Examensarbeit, 2019
83 Seiten, Note: 2,0
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
2 Problemstellung
3 Begriffsklärung
3.1 Kultur
3.2 Multikulturalität
3.3 Interkulturalität
3.4 Transkulturalität
4 Interkulturelle Kompetenz
4.1 Modelle interkultureller Kompetenz
4.1.1 Listenmodell
4.1.2 Strukturmodelle
4.1.3 Prozessmodelle
4.1.4 Kohäsionsmodell
4.1.5 Zwiebelmodell
4.2 Zusammenfassende Betrachtung
4.3 Erwerb interkultureller Kompetenz
4.4 Messbarkeit interkultureller Kompetenz
5 Integration im Sport
5.1 Sport im Verein
5.2 Sport in der Schule
6 Umfrage
6.1 Rahmenbedingungen
6.1.1 Auf Ballhöhe
6.1.2 Hout Bay
6.1.3 Hout Bay United Football Community
6.2 Fragebogenkonstruktion
6.3 Durchführung der Befragung
6.4 Erfüllbarkeit der Gütekriterien
6.5 Ergebnisse
6.6 Diskussion
7 Fazit
7.1 Zusammenfassung
7.2 Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang 1: Fragebogen.
Anhang 2: Rohdaten Fragebogen.
Tabelle 1: Teilnehmer
Tabelle 2: Mittelwerte
Tabelle 3: Summenindex
Tabelle 4: Regressionen
Tabelle 5: Rotierende Komponentenmatrix „Attitude“
Tabelle 6: Rotierte Komponentenmatrix „Awareness“
Abb. 1: Prozessmodell interkultureller Kompetenz, eigene Darstellung in Anlehnung an Deardorff
Abb. 2: Kohärenz und kohäsionsorientiertes Verständnis von Interkulturalität Quelle. Rathje 2006.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Thema Interkulturalität ist in vielen gesellschaftlichen Bereichen in den Fokus gerückt. Durch weltweite Krisen befinden sich immer mehr Menschen auf der Flucht. Laut UNO-Flüchtlingshilfe erreichte das Jahr 2018 hier einen neuen Rekord. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich und reichen von Krieg, instabilen politischen und menschenrechtlichen Situationen bis zu wirtschaftlichen Notlagen. Mehr als 68,5 Millionen Menschen waren Mitte 2018 auf der Flucht, Tendenz steigend.1
Im Rahmen globalpolitischer Entwicklungen nimmt die Migrationsbewegung zu. Fast alle westlichen Industrienationen entwickeln sich zu multikulturellen Gesellschaften. Durch die Vielzahl an Einwanderern sind interkulturelle Begegnungen in Deutschland allgegenwärtig. Im Verwandtenkreis heiratet eine Christin einen muslimischen Türken. Was für die streng gläubigen Großeltern zunächst gewöhnungsbedürftig ist, stellt mittlerweile eine Selbstverständlichkeit dar. Dennoch kommt es immer wieder zu Situationen der Unsicherheit, welche durch einfache Kommunikation aufgelöst werden können. Bei einem Familientreffen greift der türkische Ehemann zielsicher zum Kartoffelsalat mit Speck. Sofort schießt einem durch den Kopf, dass Muslime kein Schweinefleisch essen. Nach anfänglicher Unsicherheit wird das Thema vorsichtig angesprochen und es folgt die verschmitzte Antwort: „Ich esse Schwein. Ich lebe in Bayern und würde wahrscheinlich verhungern, wenn ich auf Schweinefleisch verzichte.“
Der Verfasser dieser Arbeit ist seit 2012 ehrenamtlich mit „Auf Ballhöhe“ in verschiedenen Ländern dieser Welt auf und neben dem Sportplatz aktiv. Immer wieder wird er dabei mit Situationen konfrontiert, die ihm unbekannt sind. Die Recherche vor den meisten Reisen beschränkt sich auf den Wikipedia Artikel des jeweiligen Landes, um unter Umständen vor größeren kulturellen Besonderheiten gewarnt zu sein. Darüber hinaus versucht man ohne große Erwartungen und offen an das neue Projekt heranzugehen. Mit diesem Vorgehen wurden stets gute Erfahrungen gemacht. Nachhaltig beeindruckt hat, neben dem Anblick der Armut in den Townships, die Leichtigkeit der Kontaktaufnahme mit Hilfe des Fußballs. Als im Jahr 2015 die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland anstieg, schlug den Neuankommenden neben der Willkommenskultur auch viel Hass aus dem „Christlichen Abendland“ entgegen. Als leidenschaftlicher Sportler mit Erfahrungen in der sportlichen Völkerverständigung war und ist es dem Verfasser noch eine Herzensangelegenheit, zu erkunden, welchen Beitrag der Sport leisten kann, um interkulturelle Kompetenzen zu fördern und so das menschliche Miteinander zu verbessern. Im Rahmen einiger Projekte kam es zu Kontakten mit verschiedenen Institutionen, wie dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), welches die Rolle des Sports in der deutschen Entwicklungsarbeit weiter stärken will. Sie sehen den Sport als einen wertvollen gesellschaftlichen Bereich mit universellen Regeln und moralischen Standards, was ihn zu einem Medium der Verständigung macht. Dr. Gerd Müller äußert sich in einer Informationsbroschüre des BMZ aus dem Jahr 2017 wie folgt:
„Sport kann Werte vermitteln und Perspektiven aufzeigen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl über ethnische und soziale Grenzen hinweg schaffen […] Über den Sport können wir unsere Botschaften von einem gewaltfreien Miteinander, von Fair Play und Gleichberechtigung vermitteln.“2
Neben der Entwicklungsarbeit im Ausland gilt der Sport auch innerhalb Deutschlands als Stütze für die Integration. In den letzten Jahren wurden zahlreiche sportbezogene Integra-tionsmaßnahmen initiiert, die sich gezielt an Personen mit Migrationshintergrund richten. „Integration durch Sport“ oder „spin -sport interkulturell“ werden von den Sportverbänden unter dem Dach des Deutschen Olympischen Sportbundes koordiniert.3
Im Kontrast dazu stößt man im Sport auch immer wieder auf negative Schlagzeilen. Nationalismus und Rassismus werden auf den Sportplätzen und in den Stadien offen zur Schau getragen. Spiele müssen abgebrochen werden und es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, deren Ursache nicht selten interkulturelle Konflikte sind. Immer häufiger erleben wir es, dass Sportveranstaltungen durch die politische Elite eines Landes oder Verbandes zum Machterhalt sowie für Propagandazwecke instrumentalisiert werden. In diesem Spannungsfeld zwischen Glorifizierung durch die Politik auf der einen und den Negativschlagzeilen auf der anderen Seite möchte der Verfasser im Rahmen dieser Examensarbeit der Frage auf den Grund gehen, welchen Beitrag der Sport zum Erwerb interkultureller Kompetenz und somit beim Integrationsprozess leisten kann.
