abgelehnt werden, so dass „unterschiedliches kulturelles Kapital in ungleiches schulisches Kapital“ (Kramer 2014, S. 188) umgewandelt wird. Die vererbten kulturellen Gepflogenheiten stellen sich folglich entweder als Gunst oder als Beeinträchtigung im schulischen Feld dar. Hierdurch wird von Bourdieu und Passeron implizit eine „Typologie der kulturellen Passung“ (Kramer 2017, S. 188) eingeführt. Ob sich Angehörige einer sozialen Schicht in einem Passungsverhältnis zur Schule befinden, ist davon abhängig, ob zwischen ihrem kulturellen Erbe und dem der herrschenden Kultur eine Nähe auszumachen ist oder nicht. Die von Bourdieu und Passeron (1971, S. 37 ff.) gezeichneten Passungsverhältnisse oszillieren zwischen zwei Extremen. Die privilegierten Schichten, die schulische Bildung nicht als den wertvollsten Weg zur Wissensanhäufung betrachten und deren Angehörige das schulische Leben ohne Widrigkeiten und mit ständigem Erfolgserleben durchschreiten, befinden sich auf der einen Seite. Auf der anderen sind die bildungsfernen Schichten anzusiedeln, die sich in der Schule fremd fühlen und die für sich einen – wenn überhaupt eintretenden – Erfolg mit Glück oder Zufall begründen. Dazwischen befindet sich ein weiterer Typus, der tendenziell den privilegierten Schichten zugerechnet wird, dem jedoch die Leichtigkeit, mit denen die Obersten die Schullaufbahn meistern, fehlt und für welchen die Schule im Gegensatz eine wichtige Vermittlungsinstanz von Wissen darstellt, welches durch stetige Bemühungen und Anstrengungen erworben werden muss. Diese verschiedenen Passungskonstellationen lassen sich durch die charakteristischen Merkmale des schulischen Feldes erklären. Die „kontinuierliche und systematische Einprägungs- und Durchsetzungsarbeit“ als Merkmal des Feldes Schule zielt auf die „Erzeugung eines Habitus“ ab (Kramer 2014, S. 188). Diese „Erzeugung dauerhafter und übertragbarer Dispositionen des Habitus wird als irreversibler Prozess gefasst“ (Kramer 2017, S. 192). Bourdieu und Passeron gehen daher davon aus, dass es einen primären Habitus gibt, der sich aus der ersten pädagogischen Arbeit, die normalerweise durch das Elternhaus vollzogen wird, konstituiert. Dieser primäre Habitus „[steht] am Ursprung der späteren Heranbildung jedes anderen Habitus“ (Bourdieu / Passeron 1973, S. 58). Die Einprägungs- und Durchsetzungsarbeit, die im schulischen Feld stattfindet – auch sekundäre pädagogische Arbeit genannt (vgl. ebd., S. 58) – hat also diesen primären Habitus als gegebene Voraussetzung und muss in ihrem Wirken immer an diesen anschließen. Ob diese sekundäre pädagogische Arbeit erfolgreich ist und produktive Ergebnisse hervorbringen kann, ist abhängig von der „Distanz […], die den Habitus, den sie einprägen will (d. h. die durchgesetzte kulturelle Willkür), von dem Habitus trennt, der durch die vorhergehenden pädagogischen Arbeiten, und am Ende der Regression, durch die primäre pädagogische Arbeit eingeprägt worden ist (d. h. die ursprüngliche kulturelle Willkür)“ (ebd., S. 58). Durch diese Einführung eines primären und sekundären Habitus besteht nun die Möglichkeit, verschiedene Passungen zu erklären: Es kommt schlichtweg auf die Distanz zwischen dem primären und sekundären Habitus an. Befinden sich beide in einem Übereinstimmungsverhältnis, kommt es zu einem Verstärkungseffekt. Die Schule muss ihren sekundären Habitus nicht vermitteln, so er schon (weitestgehend) dem familiär geprägten primären Habitus entspricht. Besteht eine (erhebliche) Differenz zwischen dem primären und sekundären, zielt die sekundäre schulische Arbeit darauf ab, den primären Habitus durch einen sekundären zu ersetzen (vgl. Kramer 2017, S. 193). Der familiär erworbene primäre Habitus bildet somit den „Ursprung der Rezeption und Assimilation der pädagogischen Botschaft“ (Bourdieu / Passeron 1973, S. 59). Zwischen einem primären, meist in der Familie erzeugten, Habitus und einem sekundären, schulischen Habitus besteht demnach eine kulturelle Passung mehr oder weniger genau.
