Bachelorarbeit, 2019
43 Seiten, Note: 1,3
l. EINLEITUNG
2. DEFINITION RITUAL
2.1 Merkmale und Funktionen von Ritualen
2.2 ABGRENZUNG ZU ROUTINEN UND GEWOHNHEITEN
3. RITUALE IM SPORT
3.1 Aberglaubische Rituale
3.2 Nicht aberglaubische Rituale im Sport
3.2.1 KOGNIZIERTE KONTROLLE
3.2.2 SELBSTWIRKSAMKEIT
3.2.3 MACHT DEMONSTRIERENDE RITUALE
3.2.4 JUBELRITUALE
3.2.5 MENTALE VORBEREITUNGSRITUALE
3.2.6 Das Ritual als Performance
3.2.7 ZUSCHAUERRITUALE
3.3 PERSONLICHKEITS- UND SlTUATIONSEIGENSCHAFTEN
4. MERKMALE UND FUNKTIONEN VON RITUALEN IM SPORT
4.1 Die Funktion des magischen Denkens
4.2 Abwehr- und Sicherungsmechanismus
4.3 Motivations- und Konzentrationsfaktor
4.4 KARTHARSISFUNKTION
4.5 Rituale zur performativen Bildung von Gemeinschaften
5. DAS RITUAL ALS PERFORMATIVE HANDLUNG MIT AUFFUHRUNGSCHARAKTER
6. ANALYSE ZU RITUELLEN AUFFUHRUNGEN BEI PER FRAUENWELTMEISTERSCHAFT
7. FAZIT
LITERATURVERZEICHNIS
ANHANG:
Viele Menschen haben eins, doch die wenigsten Menschen sprechen daruber. Viele Menschen besitzen es schon seit der Kindheit, andere wissen gar nicht, dass sie eins besitzen. Die Rede ist von Ritualen. Vermutlich hat nahezujeder Mensch in seinem Leben schon mal Erfahrungen mit einem Ritual gemacht und die meisten haben dazu eine bestimmte Einstellung. Nichtjeder Mensch glaubt an Rituale und noch andere fmden sie gar sinnlos. Trotzdem gibt es zahlreiche Menschen, die an die Magie von Ritualen glauben und des- halb vor dem Schlafengehen beten, einen Glucksbringer bei einem Wettkampf mitfuhren oder das Amen in der Kirche sprechen.
Beim Anschauen von sportlichen Wettkampfen fallt den aufmerksamen Beobachtern auf, dass sich Sportler_innen oftmals ganz individuell auf die anstehenden Herausforderungen vorbereiten. Dabei sind Rituale im Sport so verschieden wie die Sportler_innen selbst. Der Tennis Spieler Rafael Nadal hat vorjedem seiner Aufschlage einen ganz bestimmten Handlungsablauf, den er bei jedem seiner Turnierteilnahmen wiederholt. Dabei zupft er sich zunachst vor seinem Aufschlag an seiner Hose, an seinem T-Shirt, an der linken Schulter und an der rechten Schulter. AnschlieBend beruhrt er seine Nase, das linke Ohr, wieder die Nase und schlieBlich das rechte Ohr, bevor er den Ball funfmal auftippt und zum Aufschlag ansetzt (s. Anlage 3).
Der Golfer Tiger Woods trug an Finaltagen eines Turniers immer ein rotes Shirt, weil ihm seine Mutter mal gesagt hat, dass ihm die Farbe Rot Energie verleiht (s. Anlage 4). Der ehemalige deutsche FuBballnationalspieler Bastian Schweinsteiger feuchtet sich vor einem Spiel immer seine Schuhe und Socken an, weil er davon ausgeht, dadurch ein bes- seres Ballgefuhl zu haben. All diese Sportier gehoren oder gehorten in ihrer Sportart zu den Besten undjeder hat ein gewisses Ritual, dass aus unterschiedlichen Grunden immer wieder ausgeubt wird oder wurde. Ein Ritual, dass fur die Zuschauer, wie das Beispiel Tiger Woods zeigt, zu sehen ist oder, wie beim Beispiel von Bastian Schweinsteiger, nicht ersichtlich ist. Die rituellen Handlungen zeigen die groBe Bandbreite von Ritualen im Sport, die sowohl von normalen, als auch sehr skurrilen Handlungen gepragt ist. Sol- che und ahnliche Rituale sieht man bei Athleten_innen sehr haufig. Sie treten ganz individuell in Einzel- und Mannschaftssportarten auf.