Die vorliegende Examensarbeit teilt sich in verschiedene Bereiche auf. Zu Beginn der Arbeit wird die Problemstellung skizziert, die sich aus der Begegnung von Fremden im Zuge von Wanderbewegungen ergeben. Diese weltweite Begebenheit ist nicht Phänomen der Neuzeit, sondern beschäftigt die Menschheit schon Jahrtausende, wenngleich die Globalisierung deren Ausmaß noch einmal verstärkt hat. Um die Thematik besser verstehen zu können folgen einige Begriffsklärungen. Der Kulturbegriff wird durchleuchtet, ehe ein genauerer Blick auf interkulturelle Kompetenzen geworfen wird. Es wird versucht, das durchaus komplexe Konstrukt in verschiedenen Modellen greifbar zu machen. Neben den Unterschieden werden auch die Gemeinsamkeiten herausgearbeitet. Auf deren Grundlage wird erläutert, welche Möglichkeiten bestehen, sich die unterschiedlichen Kompetenzen anzueignen. Welche Chancen birgt ein kompetenter interkultureller Umgang und welchen unangenehmen Folgen könnte man wie aus dem Weg gehen? In einem weiteren Schritt geht es um den Versuch, erworbene interkulturelle Kompetenz messbar zu machen. In welchem Rahmen ist das bereits gelungen und an welcher Stelle stoßen die heute be-kannten Methoden an ihre Grenzen? Einen zentralen Punkt dieser Arbeit bildet der Sport und seine Ambivalenz bezüglich der Vermittlungspotentiale. Wie bereits angesprochen wird der Sport und seine integrative Wirkung von Seiten der Politik oftmals glorifiziert und seine möglichen Schattenseiten gerne verschwiegen. Die Eigenlogik des Sports neigt zur Selektion und zur Bildung von Hierarchien, die der Integration entgegenstehen. Trotz seiner negativen Tendenzen wird nach einem Weg gesucht, die positiven Kräfte zu bündeln und der Integration gewinnbringend zuzuführen. Abgerundet wird die Arbeit durch eine vom Verfasser in Südafrika durchgeführte Umfrage. Mit Hilfe eines Fragebogens wird untersucht inwieweit Mitglieder4 einer Fußballgemeinschaft in Hout Bay, einem Vorort von Kapstadt, ausgeprägtere interkulturelle Kompetenzen aufweisen, als die restlichen Bewohner. Durch die besondere Dichte an kultureller Vielfalt an diesem Ort, eignet er sich besonders für die Erhebung einer solchen Studie. Die Ergebnisse werden analysiert und hinsichtlich der Fragestellung, welchen Einfluss der Sport beim Erwerb interkultureller Kompetenz hat, untersucht. Geschlossen wird die Examensarbeit mit der Zusammenfassung der Ergebnisse und einem Ausblick auf die weitere Entwicklung der Thematik.
Seit ihren Anfängen sind die Geschichte der Menschheit und des Abendlandes von Wanderbewegungen geprägt. Vom Exodus der israelitischen Stämme aus Ägypten um 1250 v.Chr., dem Kampf um Troja ungefähr zur gleichen Zeit, über die griechische Kolonisation von 750 bis 550 v.Chr. bis hin zur Völkerwanderung ab dem Ende des 4. Jahrhunderts gab es Menschen, die ihre Heimat aus den unterschiedlichsten Gründen verließen. Mit den Menschen wanderte untrennbar verwoben die in ihren Körpern aufgehobene persönliche Geschichte und die ihrer Kultur.5 Auch auf deutschen Gebieten waren Wanderbewegungen keine Seltenheit. Im 19. Jahrhundert wanderten allein fünf Millionen Menschen in die Vereinigten Staaten aus. Die Wanderungsbilanz Deutschlands steckte zu dieser Zeit tief in den roten Zahlen. Zwischen 1880 und 1893 wanderten knapp zwei Millionen Deutsche in die USA aus, was ungefähr der Anzahl der aktuell in Deutschland lebenden türkischstämmigen Migranten entspricht. Auswanderungsgründe waren vor allem wirtschaftlicher und politischer Natur.
