Magisterarbeit, 2015
110 Seiten, Note: 1,0
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Problematik und Begriffsbestimmung des Untersuchungsgegenstandes
2.1 Einordnung des Substandards ins Sprachsystem
2.1.1 Die russische Standardsprache
2.1.2 „Literaturnyj jazyk“ und „ Razgovornaja Re č‘“
2.2 Substandardsprachliche Varietäten
2.2.1 Prostorečie
2.2.2 Jargon
2.2.3 Argot
2.2.4 Slang
3 Entwicklung und Lexik des Substandards
3.1 Übergang substandardsprachlicher Lexik in die Gemeinsprache
3.1.1 Gründe für den Übergang in die Gemeinsprache
3.1.2 Substandardsprachliche Lexik in Gesellschaft und Medien
3.1.3 Gebrauch und Funktionen
3.2 Erfassung des Wortschatzes
3.3 Schichtung und Besonderheiten des Slangs
3.3.1 Thematische Gruppen
3.3.2 Besonderheiten der wortbildenden und semantischen Prozesse
3.3.3 Entlehnungen
3.4 Wörterbücher des Substandards
3.4.1 Schwierigkeiten der einsprachigen Lexikographie
3.4.2 Schwierigkeiten der zweisprachigen Lexikographie
4 Substandardsprachliche Lexik als Übersetzungsproblem
4.1 Übersetzung als Problem
4.1.1 Substandard als kulturelles Phänomen
4.1.2 Substandard als Kulturspezifikum
4.1.3 Übersetzung als Kulturtransfer
4.2 Übersetzungsverfahren
4.2.1 „Einbürgernde“ vs. „verfremdende“ Methode
4.2.2 Varietätenarchitektur historischer Sprachen
4.3 Äquivalenzbeziehung in der Lexik
4.3.1 Äquivalenz-Herrstellung nach Koller
4.3.2 Invarianzforderung
4.4 Übersetzung substandardsprachlicher Lexik in der Literatur
4.4.1 Verschiedene Entsprechungsarten
4.4.2 Beibehaltung der Funktionen des Substandards in der Übersetzung
5 Film als besonderes Medium der Kultur
5.1 Film und Kulturtranfer
5.1.1 Das Medium Film und der Substandard im Film
5.1.2 Funktionen des Substandards im Film und das Problem ihrer Übersetzung
5.2 Synchronisation
5.2.1 Schwierigkeiten und Möglichkeiten bei der Synchronisation
5.2.2 Der russische Film in Deutschland
6 Analyse der substandardsprachlichen Lexik im Film „Brat“ und ihrer deutschen Übersetzung
6.1 Zur Handlung des Films
6.1.1 Charaktere
6.1.2 Verwendung und Funktion der substandardsprachlichen Lexik
6.2 Analyse anhand ausgewählter Lexeme
6.2.1 Kriminelle Welt
6.2.2 Business / Geld
6.2.3 Trunkenheit / Alkoholismus
6.2.4 Drogenwelt
6.2.5 Armee
6.2.6 Unterhaltung
6.2.7 Zwischenmenschliches Verhältnis
6.2.8 Der Mensch und die Welt um ihn herum
6.2.9 Wertungen
6.3 Auswertung
7 Zusammenfassung und Fazit
8 Literaturverzeichnis
Anhang: Film Brat
Das Anliegen dieser Magisterarbeit ist es, die russische substandardsprachliche Lexik zu untersuchen und anhand des Films „Brat“ aus dem Jahr 1997 die Probleme und die Möglichkeiten ihrer Übersetzung ins Deutsche zu analysieren.
Die substandardsprachliche Lexik in all ihren Erscheinungsformen zieht nach wie vor die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich. Die Fülle an in diesem Zusammenhang publizierten Untersuchungen und die Verbreitung substandardsprachlicher Ausdrücke in Massenmedien zeugen von einer Umbruchsstimmung in der russischen Sprache, die mit gesellschaftlichen Veränderungen einhergeht. Auch erscheinen ständig neue Wörterbücher, die sich ausschließlich dem Substandard widmen. Sprachlicher Substandard ist eine Erscheinung, die in allen Sprachen vorkommt. Daher rührt auch das besondere Interesse diesem Phänomen und seiner Übersetzung ins Deutsche auf die Spur zu kommen.
Im ersten Schritt werden die Schwierigkeiten der Terminologie und der Einordnung des Substandards ins russische Sprachsystem vorgenommen. Die Beschreibung der einzelnen Varietäten dient dazu den Substandard mit seinen Funktionen als ein Untersystem in einem übergeordneten System hervorzuheben. Besondere Aufmerksamkeit liegt dabei auf der Varietät Slang, die ins Allgemeinbewusstsein breiterer Bevölkerungsschichten eindringt.