Vor allem Kramer und Helsper haben das von Bourdieu und Passeron entwickelte Konzept der „kulturellen Passung“ ausdifferenziert und für die Schul- und Bildungsforschung besonders nützlich gemacht. Grundlegend erweitert sich durch die Spezialisierung der Theorie auch das begriffliche Repertoire; und zwar im Besonderen um den Begriff des Schülerhabitus.9
Kramer führt den Begriff des Schülerhabitus in zwei verschiedenen Bedeutungen ein, von denen nur eine von weiterer Relevanz für diese Arbeit ist. Er leitet die für diese Arbeit relevante Lesart des Begriffs mit den Überlegungen von Bourdieu und Passeron ab, indem er den Schülerhabitus als „auf die schulische Institution bezogen“ definiert, wonach dieser ein „institutioneller Habitus“ ist, „der sich auf Anforderungen und Anerkennungsbezüge im schulischen Feld bezieht“ (Kramer 2014, S. 190). Dieser (sekundäre) Schülerhabitus als auf die Institution Schule bezogener Ausdruck steht somit einem Akteurshabitus „in gewisser Weise als institutionelle Anforderung und Anschlussmöglichkeit gegenüber“ (ebd., S. 190). Wenn nachfolgend der Begriff des sekundären schulischen Habitus bzw. des (sekundären) Schülerhabitus verwendet wird, gilt die folgende Definition:
„[Es] wird damit die Bourdieusche Unterscheidung eines primären, familiär und milieuspezifisch generiertem, und eines sekundären Habitus aufgegriffen, der letztlich aus den spezifischen Haltungen, Regeln, Praktiken und Wissensbeständen besteht, die in der jeweiligen Schule von den Schülerinnen und Schülern eingefordert werden und die im Zuge der Schulzeit inkorporiert werden müssen, um schulische Anerkennung zu finden“ (Helsper u.a. 2009, S. 275).10
Dieser Definition werden folgende Annahmen hinzugefügt. Nach Helsper stellen reformpädagogische Schulkulturen in freier Trägerschaft „schulische Orte exklusiver Schließung“ dar (Helsper 2006, S. 169), in welchen zusätzlich zur Ebene der Schüler*innen auch auf der Eltern-Ebene „starke Kopplungen und habituelle Passungsverhältnisse von Schule und sozialem Milieu entstehen“ (Ullrich 2015b, S. 268). Insofern gilt, dass sich die „spezifischen Haltungen, Regeln, Praktiken und Wissensbeständ[e]“ (Helsper u.a. 2009, S. 275), welche von den Schüler*innen gefordert werden, auch auf das Elternhaus beziehen: Auch und gerade von ihnen – als wesentliche Sozialisations- und Erziehungsinstanz der Kinder – wird von schulischer Seite der sekundäre (Schüler)Habitus eingefordert.