Gerade in den letzten Jahren nahm die Zahl der Einwanderer in Deutschland zu. Für viele Einheimische wirkte es so, als würden plötzlich Menschenmassen einströmen, die sich deutlich von ihnen unterscheiden und ihre Andersartigkeit auch offen zeigen. Innerhalb kürzester Zeit bildeten sich Ghettos, in denen die anders aussehenden, fremden Menschen leben. Die Anhäufung fremdwirkender Personen kann nicht geleugnet werden und zwingt die Einheimischen dazu, die ihre Normalität Störenden wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Bei aller Gutwilligkeit und Bereitschaft zum Helfen entstand mit dem Auftauchen der Fremden ein gewisses Unbehagen in der Bevölkerung, u.a. hervorgerufen durch Unsicherheit. Als Reaktion darauf häufte sich die Forderung, die Fremden hätten sich anzupassen. Für die Minderheit, die Fremden, heißt „assimilieren“ jedoch, ihre Eigenständigkeit aufzugeben und die ihnen bisher ungeprüft Sicherheit bietenden Muster, ohne eine Chance zur Umkehr durch unbekannte Neue zu ersetzen.6
Um auf dem internationalen Markt weiterhin agieren zu können, legen die Unternehmen immer mehr Wert auf interkulturelle Unternehmensführung.7 Aus wirtschaftlicher Sicht führt Globalisierung zu einer „weltweite[n] Verflechtung der Unternehmensaktivitäten.“8 In diesen komplexen, pluralistischen Gesellschaften wird die Vermittlung eines konstruktiven Umgangs mit Fremdheit immer mehr zur Schlüsselqualifikation, die für Angehörige unterschiedlicher Berufsgruppen, aber auch für jeden einzelnen Menschen bedeutsam ist.9 Minderheits wie Mehrheitsmitglieder werden dabei gleichermaßen angesprochen. Eine generelle Homogenisierung, bei der Probleme nicht offen angesprochen werden, ist nicht zielführend. Wertekonflikte bleiben unvermeidlich. Interkulturelle Erziehung kann nur in dem Sinne sein, „dass sie nicht Angleichung der Zuwanderer an unser System heißt, sondern sie muss die Überprüfung des Bestehenden und seine Weiterentwicklung unter Einbeziehung des uns mehr oder weniger Fremden beinhalten.“10 Die verschiedenen Gruppen müssen für eine Fortentwicklung voneinander lernen und eine gemeinsame Zukunft anstreben. Erfolgreich kann der Prozess der interkulturellen Öffnung nur sein, wenn Einheimische und Zugewanderte sich gegenseitig akzeptieren und das gemeinsame Leben als Bereicherung verstehen.
Für die erste Begegnung mit einem Menschen stehen kulturell ausgebildete soziale Kategorien zur Verfügung, mit Hilfe derer man schnell einen „first-best-guess about a person or a situation“11, also einen ersten Eindruck über das Gegenüber erhalten kann. Dazu gehören das „Geschlecht“, „Ethnie“, „Status“, „Religion“ und weitere Kategorien. Über das Erkunden der jeweiligen Kategoriezugehörigkeit eröffnen sich Anknüpfungspunkte für das weitere Gespräch. Somit stellt die Kategorisierung bzw. Stereotypisierung ein Kommunikationspotenzial dar.12 Stereotype dienen in der interkulturellen Kommunikation als Ressource zur Herstellung von Gemeinsamkeiten zwischen Fremden und werden meist implizit verwendet. Sie werden nicht ausdrücklich ausgesprochen, schwingen aber in der Botschaft mit. Stereotype besitzen einen vorläufigen und undifferenzierten Charakter. Ist man sich dessen nicht bewusst, entstehen Vorurteile. Ihre Verwendung führt zum Aufbau von Barrieren und kann sich sehr negativ auf die interkulturelle Kommunikation aus-wirken.
„Es handelt sich somit um eine Gratwanderung zwischen einerseits der Typisierung anderer, womit immer nur Tendenzen gefasst sind, mit Hilfe derer soziale Orientierung erleichtert ist und die offen sein sollte für die Möglichkeit, dass sich ein konkretes Individuum davon unterscheidet, und andererseits der Stereotypisierung im Sinne einer Vorverurteilung anderer.“13
Im folgenden Kapitel werden die verschiedenen Kulturbegriffe erläutert.
Da der Kulturbegriff auch umgangssprachlich verwendet wird, fühlt sich im Grunde jeder in der Lage sich dazu zu äußern. Daneben gibt es im Feld der interkulturellen Bildung eine Vielzahl wissenschaftlicher Definitionen, welche miteinander konkurrieren. Ursprünglich leitet sich der Begriff Kultur von dem lateinischen Wort „colere“ ab, was hegen, pflegen, bebauen oder ausbilden bedeutet. Er bezeichnet die landwirtschaftliche Pflege des Bodens und wurde später von Cicero auf die Pflege spezifisch menschlicher Fähigkeiten übertragen14. Ein enger Kulturbegriff bezieht sich primär auf künstlerische Ausdrucksformen, während der erweiterte Kulturbegriff eher lebensweltlich orientiert ist.15 Die meisten Definitionen gehen von einer Beschreibung anhand einzelner Faktoren und Merkmalen wie beispielsweise Werten, Verhalten, Codes, Gewohnheiten und Zeichen aus. Sie ist laut dem Psychologen Thomas ein vom Menschen geschaffenes System zur Orientierung, das Gesellschaften, Gruppierungen oder Nationen behilflich sein soll. Durch dieses Orientierungssystem entstehen sogenannte Kulturstandards, die durch Handlungen und Bewertungen erkennbar werden. Um mit anderen Kulturen erfolgreich zu interagieren ist es entscheidend, deren Kulturstandards zu kennen.16 Möchte man sich das Phänomen Kultur bildlich vorstellen, wird häufig ein Eisberg oder eine Zwiebel verwendet. Sie symbolisieren, dass es einen sichtbaren Teil der Kultur gibt, wie beispielsweise Objekte oder erkennbare Handlungen und nicht sichtbare Anteile. Hierzu gehören Werte, Normen und Grundhaltungen. Im Laufe der Zeit wurde dieses Modell weiterentwickelt zum sogenannte „Rucksackmodell“. Es soll symbolisieren, dass eine Kultur bereit ist Einflüsse aus anderen Kulturen zuzulassen und anzunehmen. Wie Gepäck führen die Menschen ihre Kultur mit sich und können Teile ihres Gepäcks umpacken und austauschen.17 Hervorzuheben ist, dass nicht nur das Herkunftsland Einfluss auf die Kultur hat, sondern ebenso die Lebensweisen und Lebenseinstellungen innerhalb von Kollektiven.18 Es zeigt sich, dass die Gleichsetzung von Kultur und die Zugehörigkeit zu einer Nation nicht zutreffend ist, da die Möglichkeit, zu mehreren Kulturen zu gehören, ignoriert wird. Die Globalisierung und die beständigen Migrationsbewegungen führen dazu, dass sich verschiedene Kulturen gegenseitig beeinflussen. Die Zugehörigkeit zu einer speziellen Kultur ist dadurch heute nicht mehr eindeutig zu bestimmen19.