Diejeweiligen Sportler_innen verleihen ihrem Ritual eine besondere Bedeutung und sehen dessen Ausfuhrung, als wirksam an. Michael Ballack, der ehemalige Kapitan der deutschen Nationalmannschaft, sagte in einer Pressekonferenz wahrend der Europameis- terschaft 2008: „Rituale habe ich nicht - bis auf Sachen, die man immer wieder gleich macht“, und sorgte damit bei den Zuhorern fur Gelachter. Sind seiner Meinung nach etwa Dinge, die man immer wieder gleich macht, keine Rituale? Wann wird dann eine regel- maBige Handlung zu einem Ritual, und was uberhaupt zeichnet ein Ritual aus? Wie lasst sich auBerdem die groBe Bedeutung von Ritualen fur Sportler_innen und Mannschaften erklaren? Ob und inwieweit ein Ritual Auswirkungen auf das sportliche Handeln hat und worin uberhaupt die Unterschiede zu einer Gewohnheit liegen, wird unter anderem Ziel in dieser Arbeit sein.
Um diese und weitere Unklarheiten zu hinterfragen, gilt es zunachst herauszufinden, wie ein Ritual uberhaupt definiert wird, um darauf aufbauend herauszufinden, wie es zur Entstehung eines Rituals kommt. Vorangestellt sei schon mal die Tatsache, dass es heutzu- tage viele verschiedene Theorien zum Ritualbegriff gibt.
Im weiteren Verlauf werden verschiedene Ritualtypen- und arten im Sport erlautert, die unter anderem aufzeigen sollen, warum Sportler_innen immer wieder das gleiche Ritual vor einem Wettkampf ausfuhren. Dabei wird deutlich werden, dass sowohl aberglaubi- sche Rituale, als auch nicht aberglaubische Rituale im Sport auftauchen. Vor diesem Hin- tergrund wird anhand der Frauenweltmeisterschaft 2019 verdeutlicht, welche rituellen Auffuhrungen beim FuBball auftreten konnen und welche Auswirkungen die Rituale auf die Sportlerinnen haben. Im Anschluss widmet sich die Arbeit den negativen Auswirkungen von Ritualen, um dabei auch die Frage zu klaren, was passiert, wenn Sportler_innen ihr Ritual nicht ausgefuhrt haben, weil sie zum Beispiel keine Zeit dafur hatten oder es schlichtweg vergessen haben. Mit Hilfe einer kurzen Zusammenfassung der herausgear- beiteten Erkenntnisse, wird am Ende der Arbeit eine kurzes Fazit erstellt und die genann- ten Fragen schlussendlich beantwortet.
Beim Betrachten der anfanglichen Ritualforschung fallt auf, wie viel die damaligen Ritu- altheorien mit Religion zu tun hatten. In den heutigen Ritualtheorien werden sie kaum noch auf einen religiosen Hintergrund zuruckgefuhrt. Das hat zum einen den Hintergrund, dass die Soziologie und Psychologie als Wissenschaften im 19. Jahrhundert eingefuhrt wurden und zum anderen, die geisteswissenschaftlichen Theorien auf die Antike Anwen- dung fanden. Dies trug zu einem Verstandnis des Rituals, als “etwas, allgemein Menschliches, genauer als etwas, dass in alien Bereichen des kulturellen Lebens zu finden ist”, bei (vgl. Belliger & Krieger, 2013, S.7). Rituale werden oftmals mit religiosen Bereichen in Verbindung gebracht, weil der Begriff zunachst einen sehr engen Bedeutungs- rahmen im Gottesdienst hatte (vgl. ebd., 2013). Erst seit der Jahrhundertwende wurde der Ritualbegriff auch fur nicht-religiose Bereiche, zum Beispiel im Alltag, in der Politik und im Sport verwendet (vgl. Bell, 1992). Rituale gewannen an Bedeutung, weil sie durch ihre spezifischen Rahmungen ein auBeralltagliches Ereignis widerspiegeln und somit einen Kontrast zum Alltag herstellen (vgl. Wulf etal.,2013).