Helsper und Kramer untersuchten, ob eine an Bourdieus Habituskonzept und damit auch an seinen mit Passeron entworfenen Überlegungen Erträge für die Bildungs- und Schulforschung abwerfen kann. Dabei konstatieren sie eine klare Notwendig- und Sinnhaftigkeit, die Annahme eines primären familiären Habitus und dessen Passungsverhältnis zu den schulischen „Anforderungen und Anerkennungsstrukturen“ (Kramer / Helsper 2010, S. 109) für die Schulforschung zu nutzen. Anhand der Vorstellung zweier eigener Studien11 differenzieren Kramer und Helsper die Annahme eines von Seiten der Schule geforderten sekundären Habitus weiter aus und machen unterschiedliche Passungskonstellationen aus, in denen sich der sekundäre Habitus verschieden positioniert (vgl. Kramer / Helsper 2010, S. 109 ff.). Als theoretische Folie, vor welcher diese Ausdifferenzierung vollzogen wird, fungiert das maßgeblich von Helsper geprägte Konzept der Schulkultur. Jede Einzelschule bildet eine eigenspezifische Schulkultur aus, welche als „symbolisch-kulturelle Ordnung“ begriffen werden kann, die „mit ihren Dominanzverhältnissen […] ein Feld von exzellenten, legitimen, tolerablen, marginalisierten und tabuisierten kulturellen Ausdrucksgestalten, Praktiken und habituellen Haltungen [erzeugt], das zwar keine einfache Fortsetzung milieuspezifischer Habitusformationen darstellt, aber zu den diversen milieuspezifischen, ethnischen, geschlechtsspezifischen etc. habituellen Sinnstrukturen in einem Passungs- oder Abstoßungsverhältnis steht“ (Helsper 2008, S. 67).12 In dieser Logik werden Schulen als „Institutionen-Milieu-Verbindungen“ (Kramer / Helsper 2010, S. 109) charakterisiert. Der von der jeweiligen Schule als Institution geforderte sekundäre Schülerhabitus, welcher durch die die Schule prägende Schulkultur bestimmt und durch die relevanten schulischen Akteure (z. B. Lehrer*innen, Elternbeirat, Schulleitung usw.) repräsentiert und immer wieder reproduziert wird, ist somit „zu spezifischen Milieus mehr oder weniger passförmig situiert“ (Kramer / Helsper 2010, S. 110). Kramer und Helsper nehmen hierbei jedoch an, dass in differenten Schulkulturen auch stets eigenspezifische und differenzierte Institutionen-Milieu-Verbindungen entstehen – im Unterschied zu Bourdieu und Passeron, die den sekundären Schülerhabitus als Voraussetzung des schulischen Feldes an sich betrachten und ihn daher immer entweder in einem Passungs- oder Abstoßungsverhältnis sehen (vgl. Kramer / Helsper 2010, S. 110). Folglich stehen „spezifische Schulkulturen zu sozialen Milieus in einem korrespondierenden Verhältnis der Homologie, der Nähe oder Distanz bis hin zur Abstoßung“ (ebd., S. 110). Dabei sind drei verschiedene Passungsmodelle zu unterscheiden. Es existieren primäre homologe Milieus, sekundäre Bezugsmilieus sowie antagonistische Abstoßungsmilieus (vgl. Helsper u.a. 2009, S. 276). Primäre homologe Milieus zeichnen sich durch eine besonders große Kongruenz zwischen ihren Orientierungen und Maximen der Lebensführung und der schulischen Kultur bzw. dem geforderten Schülerhabitus aus: Die Schüler*innen müssen diesen idealen Schüler*innenentwurf in besonders hohem Maße verkörpern (vgl. Hummrich / Kramer 2017, S. 165). Sekundäre Bezugsmilieus sind dagegen nur zusätzlich nötige Milieus, die in geringerem Maße dem geforderten sekundären Habitus entsprechen (vgl. ebd., S. 165). Diese besitzen zwar „eine Nähe zur Schule“, müssen aber eine „zugleich mehr oder weniger starke Transformations- und Konversionsbereitschaft aufweisen“ (Helsper u.a. 2009, S. 276), um eine Passung zur Schule herzustellen. Antagonistische Abstoßungsmilieus kennzeichnen als drittes Passungsmodell eine „Trennlinie zu den Milieus, die für eine Schule und ihre symbolische Ordnung nicht mehr tragbar scheinen und für deren Kinder sich eine Schule nicht zuständig oder kompetent genug fühlt“ (Hummrich / Kramer 2017, S. 165). Festzuhalten bleibt also, dass die These von Bourdieu und Passeron hiermit in dieser Hinsicht präzisiert wird. Einerseits kann der schulisch geforderte sekundäre Schülerhabitus sehr unterschiedliche Ausprägungen ausbilden (vgl. Kramer / Helsper 2010, S. 110). Andererseits kann auch das Ausmaß und die Intensität der Institutionen-Milieu-Passungen variieren, so dass entweder „enge Korrespondenzverhältnisse mit spezifischen Milieus“ (ebd., S. 110) vorgefunden werden oder die Passung zwischen Milieu und institutionalisiertem Schülerhabitus in „unspezifischen [und offeneren, T. B.] Kombinationen“ (Helsper 2006, S. 171) auftritt. Schulen lassen sich demnach definitiv als „Institutionen-Milieu-Komplexe“ verstehen, „in denen harmonische und antagonistische Passungen zwischen unterschiedlichen familiären Milieus und der jeweiligen Schulkultur erzeugt werden“ (Helsper / Hummrich 2008, S. 378).