Multikulturell wird eine Gesellschaft, in der vielfältige Kulturen nebeneinander existieren.20 Die in ihr dauerhaft lebenden Zuwanderungsgruppen wollen und werden sich nicht umstandslos assimilieren und anpassen.21 Dass „[multikulturelle] Szenarien […] so strukturiert [sind], dass – unter Wahrung monokultureller Refugien – möglichst viele Anreize zum gemeinsamen Handeln geschaffen werden“22 hält Bolten für erstrebenswert.
Die Interaktion und die Beziehung von Angehörigen von Mitgliedern unterschiedlicher Lebenswelten wird durch Interkulturalität beschrieben.23 Im Laufe der interkulturellen Verständigung werden gemeinsame Ziele und Handlungsorientierungen ohne Missachtung der Unterschiedlichkeit möglich. Auffallend ist, dass „interkulturell“ beinah inflationär im alltäglichen Sprachgebrauch auftaucht. Dies spricht für eine erhöhte Relevanz des Begriffs. Zudem lässt sich die ungenaue Bedeutung im deutschen öffentlichen Diskurs als Grund anführen. Im gesellschaftspolitischen Diskurs ist die Bedeutung stark von Kontexten und Intentionen abhängig, wodurch der Sprecher oftmals seinen Standpunkt und Wertung zum Ausdruck bringt. Zudem kann die Zugehörigkeit des Sprechers zu einer Berufsgruppe eine Rolle spielen. Grundschulpädagogen verstehen unter „interkulturellem Lernen“ in der Regel das Lernen und Unterrichten in Klassen mit vielen Migrantenkindern. In der Kunst dagegen ist „interkulturell“ meistens positiv besetzt und wird etwa als Synonym für weltoffen und tolerant verwendet. Wer beruflich bedingt im Ausland tätig ist, denkt dagegen zuerst an alltagskulturelle Missverständnisse, die in der unbekannten Kultur Verhandlungen erschweren und gefährden können.24
Innerhalb kommunikativer Prozesse kann aus Interkulturalität eine eigene Kulturalität entstehen.25 Die neu herausgebildeten Gemeinsamkeiten im Rahmen interkultureller Begegnungen werden als Transkulturalität bezeichnet.26 Die Grenzen zwischen den Kulturen weichen kontinuierlich auf, werden verwischt oder aufgehoben, sodass die Differenz im interkulturellen Prozess in den Hintergrund rückt. Welsch betont, dass heutige Kulturen einer globalen Prägung unterliegen. Sie entsteht durch die Vermischung der Kulturen, die immer mehr Gemeinsamkeiten aufweisen. Kulturell gesehen, besteht die Möglichkeit, dass man sich von Menschen derselben Nationalität stark unterscheidet und im Gegenzug international umgangsfähiger sei. Jedes Individuum hat seine eigene innere Transkulturalität. Diese transkulturelle Mischung zeigt sich vielfältig in der Esskultur, beim Sport oder in der Musik. Aus einer Vielzahl an Standpunkten und Kontexten ergibt sich eine „schillernde Bedeutungsvielfalt“27 der Begriffe. Die Verwendung nimmt weiterhin zu und ihre Bedeutungen werden stetig komplexer, da die Phänomene, auf die sie sich beziehen nicht weniger, sondern mehr werden. Beeinflusst durch die Kulturen, denen man begegnet ist, trägt quasi jedes Individuum seine eigene Kultur in sich. Folglich plädiert Welsch den Begriff Interkulturalität durch Transkulturalität zu ersetzen.28
Widmet man sich nun der Erforschung interkultureller Erfahrung, schließt sich die Zugrundelegung eines statischen, monolithischen Kulturbegriffs aus. Handelnde Personen interagieren nicht mit der Kultur eines Landes, sondern mit einzelnen Individuen. Ebenso sind die handelnden Personen nicht mit der Kultur ihres Herkunftslandes gleichzusetzen.
Auf der Suche nach einer Definition für interkulturelle Kompetenz stößt man auf eine Vielzahl verschiedener Versuche, ein komplexes Konstrukt in Worte zu fassen. Diese werden in diesem Kapitel vorgestellt.
Bei Derboven und Kumbruck findet man folgende Definition: „Interkulturelle Kompetenz ist eine Form sozialer Kompetenz, die über die für monokulturelle Interaktion notwendige Kompetenz hinausgeht.“29 Welche Teilkompetenzen interkulturell kompetente Personen vereinen, darüber herrscht im Detail keine Einigkeit und ist einerseits vom Kulturverständnis, aber auch vom Kompetenzverständnis des jeweiligen Verfassers abhängig. Die Reichweite der gängigsten Modelle erstreckt sich von der Aufzählung einzelner Kompetenzen in Listenmodellen, über Strukturmodelle (Einteilung in kognitive, affektive und behavioristische Teilkompetenzen), bis hin zu integrativen Prozessmodellen.