Jan Platvoet sieht das Ritual als ein universelles, verschiedengestaltiges und multifunkti- onales Phanomen an, das mit einer spezifischen Form von menschlicher Interaktion und der Funktion, bestimmte Zwecke zu erfullen, definiert werden kann. Dabei ist es in der Lage, die Aufmerksamkeit seiner Zuschauer zu gewinnen und es als Handlung an einem besonderen Ort und zu einer besonderen Zeit, zu einem besonderen Anlass mit einer Bot- schaft, wahrzunehmen (vgl. Belliger & Krieger, 2013).
Es sind Ereignisse, die immer wiederkehren und einen entscheidenden Teil im Leben ausmachen konnen(vgl. Frey, 2018).Verhaltensweisen, die zu bestimmten Anlassen stattfinden und eine Bedeutung aufweisen, die uber die eigentliche Handlung selbst hin- ausgehen, konnen als Rituale bezeichnet werden. Dabei konnen sowohl einmalige oder auch tagliche Handlungen als Ritual betrachtet werden (vgl. Schindler, 2004).
Wie oft und in welchem Zeitraum die Rituale stattfinden ist ganz individuell. Unterschei- den tun sich die Rituale im Grad ihrer Bewusstheit. Das heiBt, dass Rituale nicht immer bewusst ausgefuhrt werden. Es gibt auch Rituale, die von Personen nur teil bewusst oder unbewusstausgefuhrtwerden(vgl. Turner, 1989).
Heutzutage gibt es kaum noch einen Lebensbereich, in dem es keine Rituale gibt. Viele Kulturen und Sprachen haben ihre Rituale schon seit mehreren tausend Jahren und geben diese auch an die nachfolgenden Generationen weiter. Dennoch verandern sich Rituale auch im Laufe ihrer Zeit oder verlieren in derjeweiligen Kultur an Bedeutung und Funktion und werden nicht mehr ausgefuhrt. Aber es gibt auch zeitlose Rituale, wie zum Beispiel das Hochzeits- und Todesritual, dass in vielen Weltreligionen bis heute bestehen blieb. Durch die immer weiter voranschreitende Globalisierung entsteht unter anderem in Deutschland eine Internationalitat aus Migranten und Einwanderem, die ihre Rituale mit- bringen. Dadurch werden gleiche Rituale,je nach Kultur, anders praktiziert und wertge- schatzt (vgl. Frey, 2018). Rituale werden immer auf die gleiche Art und Weise gefeiert und geben somit Stabilitat und Struktur in dem Verhalten von Menschen. In einer Gruppe fuhrt ein Ritual meist zu einem verbesserten Zusammenhalt und wird durch die positive Konnotation noch weiter verstarkt. Die meisten Rituale sind mit einem Aberglauben ver- bunden, der dazu fuhrt, dass die Personen davon ausgehen, einen Beitrag zum Erfolg leisten zu konnen (vgl. ebd., 2018). Frey ist der Meinung, dass die Menschen optimisti- scher, hoffnungsvoller und zuversichtlicher sind, wenn sie aberglaubisch auf ihr Gluck vertrauen. Das fuhrt auch zu besseren Leistungen, weil die eigene Selbstwirksamkeit der Menschen hoher wird (vgl. ebd., 2018). Aufgrund der groBen gestalterischen Vielfaltund der verschiedenen Funktionen innerhalb der Gesellschaft hat die Wissenschaft noch keine eindeutige Definition fur das Ritual gefunden (vgl. Belliger & Krieger, 2013).