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1 Der Begriff Migrantenmilieu ist ein fachterminologischer Ausdruck, welcher eine strukturelle Beschreibung der Milieus liefern soll, in welchen selbstverständlich alle Menschen mit Migrationshintergrund, sowohl des weiblichen und männlichen als auch diversen Geschlechts, angesprochen werden. Da dieser Begriff struktureller Natur ist, wird er im Folgenden nicht gegendert.
2 Weiterführendes zur pädagogischen Konzeption und zur anthroposophischen Schulkultur vgl. Ullrich 2012.
3 Weiterführendes zur Dreigliederungsbewegung und zum gesellschaftspolitischen Zusammenhang vgl. Kugler 1978, S. 190 ff.
4 Die Bezeichnung „ausländisch“ ist nach Angaben des Statistischen Bundesamtes für diesen Zweck mit der Angabe „mit Migrationshintergrund“ analog zu benutzen.
5 Vgl. weiterführend den Sammelband von Adam / Schmelzer 2019a.
6 In diesem Kontext werden zwar einerseits Familien mit Migrationshintergrund, die aus sozioökonomisch schlechter gestellten Schichten kommen, im Rahmen der generellen Zusammensetzung der Waldorf-Elternschaft fokussiert. Andererseits sollen hierbei auch Migrant*innenfamilien aus privilegierten Schichten betrachtet werden; denn auch diese sind an Waldorfschulen unterrepräsentiert (s. Abbildung 2).
7 Für einen Überblick über die Verwendung des Habitusbegriffs in der Bildungsforschung und den Erziehungswissenschaften vgl. weiterführend Höhne 2013.
8 Für eine ausführliche Einführung in das Konzept des Habitus und die damit in Verbindung stehenden Vorüberlegungen zu der in dieser Arbeit ausführlich beschriebenen Theorie der „kulturellen Passung“ vgl. die vollständigen Sammelbandartikel von Kramer 2014 und Kramer 2017.
9 Der Begriff Schülerhabitus ist ein fachterminologischer und theoretischer Ausdruck, weshalb er im Folgenden nicht gegendert wird.
10 Im Unterschied zu der hier angeführten Verwendung des Begriffs betrachtet Kramer in einer anderen Definition den Schülerhabitus selbst als einen akteursspezifischen Habitus. Dieser würde demnach auf die „Ausprägung jener Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsschemata verweisen, mit denen sich diese [Akteure, T.B.] im Feld der Schule besonders sicher bewegen können“ (Kramer 2014, S. 190). Dieser ist jedoch für diese Arbeit nicht von Bedeutung.
11 Für eine Zusammenfassung der von Kramer und Helsper mit durchgeführten Studien und einer Kurzdarstellung der Ergebnisse vgl. den vollständigen Sammelbandartikel Kramer / Helsper 2010.
12 Vgl. hierzu auch weiterführend die vollständigen Sammelbandartikel Helsper 2008 und Helsper 2009.