Die Kompetenzen, die von verschiedenen Wissenschaftlern übereinstimmend beschrieben werden, hat Hiller 2010 in einem Listenmodell aufgeführt:
- „Ambiguitätstoleranz30
- Empathie31
- Kreativität
- Kommunikationsfertigkeit (bewusstes Kommunizieren)
- Verhaltensflexibilität
- Konfliktlösungskompetenz
- Offenheit für Neues
- Bereitschaft, scheinbar alltägliche Dinge und erworbene Kenntnisse immer wieder in Frage zu stellen und zu erneuern.“32
Strukturmodelle ordnen die Teilkompetenzen in Bezug auf verschiedene Dimensionen. Müller und Gelbrich beschreiben 2015 interkulturelle Kompetenz durch affektive und kognitive Dimensionen, sowie eine Handlungsdimension. Einfühlungsvermögen, Offenheit und Unvoreingenommenheit werden der affektiven Dimension zugeordnet, wohingegen Selbstachtsamkeit, Selbstbewusstsein, ein kulturelles Bewusstsein und eine realistische Erwartung zu den kognitiven Dimensionen zählen. Durch die Handlungsdimension kommen noch Respekt, Flexibilität, Sprach und Kommunikationsfähigkeit und die Ambiguitätstoleranz hinzu. Abgerundet wird dieses Modell durch die Außenkriterien Angemessenheit und Effektivität, die das Befolgen kultureller Regeln des Gastlandes beinhalten.33
Deardorff hingegen gehört nicht zu den Befürwortern der Listenmodelle und gibt zu bedenken, „there is no list that can apply to all contexts and cultures.“34 Ebenso verweist Bolten darauf, dass das Zusammenwirken einzelner Teilkompetenzen und Aspekte einer Interaktion einen Prozess wiederspiegeln. Anstatt auf ein bestimmtes Lernziel hinzuarbeiten, befindet man sich in einem dauerhaften Prozess des Erwerbs von interkultureller Kompetenz. „Unverzichtbar für die Realisation eines […] interkulturellen Verständigungsprozesses sind Empathie, Rollendistanz und Metakommunikation.“35
Unabhängig vom Kontext ist es für eine gelungene Interaktion essenziell sich emotional aufeinander einzulassen. Hierbei helfen Teilkompetenzen, die in den Listenmodellen aufgereiht sind: Flexibilität, Offenheit und guter Umgang mit Widersprüchen beziehungsweise Nicht-Eindeutigkeiten. Bolten möchte daher interkulturelle Kompetenz nicht als eigenständigen Kompetenzbereich verstanden wissen. Sie sei „als Fähigkeit zu verstehen, individuelle, soziale, fachliche und strategische Teilkompetenz in Ihrer bestmöglichen Verknüpfung auf interkulturelle Handlungskontexte beziehen zu können. Interkulturelle Kompetenz ist dementsprechend keine Schlüsselqualifikation, sondern eine Querschnittsaufgabe, deren Gelingen das Zusammenspiel verschiedener Schlüsselqualifikationen voraussetzt.“36 Speziell für die Entwicklung interkultureller Kompetenz werden Fremdsprachenkenntnisse und Wissen über andere Kulturen hervorgehoben.
Neben Bolten geht auch Thomas von einem prozessualen Geschehen aus, welches durch eine interkulturelle und als kritisch erlebte Begegnung ausgelöst wird. Nach dem Erwerb der interkulturellen Kompetenz können in der Interaktion gemeinsam Probleme gelöst und Missverständnisse vermieden werden. Nach Thomas‘ Auffassung zeigt sich interkulturelle Kompetenz
„in der Fähigkeit, kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren im Wahrnehmen, Urteilen, Empfinden und Handeln bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen im Sinne einer wechselseitigen Anpassung, von Toleranz gegenüber Inkompatibilität und einer Entwicklung hin zu synergieträchtigen Formen der Zusammenarbeit, des Zusammenlebens und handlungswirksamer Orientierungsmuster in Bezug auf Weltinterpretation und Weltgestaltung.“37
Deutlich werden vor allem die zielorientierten Aspekte und die notwendige Selbstreflexion. Da sie die Listenmodelle als nicht umfassend genug empfand, entwickelte Deardorff im Rahmen der Delphi-Studie ein eigenes Modell. Sie befragte Wissenschaftler, denen ein Expertenstatus hinsichtlich interkulturellen Kompetenzerwerbs zugesprochen wurde, nach ihrer Definition von interkultureller Kompetenz und ließ die Aspekte mit der meisten Übereinstimmung in ihr dynamisches Prozessmodell einfließen.38 Das Modell besteht aus vier Komponenten, welche aufeinander aufbauen und in einer dynamischen Wechselbeziehung zueinanderstehen. Die entscheidenden Basiselemente für die Entwicklung von interkultureller Kompetenz bilden auf der individuellen Ebene die Haltung und Einstellung. Wer andere Kulturen und die kulturelle Vielfalt wertfrei anerkennt, begegnet ihnen mit dem nötigen Respekt, mit Offenheit und Neugier. Hält man die in interkulturellen Situationen entstehende Unsicherheit aus, beweist man die entsprechende Ambiguitätstoleranz. Erfüllt man diese Kriterien, steigt die Bereitschaft sein Wissen zu erweitern. Zum Kulturverständnis gehört ein gründliches, spezifisches Wissen über andere Kulturen und Weltanschauungen. Zudem ist in diesem Bereich die Selbstreflexion hervorzuheben. Sie ist essenziell, um eigenes Verhalten kritisch zu durchleuchten und zu verstehen. Das sozio-linguistische Bewusstsein bezieht sich neben der Sprachkenntnis auch auf die Verwendung der Sprache in verschiedenen sozialen und kulturellen Kontexten.39 Bezüglich der eigenen und fremden Kultur dienen die individuellen Fähigkeiten dem Erwerb und der Verarbeitung von Wissen. Aufmerksames Zuhören, Beobachten, Analysieren und Zuordnen der kulturspezifischen Informationen führen zur Weiterentwicklung der interkulturellen Kompetenz. Das Bewerten beziehungsweise kritische Hinterfragen der kulturspezifischen Informationen schließt die Ebene ab. Die persönliche Grundhaltung, gepaart mit den intellektuellen Fähigkeiten, bildet die individuelle Komponente, die sich zu interaktiven Komponenten entwickelt. Intern verlagert sich das persönliche Referenzsystem, was zu einem Perspektivwechsel führt. Durch die erhöhte Flexibilität passt man sich leichter neuen Kommunikationsformen an. Die ethnozentrische Sicht wird hinterfragt und angepasst, sodass nicht mehr alleinig die eigene Kultur als maßgeblich wahrgenommen wird. Abstammung oder Nationalität treten dabei in den Hintergrund. Dies begünstigt auf emotionaler Ebene die Empathie und mit ihr einhergehend eine weitere Annäherung. Zusammen ergeben die beschriebenen Komponenten eine externe Wirkung, die ein angemessenes Verhalten in interkulturellen Begegnungen und Interaktionen wahrscheinlich macht: Regelverstöße werden vermieden und Ziele erreicht. Es handelt sich um ein individuell variables Modell.40
Zwischen den einzelnen Komponenten bestehen direkte Verbindungen. Eine bestimmte Grundhaltung wie Offenheit führt direkt zu einem angemesseneren Verhalten in der interkulturellen Situation, ohne dass zuvor jede Stufe des Prozesses erfolgreich beendet werden muss. Deardorff verweist darauf, dass eine interkulturell kompetente Situation wirksamer sein wird, wenn möglichst viele der Komponenten ihres Modells erworben werden.41 Die Bertelsmann Stiftung greift Deardorffs Modell auf und stellt den beweglichen Prozess des Erwerbs interkultureller Kompetenz in Form einer Lernspirale dar.42
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten .
Abb. 1: Prozessmodell interkultureller Kompetenz, eigene Darstellung in Anlehnung an Deardorff 2006.
Weder die Frage wie die Faktoren das Lernen beeinflussen noch das Warum werden beantwortet. Zudem fehlt eine Erklärung worin der Ursprung der Spirale liegt. Was löst interkulturelles Lernen eigentlich aus und wodurch schreitet dieser Prozess dann im Sinne eines Fortschritts voran? Bezeichnenderweise bleibt das Zentrum des Modells bei Deardorff leer. Zudem muss man feststellen, dass persönliche Lernwege nicht in einem abstrakten, immer auf Allgemeingültigkeit ausgerichteten Modell dargestellt werden können. Allerdings versucht die vorliegende Untersuchung genau das. Die weitere empirische Forschung steht vor der Aufgabe, die Lernprozesse, die Deardorff durch Pfeile und Spiralbewegung nonverbal angedeutet, inhaltlich zu konkretisieren. Deshalb muss spezifisches individuelles Lernverhalten untersucht werden und anstatt sich weiterhin breit aufzustellen, gezielter qualitativ gearbeitet werden. Zum jetzigen Zeitpunkt können mit dem Modell keine individuellen Unterschiede erfasst, abgebildet oder analysiert werden.
Nach Rathje wird eine engere Definition von interkultureller Kompetenz benötigt. Erst dann könnten andere Kompetenzen, wie beispielsweise die soziale Kompetenz in interkulturellen Situationen umgesetzt werden. Im Gegensatz zu anderen Konzepten wird die interkulturelle Kompetenz von anderen Handlungskompetenzen abgegrenzt. Der Kohäsionsansatz berücksichtigt, dass Kulturen weder in sich homogene Gebilde, noch territorial klar abgrenzbar sind. Rathje spricht sich für einen weiteren Kulturbegriff aus, der im Zeitalter der Globalisierung Widersprüchlichkeiten und Differenzierung innerhalb von Gesellschaften nicht nur berücksichtigt, sondern als Normalität betrachtet.43 Rathje unterscheidet nicht, ob das Individuum sich dieser Normalität bewusst ist. Nicht entscheidend ist auch, ob es sich einzeln in einer interkulturellen Situation befindet oder im Kollektiv innerhalb einer Kultur.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Kohärenz und kohäsionsorientiertes Verständnis von Interkulturalität Quelle. Rathje 2006.
Jede interkulturelle Begegnung beginnt mit einer Erfahrung von Fremdheit, die durch interkulturelle Kompetenz nicht als fremd, sondern als bekannt erlebt wird. Statt einer Interkultur bildet sich eine neue gemeinsame Kultur. Jedes Individuum ergänzt diese durch eigene kulturelle Anteile. Um das Herstellen von Kohäsion zu beschreiben, entwickelt Rathje ein Modell, das sie dem „kohärenzorientierten Verständnis von Interkulturalität“ als „kohäsionsorientiert“ gegenüberstellt. Im ersten Modell entsteht Interkulturalität durch die Überschneidung zweier Kulturen. Im zweiten Modell tritt Rathje für ein Konzept der Interkulturalität ein, bei dem Kulturen in großer Zahl produziert werden.44
Ursprünglich ist Kohäsion ein Begriff aus der Naturwissenschaft, der beschreibt, dass zwischen Molekülen eines Körpers ein innerer Zusammenhalt besteht. In der Psychologie beschreibt sie die Summe aller Kräfte, die die Bindung an eine Gruppe von Menschen bewirkt.45 Menschliche Kollektive stützen sich nicht nur auf Gemeinsamkeiten. Kulturimmanente Differenzen werden sogar durch allgemeine Bewusstheit und Akzeptanz zum Bestandteil von Normalität und können kulturkonsolidierend wirken. Nämlich dann, wenn sie zum kollektiven Bewusstsein integral dazugehören.46 Das Modell macht deutlich, dass eine genauere Auseinandersetzung mit den handelnden Individuen wichtig ist, wenn der Erwerb interkultureller Kompetenz erforscht werden soll. Rathjes Modell bringt jedoch wenig Klärung hinsichtlich des Erwerbs interkultureller Kompetenz. Es dient als Basis und Impuls für weitere Forschung.
Für Schnabel ist interkulturelle Kompetenz eine „globale Verhaltensorientierung“. Sie setzt sich aus den Teilkompetenzen personale, soziale und methodische Kompetenz zusammen. Erlernt ein Individuum diese Kompetenzen, beeinflussen sie sein Verhalten innerhalb einer interkulturellen Situation.47 Sein Modell enthält drei Schichten, welche im Kern alle Teilkompetenzen oder „key facets“48 enthalten, die einen unmittelbaren Einfluss auf interkulturelles Verhalten haben. Neben allgemeinen Fähigkeiten (z.B. Lernbereitschaft) und kulturspezifischen Kompetenzen (z.B. Reflexion der eigenen Kultur) fließen auch interkulturelle Aspekte mit ein. Hierzu gehört die Bereitschaft des Fremdsprachenerwerbs und die Nutzung der Fremdsprache. Die zuvor genannten Komponenten können der übergeordneten Dimension zugeordnet werden. Sie werden durch die darüberliegende Schicht dargestellt. Lernen und Kommunikation sind zwei von ihnen. Die äußerste Schicht enthält Charakteristika für die interkulturelle Kompetenz einer Person, zum Beispiel interkulturelle Sensitivität.49 Für die Entwicklung seines Zwiebelmodells führte Schnabel neben einer umfassenden Literaturrecherche auch zahlreiche nicht standardisierte Interviews durch.