Rituale sind in den verschiedensten Lebensbereichen anzutreffen und ubernehmen in der Gesellschaft eine Vielzahl von Funktionen. Sie erschaffen Gemeinschaften und gewahr- leisten einen emotionalen und symbolischen Zusammenhalt. Sie sind in der Lage Gemeinschaften zu bilden, aufrecht zu erhalten und wiederherzustellen. Dadurch wird eine kollektive Identitat geschaffen an der die Beteiligten wahrend des Ritualprozesses teil- nehmen. ,,Ein kollektives Gefuhl kann sich nicht kollektiv ausdrucken, auBer unter der Bedingung der Einhaltung einer bestimmten Ordnung, welche Kooperation und gemein- sam ausgefuhrte Bewegungen erlaubt, Bewegungen, die dazu tendieren, rhythmisch und regelmaBig zu sein“ (vgl. Collins, 1985, S.182). Die Rituale bilden einen sicheren und einheitlichen Ablauf mit genauem Anfang und Ende. Die damit verbundenen, immer wieder ablaufenden Techniken und Praktiken, machen das Ritual zu einem Prozess, der durch Wiederholbarkeit und Kontrolle charakterisiert werden kann. Die Gemeinschaften zeich- nen sich dabei durch gemeinsame ritualisierte Interaktions- und Kommunikationsformen aus, mit denen sie das symbolische Wissen der Gemeinschaft inszenieren.
Daruber hinaus gewahrleisten Rituale eine Ordnung mit einer bestimmten Aufgabenver- teilung und Planung, wodurch gleichzeitig auch eine Einordnung, Anpassung und Unter- druckung bei den Beteiligten ermoglicht wird. Als Ordnungsmacht schaffen Rituale eine besondere Form der Realitat. Dabei geht es nicht um die Darstellung von Wahrheit, son- dern vielmehr um die richtige und ordentliche Handlung, sprich, die Richtigkeit gemein- samen Handelns steht im Vordergrund. Es wird versucht, das Symbolische der Situation durch bestimmte Regeln, die durch das Ritual festgelegt werden, entschlusseln zu kon- nen. Die dabei entstehende Ordnung der Handelnden ist fur alle Teilnehmer_innen ver- bindlich, und liefert einen Geltungsanspruch fur alle am Ritual Beteiligten (vgl. Wulf et al.,2013).
Liegt dieser gemeinsamen Ordnung ein struktureller Fehler zugrunde, werden Rituale auch als Einordnungs- und AnpassungsmaBnahme verwendet. Denn rituelles Handeln er- folgt nach praktischen Regeln und praktischem Wissen von RegelmaBigkeiten.
Die gultige Ordnung soil durch Wiederholungen der rituellen Handlungen bestatigt und dauerhaft festgelegt werden. ,,Die Zeit des Rituals ist die gemeinsame Anwesenheit der Angehorigen in einer Gemeinschaft, deren Zeit durch das Ritual selbst noch einmal zeit- lich sequenziert wird“ (vgl. Wulf, 1999, S. 112 f.). Sich immer wiederholende Strukturen der rituellen Prozesse kennzeichnen eine Dauerhaftigkeit und Unveranderbarkeit, weil die Rituale durch nachahmende Prozesse in die Korper der Teilnehmer_innen eindringen. Sobaid die Ritualteilnehmer_innen die gleichen Handlungen ausfuhren, wird die Realitat menschlicher Gemeinschaft erschaffen und eine kollektive Erfahrung entsteht (vgl. Belliger & Krieger, 2013). Die mimetische Basis sichert dem rituellen Prozess ihre Lang- lebigkeit und Stabilitat. Eventuell aufkommende, spontane Regelbruche zerstoren die rituellen Prozesse weniger, als dass dadurch erst recht die Macht der rituellen Regeln zum Vorschein kommt.