Die dargestellten Modelle weisen neben einigen Unterschieden auch viele Gemeinsamkeiten auf. Grundsätzlich fallen zwischen den Modellen keine Widersprüche auf. Es wurden unterschiedliche Versuche unternommen, die Struktur der Teilkompetenzen zu verdeutlichen und in verschiedene Kontexte einzuordnen. Darüber hinaus werden bestimmte Teilkompetenzen wiederholt genannt. Offenheit und Empathie spielen als Bestandteil der Sozialkompetenz modellübergreifend eine große Rolle. In etlichen Experteninterviews überschnitten sich Meinungen, die aussagen, dass Empathie eine wichtige Fähigkeit ist. Finden sich Experten regelmäßig in interkulturellen Situationen wieder, fällt ihre Definition eher intuitiv aus. Sind bestimmte Grundhaltungen vorhanden, sehen es verschiedene Experten als selbstverständlich an, interkulturell argumentieren zu können. In weiteren Interviews wurde die Bedeutung erlernbaren Wissens hervorgehoben. Dieses sei ein unverzichtbarer Bestandteil beim Erwerb interkultureller Kompetenz, da der Entstehung von Missverständnissen vorgebeugt wird.50 Zu Beginn des Jahrtausends wurde eine kon-troverse Debatte über die Begriffsklärung geführt. Auslöser war ein Artikel den Thomas in der Zeitschrift „Erwägen Wissen Ethik“ veröffentlichte.51 Der Anspruch an ein allgemeingültiges Modell ist mittlerweile der Akzeptanz einer Koexistenz zielgruppenorientierter Betrachtungen gewichen.52
In der Wissenschaft wird die Notwenigkeit interkultureller Kompetenz grundsätzlich in Frage gestellt. Eine gut ausgebildete Handlungskompetenz und umfassende kommunikative Fähigkeiten im sozialen Bereich empfinden Experten als ausreichend. Die Reduzierung des Begriffs auf das Aufeinandertreffen von Menschen unterschiedlicher national-ethnischer oder religiöser Herkunft stößt vielerorts auf Kritik. Vermisst wird die Einbeziehung von Begegnungen von Menschen aus mannigfachen lebensweltlichen Zusammenhängen. Dies hätte aber zur Folge, dass jede Interaktion als eine interkulturelle betrachtet werden muss.53 Des Weiteren wird kritisiert, dass der Fokus zu sehr auf die Erwartung von Missverständnissen und schwierigen Situationen gelenkt wird. „Dabei kann es passieren, dass interkulturelle Trainings, das, worauf sie vorbereiten wollen, selbst erzeugen, indem sie Fremdheitserwartungen wecken – auch da, wo solche möglicherweise fehl am Platze sind.“54 Merchil fordert das Nicht-Wissen über andere Menschen anzuerkennen und prägt den Begriff „Kompetenzlosigkeitskompetenz“. Werden die Differenzen anerkannt, kann hier ein interkultureller Prozess stattfinden. Reine Sprachkenntnisse oder kulturelles Wissen sollen aus dem Fokus rücken und sich das Wissen vielmehr am Alltag der Individuen orientieren. Merchil spricht sich für eine eher beobachtende Haltung im professionellen Zusammenhang aus. Interkulturelle Kompetenz darf nicht zu einer professionell eingesetzten Technik reduziert werden.55 Ein allgemeingültiger „Kultur-Knigge“, der Patentrezepte für den Umgang mit Menschen verschiedener Nationen vorgebe wird kritisch hinterfragt.56 Zudem sind Merkmale, die kulturelle Kompetenz kennzeichnen, stark kulturbestimmt. Deutlich wird dies am Beispiel der Konfliktfähigkeit. Die Fähigkeit Konflikte anzusprechen gilt in einigen Kulturen als positiv, während es in anderen Kulturen hingegen als Regelverstoß angesehen wird. In diesem Beispiel werden bereits viele Komponenten interkultureller Kompetenz angesprochen. Sowohl die Haltung (Ambiguitätstoleranz) als auch die Fähigkeiten (Selbstreflexion, Kulturverständnis, Beobachten und Analysieren) werden aufgegriffen. Zudem findet sich ein Hinweis auf die Relativität von Modellen wieder, die einer eigenen kulturellen Prägung unterliegen.
Der Erwerb von interkultureller Kompetenz ist ein komplexes Geschehen, das zur Entwicklung der eigenen Persönlichkeit gehört und lebenslanges Lernen erfordert.57 Das Erreichen interkultureller Kompetenz geschieht in einem Lern und Entwicklungsprozess, der im Rahmen interkultureller Begegnungen und Erfahrungen stattfindet. In den dargestellten Modellen zur interkulturellen Kompetenz werden Grundhaltung und Einstellungen als Basis für den Erwerb dieser Kompetenzen beschrieben. Zu den Grundhaltungen gehören Offenheit, Neugier, Respekt und Ambiguitätstoleranz. Versteht man den Menschen als geschlossenes System, welches aus individuellen Wahrnehmungen besteht, so muss eine bedeutende und positiv belegte Pertubation58 erlebt werden, um Offenheit und Neugier auszulösen. Hierbei ist Fingerspitzengefühl erforderlich, da die Irritation zu einer ängstlichen Abkehr führt. Das System bliebe dann geschlossen und im Extremfall entsteht rassistisches Denken und Handeln. Durch bewussten Kontakt mit Menschen anderer Kulturen kann dieser Prozess angeregt werden. Entscheidet man sich zu diesem Schritt und befasst sich mit dem Erwerb interkultureller Kompetenz, impliziert diese Absicht schon Offenheit und Neugier. Idealerweise ist die Auseinandersetzung