Ein Ritual kann auch als Identifikationsprozess fungieren bei dem die Identitat eines bis- herigen Mitglieds zum Beispiel neu definiert oder ein neues Mitglied aufgenommen wird. Man spricht dabei von einem Identifikationsprozess, weil ein raumlicher, zeitlicher oder sozialer Ubergang vollzogen wird und die Rolle der Beteiligten in der vorherrschenden, rituellen Ordnung erst festgelegt werden muss. Zusatzlich konnen Rituale Bestandteile von sozialen und kulturellen Prozessen sein. In solchen expliziten Instituierungsritualen geht es um die Frage, ob und inwiefern man in einem rituellen Geschehen beteiligt ist und inwieweit man als Ritualteilnehmer_in zugelassen wird. In solchen rituellen Handlungen werden Rollen- und Machtzuschreibungen vollzogen und somit eine neue Ordnung festgelegt. Diese Identifikationsarbeit, die in den Ritualen vollzogen wird, beruht uberwiegend aufErziehung und Sozialisation (vgl. Wulf et al., 2013).
AuBerdem konnen Rituale gedachtnisstiftend sein, weil sie den Teilnehmern einen zeitli- chen Zusammenhang sicherstellen, der Kontinuitat schafft und zukunftsorientiert wirkt. Dadurch soil die Prasenz einer Gemeinschaft immer wieder sichergestellt werden. Diese rituellen Inszenierungen, die das soziale Gedachtnis der Menschen konstruieren, sorgen dafur, dass die Vergangenheit in die Gegenwart gebracht wird und sowohl in der Gegen- wart, als auch in der Zukunft erkenntlich wird (vgl. ebd., 2013). Das hat auch zur Folge, dass sich in die Wiederholungen der Rituale Veranderungen der Zeit einschleichen und eine Weiterentwicklung des Rituals stattfindet. In die mimetischen Prozesse flieBt somit immer die Kreativitat der Zeit mit ein.
Viele Rituale sind auch dazu da, eine Krise zu bewaltigen. So wirkt das Ritual in gewisser Form heilend, weil es schmerzhafte Erfahrungen hervorrufen kann und daruber hinaus Antworten gibt auf die Fragen von Leben und Tod. Oftmals bedienen sich Gemeinschaf- ten rituellen Handlungen, um Krisensituationen zu uberstehen. Die Rituale geben dann Sicherheit, weil sie einen festen Ablauf haben und dem Leben Ordnung verleihen. Das Ritual ubernimmt die Aufgabe,jedem Einzelnen innerhalb der Gemeinschaft ein Gefuhl von Starke und Kraft zu geben und gegen Bedrohungen vorzugehen. Die Gruppenmit- glieder sind durch die gemeinsamen rituellen Handlungen miteinander verbunden und generieren ein gewisses Kraftpotential, das die Einzelnen zu einer Gruppe zusammen- schlieBt und solidarisiert (vgl. ebd., 2013).
Rituale ermoglichen auch eine Kommunikation mit dem Heiligen. Die mit dem Ritual entfalteten, nachahmenden und performativen Krafte sollen nicht nur auf den eigenen Korper, sondem auch auf die AuBenwelt wirken. Das Heilige des Rituals kann, als eine spezifische Form von einer ubersinnlichen Wirksamkeit und Macht verstanden werden. Diese Form bezieht sich dabei unter anderem auf Gegenstande, Handlungen, Menschen und Gemeinschaften. Der rituelle Bezug zum Heiligen ubernimmt dabei die Funktion der Regulation und Gestaltung fur die Integration, die Abgrenzung und den Austausch der Gemeinschaft. Jedes Ritual lebt von dem Glauben an das Heilige der Gemeinschaft und dieser Glaube vermittelt Sicherheit und Vertrautheit. Das wiederholte Auffuhren von Ri- tualen soil diese Sicherheit starken. Rituale generieren aber auch Bruche, Schwellen und Rahmen im Sozialen, um sie dann gegebenenfalls aufzuheben. Das Ziel von Ritualen ist es dabei, die Integration frei nach dem Motto ,,von alien fur alle“ zu vollziehen. Die Gemeinschaft erzeugt und bestatigt sich dabei durch rituelle Inszenierungsformen, wie kor- perliche und sprachliche Praktiken, als auch raumliche und zeitliche Rahmungen (vgl. ebd., 2013).