mit diesem Thema positiv besetzt und folgt einer echten Überzeugung und nicht nur einem Zeitgeist, der Profitabilität verspricht.59 Diese oberflächliche Variabilität würde verhindern, dass tiefere emotional und biografisch begründete Muster verändert werden und eine offene Grundhaltung entsteht. Erkennt man darüber hinaus, dass die eigene Wahrnehmung begrenzt und subjektiv ist, können Respekt und Toleranz wachsen, da die eigene Wirklichkeit nicht als einzig wahre betrachtet wird.60 Man erkennt die Wirklichkeit der Anderen an, auch wenn man sie nicht vollkommen versteht oder nachvollziehen kann. An dieser Stelle wird die Ambiguitätstoleranz bedeutsam, die ermöglicht, dass verschiedene Deutungsmuster nebeneinander bestehen können, selbst bei Widersprüchen oder inneren Widerständen, die es gilt auszuhalten. Gerät man in eine solche Situation, kann die von Arnold entwickelte „Stop&Think-Schleife“, durch das Innehalten, Beobachten und Kontrollieren der eigenen emotionalen Reaktion hilfreich sein. Das Innehalten schwächt den stark emotional gefärbten Zustand ab, wodurch es einfacher wird, Widersprüche auszuhalten. Eine weitere wichtige Komponente in fast jedem Modell ist die Fähigkeit zur kulturellen Selbstreflexion. Eine eigenkulturelle Reflexion ermöglicht ein sensibles Reagieren in interkulturellen Situationen, eventuell unbewusste Vorprägungen sollen auf diese Weise in das Bewusstsein rücken und die Verständigung schlussendlich erleichtern.61 Der reflektive Umgang mit eigenen Deutungsmustern führt zu der Einstellung, „dass immer auch eine andere Sicht der Dinge möglich ist.“62 In einer Begegnung mit Fremden ist es zunächst normal, dass spontan Vorurteile entstehen. Wichtig ist der anschließende Umgang mit diesen Gedanken. In Ruhe muss eine Überprüfung der alten Muster stattfinden. Zu einer angemessenen Reaktion kann es nur kommen, wenn die eigenen Vorurteile reflexiv betrachtet werden. Eine von Emotion geprägte Äußerung weicht einer am Dialog interessierten Haltung. Arnold ist der Meinung, dass jede erste Impression, die ein Mensch hinterlässt, als deplatzierte Klassifikation zu betrachten ist.63 Generell hilft es, sich die eigene Biografie im Hinblick auf den Umgang mit Fremdheitserfahrungen anzusehen, da die Reaktion auf unbekanntes, nicht vertrautes als wichtiger Indikator für interkulturelle Kompetenz gilt.64 Eine Pertubation in Form von Faszination und Anregung kann durch Fremdheit ausgelöst werden. Als Produkt der Pertubation können die Grundhaltungen Offenheit und Neugier stehen.
[...]
1 Vgl. UNO Flüchtlingshilfe 2018, Abs. 1
2 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, 2017, S. 5
3 Vgl. Braun & Nobis, 2010, S. 13
4 Zur Verbesserung der Lesbarkeit werden in dieser Arbeit Personenbezeichnungen in der männlichen Form verwendet; gemeint sind dabei in allen Fällen Frauen und Männer.
5 Vgl. Blecking, 2005, S. 16f.
6 Vgl. Erdmann, 2005, S. 49f.
7 Vgl. Rothlauf, 2006, S. 4ff.
8 A.a.O., S. 3
9 Vgl. Boecker, 2008, S. 4
10 Bock, 1994, S. 580
11 Adler, 1997, S. 76
12 Vgl. Derboven & Kumbruck, 2009, S. 13
13 A.a.O., S. 14
14 Vgl. Gessmann, 2009, S. 415
15 Vgl. Bolten, 2012, S. 23f.
16 Vgl. Thomas, 2003b, S. 21ff.
17 Vgl. Roth & Köck, 2011, S. 19f.
18 A.a.O., S. 8
19 Vgl. Smith, 2013, S. 27
20 Vgl. Roth & Köck, 2011, S. 7
21 Vgl. Gieß-Stüber, 2005, S. 67
22 Bolten, 2012, S. 117
23 Vgl. A.a.O., S. 39
24 Vgl. Guttack, 2015, S. 18
25 Vgl. Bolten, 2012, S. 130
26 Vgl. Welsch, 2011, S. 294
27 Guttack, 2015, S. 20
28 Vgl. A.a.O., S.194ff.
29 Derboven & Kumbruck 2009, S. 6
30 Tendenz eines Individuums […], mehrdeutige Situationen nicht als Bedrohung wahrzunehmen, sondern gleichzeitig negative und positive Aspekte ertragen zu können. (vgl. Graeff, 2012, S.5)
31 „Empathie bezeichnet die Fähigkeit, sich in die Denkweise und Gefühle anderer versetzen zu können“ (Roth & Köck, 2011, S. 58)
32 Hiller, 2010, S. 46
33 Vgl. Müller & Gelbrich, 2015, S. 548ff.
34 Deardorff, 2015, S. 219
35 Bolten, 2012, S. 118
36 Bolten, 2012, S. 165
37 Thomas, 2013b, S. 163
38 Vgl. Deardorff 2006a, S. 254
39 Vgl. Brase, 2018, S. 12
40 Vgl. Deardorff, 2006b, S. 17ff.
41 Vgl. Deardorff, 2006a, S. 257
42 Vgl. Boecker, 2006, S. 7
43 Vgl. Rathje, 2013, S. 52ff.
44 Vgl. Guttack, 2015, S. 77
45 Vgl. Festinger, Schachter & Back, 1950, S. 164
46 Vgl. Guttack, 2015, S. 24f.
47 Vgl. Schnabel, 2015, S. 93f.
48 Schnabel, 2015, S. 38
49 Vgl. A.a.O., S. 36ff.
50 Vgl. Brase, 2018, S. 14f.
51 Vgl. Thomas, 2003a, S. 137-150
52 Vgl. Bolten, 2016, S. 23f.
53 Vgl. Rathje, 2013, S. 50
54 Smith, 2013, S. 25
55 Vgl. Merchil, 2013, S. 24ff.
56 Vgl. Bolten, 2012, S. 46
57 Vgl. Boecker, 2008, S. 8
58 Müller-Comichau bezeichnet Pertubation als „konstruktive Irritation“
59 Vgl. De Haan & Rückler, 2009, S. 181
60 Vgl. Arnold & Siebert, 1999, S. 119
61 Vgl. Thomas, 2013, S.155
62 Mall, 2014, S.42
63 Vgl. Arnold, 2012, S. 31
64 Vgl. Bolten, 2012, S. 77
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