Die genannten Ritualeigenschaften verleihen einem Ritual zum einen die Funktionen der Emotionsregulation und zum anderen der Identitatsbildung. Die Emotionsregulation eines Rituals soil das Gefuhl von Angst und Stress minimieren und ein Gefuhl von Si- cherheit und Ordnung schaffen. Hierbei steht also die geordnete und strukturierte rituelle Realitat im Kontrast zur ungeordneten und chaotischen nicht rituellen Realitat. Die Iden- titatsbildung eines Rituals sorgt fur die Transformationen von Personen, ihrer Rollen und Identitaten. Es finden Identitatsprozesse durch die erhohte Reflexionsfahigkeit statt, die zugleich Anlass zum Nachdenken und zur Bildung neuer Identifikationen beitragen. Beide Ritualfunktionen sind enorm bedeutend fur die Entwicklungsaufgaben der Teil- nehmer_innen (vgl. Demmrich, 2016).
Ein Ritual eindeutig als solches zu identifizieren ist schwierig. Vor dem Hintergrund der Performativitat, die fur das Ritual kennzeichnend ist, sind zwei weitere Merkmale von Bedeutung. Zum einen zieht ein Ritual eine Grenze zwischen dem Alltag und auBerall- taglichen Handlungen, wie zum Beispiel eine Sportveranstaltung. Zum anderen besitzt es eine gewisse Formalitat. Rituale haben gewisse AuBerungen und Handlungen, die in einer relativ konstanten Reihenfolge stattfinden, mit genauem Anfang und Ende.
Dieser Formalismus muss von den Teilnehmern bewahrt werden und trennt das Ritual von zweckrationalen Handlungen (vgl. Rohlwing, 2015). Haufigwerden die Worter Routine und Ritual im sportlichen Bereich synonym verwendet. Die Unterscheidung ist meis- tens nicht ganz klar, da keine klare Linie zwischen den Handlungen getroffen werden kann (vgl. Vyse, 1997). Rituale haben aber, im Gegensatz zu Routinen, eine besondere magische Bedeutung fur die Sportler_innen und beinhalten aberglaubische Elemente, die keinen kausalen Einfluss auf die sportliche Leistungsfahigkeit haben. Dennoch haben Rituale einen Einfluss auf die mentale Vorbereitung und in diesem Sinne einen nutzlichen und sinnvollen Zweck fur die Sportler_innen (vgl. Neil, 1980).
Routinen hingegen sind flexibel und beinhalten nur Handlungen, die einen nachweisli- chen Erfolg bringen. Taylor und Wilson (2005) entwickelten die These: “Whereas rituals often control athletes, athletes always control their routines” (ebd. S. 145). Demnach werden die Athleten_innen immer von ihren Ritualen kontrolliert, aber die Athleten_innen haben immer die Kontrolle uber ihre Routinen. Das Beispiel eines Torwartes macht dies deutlich. Der Torwart glaubt es bringe ihm Gluck, wenn er sein Trikot, mit dem er das letzte Spiel gewonnen hat, nicht wascht und beim nachsten Spiel erneut anzieht. Logisch betrachtet hat das ungewaschene Trikot naturlich keinen Einfluss auf die Fahigkeiten des Torhuters. Allein der Glaube an das Ritual lasst den Torhuter das ungewaschene Trikot beim nachsten Spiel anziehen. Im Gegensatz dazu hat ein anderer Torwart die Routine, sich vor dem Spiel immer warm zu laufen und Schusse auf sein Tor zu bekommen. Das gibt ihm Sicherheit fur die Paraden im Spiel. Die Routine ist also vielmehr zielgerichtet auf seine sportliche Leistung, weil unter anderem die Muskeln aufgewarmt werden (vgl. ebd., 2005).
Das Ritual kann ebenfalls von dem Begriff Gewohnheit abgegrenzt werden, auch wenn die Grenzen meistens nicht eindeutig gezogen werden konnen und miteinander ver- schwimmen. Rituale sind wie Gewohnheiten eine Verhaltensweise, die durch einen gere- gelten und wiederholbaren Ablauf charakterisiert sind. Durch diesen formell strukturier- ten Ablaufplan ordnen sie zum Beispiel unseren Tages- oder Jahresablauf. Jedoch ist das Ritual, im Vergleich zur Gewohnheit, auch kontrastschaffend und somit zeitlich, raum- lich und bedeutungsmaBig von der Gewohnheit abgesondert zu betrachten.
Das Ritual wird als viel bedeutsamer und machtiger wahrgenommen, weil es fur die Person einen personlichen Sinn mit emotionaler Bedeutung einnimmt (vgl. Platvoet, 1995). Das Ritual erfahrt eine viel hohere Aufmerksamkeit als die Gewohnheit, da sie nur zweckmaBig und ohne tiefere Bedeutung fur die Person ausgefuhrt wird. Das automati- sche Ausfuhren der Gewohnheit ist dabei praktisch ausgerichtet und sorgt bei der Person meistens dafur, dass sie weniger Krafteinsatz in Anspruch nehmen muss als bei vergleich- baren Handlungen. So kann zum Beispiel das Heilige Abendmahl als rituelle Handlung angesehen werden. Es wird in einer groBen Gemeinschaft zu einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Anlass durchgefuhrt. Der rituelle Rahmen macht das Heilige Abendmahl besonders und grenzt es von einem normalen Abendessen ab. Ein Ritual grenzt sich besonders in der bedeutungsmaBigen Signifikanz von einer Gewohnheit ab. Bei der Un- terscheidung sollte deshalb hinterfragt werden, wie die Person eine Handlung ausfuhrt und nicht was sie ausfuhrt. Dadurch kann ein Ritual auch zu einer Gewohnheit werden und eine Gewohnheit zu einem Ritual (vgl. Ambos & Weinhold, 2013).
Der Spitzensport ist ein Schauplatz fur Rituale. In nahezu jeder Sportart gibt es Athle- ten_innen, die ein Ritual ausfuhren. Dabei ist die Vielfalt an Ritualen so unterschiedlich wie die Sportler_innen selbst. Rituale werden sowohl in Individualsportarten, als auch in Mannschaftssportarten durchgefuhrt. Aus einer Studie von Schippers und Von Lange (2006) geht hervor, dass in den Sportarten FuBball, Hockey und Volleyball etwa 80% der befragten Profisportler_innen regelmaBig ein aberglaubisches Ritual ausfuhren. Das ent- spricht etwa zwei bis drei aberglaubischen Handlungen pro Wettkampf. Die am haufigs- ten ausgefuhrten Rituale waren in der Studie, das Essen bestimmter Lebensmittel und spezifische Entspannungstechniken direkt vor dem Wettkampf. Viele Athleten_innen tra- gen auch spezielle Kleidung unter dem Trikot. Beim Betrachten der drei Sportarten sahen die Forscher auch aberglaubische Gesten, wie zum Beispiel das Betreten des Spielfelds in einer bestimmten Reihenfolge, das Kreuzigen vor dem Spielbeginn oder das Kussen des Spielfelds vor dem Wettkampf (vgl. Frey, 2018).
Bei einer Individualsportart sind die Anforderungen an die Sportler_innen anders, als die Anforderungen an ein einzelnes Teammitglied einer Mannschaft. Die Einzelsportler_in- nen sind bei ihren sportlichen Herausforderungen ganz allein fur den Ausgang des Wett- kampfes verantwortlich. Den Druck wollen sie durch Rituale kompensieren. Diese Rituale sind individuell und werden nie im Kollektiv ausgefuhrt. Sie sind von derjeweiligen Person formell-strukturiert und schaffen einen gewissen Kontrast (vgl. Demmrich, 2016).
Aufgrund der hohen Unberechenbarkeit in den meisten Sportarten und der gleichzeitig hohen Motivation der Sportler_innen immer zu gewinnen, ist es nicht verwunderlich, dass sie alles versuchen, um die Wahrscheinlichkeit des Wettkampferfolges zu erhohen. Leis- tungssportler_innen, die ihre Leistung normalerweise bis ins kleinste Detail wissenschaft- lich analysieren, vertrauen in den bedeutenden Wettkampfen ihren Glucksbringern und Ritualen. Dabei greifen sie haufig auch auf Handlungen zuruck, die fur AuBenstehende als sinnlos und negativ betrachteten werden.
Der ehemalige deutsche Schwimmer Mark Warnecke schwamm bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta nicht mit einem technisch verbesserten Badeanzug, sondern griff auf seine alte Badehose zuruck. Seine Begrundung hierfur war, dass er an seiner Bade- hose ein Hosenband hat, in der er immer vor dem Wettkampf einen Knoten reinmacht. Die psychische Belastung, die in ihm entstehen wurde, wenn er dieses Ritual nicht mehr praktizieren konnte, brachte ihm schlieBlich zu dem Entschluss, seine alte Badehose anzubehalten, entgegen vieler Meinungen, dass diese nicht mit den neuesten Badeanzu- gen mithalten konne (vgl. Vyse, 1999).
Weitere Sportier, wie die FuBballer Jerome Boateng und Mesut Ozil, sprechen kurz vor dem Anpfiff ein kurzes Gebet in den Himmel. Meistens ist dieser Aberglaube in der Gesellschaft negativ behaftet, weil er als nicht richtig und nicht allgemeingultig angesehen wird. Dennoch hat er fur viele Menschen eine positive Wirkung, weil er unter anderem Hoffnung und Zuversicht spenden kann (vgl. Frey, 2018).
In nahezu jeder Sportart findet man Sportler_innen, die aberglaubisch sind. Dabei sind der Aberglaube und die aberglaubischen Rituale je nach Land, Kultur und Religion un- terschiedlich. Dahinter verbirgt sich grundsatzlich der Wunsch, Unbekanntes und Bedro- hungen zu vermeiden und Gluck herbeizufuhren. Der Aberglaube setzt sich also von den technischen Leistungen und Vorbereitungen ab und soil eine Komponente abdecken, die die Sportler_innen selbst nicht beeinflussen konnen. Dazu gehoren Gluck und andere au- Bere Faktoren, wie zum Beispiel externe Bewertungen eines Turnierrichters. Deshalb tritt aberglaubisches Denken auch meist in den Situationen auf, in denen die Sportler_innen ein unsicheres Gefuhl haben und daruber hinaus psychologischen Stress und Kontrollver- lust spuren (vgl. Keinan, 1994; Malinowski, 1954; Whitson & Galinsky, 2008). Fuhrt der Aberglaube zum Erfolg der Sportler_innen, wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit dafur verantwortlich gemacht und in der nachsten Wettkampfvorbereitung erneut praktiziert, obwohl er in keinem logischen Zusammenhang mit der sportlichen Leistung steht. Aller- dings ist der Aberglaube in der Lage, ein Gefuhl von Sicherheit zu geben und den psy- chischenAnspannungszustandzu regulieren (vgl. Buhrmannet al., 1982; Schippers & Van Lange, 2006). Demnach versuchen Sportler_innen mit ihrem Aberglauben weniger das Endergebnis zu beeinflussen, sondem vielmehr ihren eigenen psychischen Zustand vor dem Wettkampf zu optimieren. Auch wenn es sich bei den meisten aberglaubischen Ritualen um ganz individuelle Hintergrunde handelt, sind in der Welt des Sports auch Mannschafts- und Gruppenrituale vorzufinden.
Bei der Untersuchung an einem kanadischen College fanden Jane Gregory und Brian Petrie heraus, dass Sportler_innen in Mannschaftsportarten aberglaubischer sind, als Sport- ler_innen in den Einzeldisziplinen. Als Grund gaben sie die Weitergabe der magischen Vorstellung innerhalb der Mannschaft an, die durch Gruppenrituale in der Mannschaft, weiter verstarkt werden. Sobaid ein neues Teammitglied sich der Mannschaft anschlieBt, muss das Ritual neu erlernt werden. In mimetischen Prozessen wird dann unter anderem der Zeitpunkt des Rituals vermittelt. Das Gruppenritual zielt dabei auf den Erfolg der Mannschaft ab, denn alle Spieler_innen sind gleichermaben daran beteiligtund versuchen den Ausgang eines Wettkampfs durch das Ritual positiv zu beeinflussen (vgl. Vyse, 1999).
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