Das dritte Kapitel geht konkret auf die Entwicklung der substandardsprachlichen Lexik ein. Dabei werden die Prozesse und Gründe für den Übergang in die Gemeinsprache benannt. Es kann kaum zielführend sein die substandarssprachliche Lexik zu behandeln, ohne die gesellschaftlichen und historischen Umbrüche der postsowjetischen Zeit, in der auch die Handlung des Films stattfindet, anzusprechen. Die 90er Jahre sind eine Zeit der Umbrüche, Russland steht vor einem Wendepunkt und dies kommt auch in der Sprache zum Ausdruck. Anschließend wird die Schichtung der substandardsprachlichen Lexik und ihre semantischen und wortbildenden Besonderheiten untersucht. Der enorme Zustrom an substandardsprachlicher Lexik erklärt die Herausforderungen in der Lexikographie. Auf diese Schwierigkeiten, da Wörterbücher ein wichtiges Werkzeug bei der Übersetzung sind, wird im Kapitelende eingegangen.
Das vierte Kapitel hat zum Ziel, die Schwierigkeit der Übersetzung darzustellen. Im Vordegrund steht dabei das Problem der nicht normativen Sprache als kulturspezifisches Phänomen. Gezeigt wird, welche Verfahren sich in der Übersetzungswissenschaft durchgesetzt haben.
Im fünften Kapitel wird das Medium Film als Vermittler der Kultur umrissen. Es soll der Unterschied gezeigt werden, inwiefern sich die Literaturübersetzung von einer Filmübersetzung unterscheidet. Die Stellung des russischen Films rundet das fünfte Kapitel ab.
Im sechsten Kapitel findet die Analyse der substandardsprachlichen Wörter und Ausdrücke statt. Die Aufgabe dabei ist es, die einzelnen Lexeme zunächst in Wörterbüchern aufzuspüren. Dabei soll darauf hingewiesen werden, wie und in welchen Wörterbüchern die Lexeme erklärt und markiert sind. Als besonders hilfreich haben sich dabei neben Mokienkos/Walters (2007) deutsch-russischem Wörterbuch des Jargons auch die Onlinewörterbücher und andere Internetquellen erwiesen. Weiterhin wird ihre Wiedergabe in der deutschen Synchronfassung des Films betrachtet.
Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse und einem Fazit ab.
Die Einordnung des Substandards ins Sprachsystem sowie seine Begriffsbestimmung sind in der linguistischen Forschung zwei immer wieder diskutierte Themen. Diese zwei Themengebiete sind nämlich unmittelbar miteinander verbunden. Bevor in diesem Kapitel auf die Definition des Substandards eingegangen werden kann, wird zunächst die Stellung des Substandard im Sprachsystem des Russischen präsentiert. Anschließend werden die einzelnen substandardsprachlichen Varietäten näher beleuchtet.
Während die Substandardforschung in der Romanistik und Germanistik bereits eine längere Tradition erfuhr (vgl. u.a. Holtus/Radtke 1986), war diese in der Russistik eher eine Randerscheinung und erlebte ihre Blütezeit erst nach der Wende (vgl. u.a. Bierich 2000, S. 13; Romanov 2004, S. 9). Das hängt auch damit zusammen, dass sogar die Existenz des Substandards in der Sowjetunion lange Zeit ignoriert wurde, was seine Erforschung erschwerte (vgl. Timroth 1983, S. 102).
Bei der Einordnung des sprachlichen Substandards ins Sprachsystem, ist die Definition der Sprache wichtig. Unter „Sprache“ versteht Ammon (1986) eine Menge von Varietäten, darunter auch den Standard. Die beiden Begriffe Varietät und Sprache liegen somit auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus (vgl. ebd., S. 11). Diese erste grobe Unterscheidung soll hier als Ausgangspunkt für die folgende Einordnung des Substandards in die russische Sprache oder wie Lehmann (2013) es bezeichnet ins Sprachsystem des Russischen sein, denn wie auch andere Sprachen ist das Russische ein System von Sprachen (vgl. ebd., S. 34). Wenn Sprache also als System verstanden wird, muss auch ersichtlich sein aus welchen Teilen sich die Sprache zusammensetzt. Diese Teilsysteme sind als Varietäten zu bezeichnen und sind der Ethnosprache als Oberbegriff für die Sprache einer Nation bzw. Sprechergemeinschaft untergeordnet.1 Substandard kann als eine Varietät der Gemeinsprache erklärt werden.
„Varietäten sind dabei […] sprachliche Existenzformen, die innerhalb einer größeren Sprachgemeinschaft nebeneinander vorkommen, und die linguistisch miteinander verwand sind. Im Verhältnis zu „Dialekt“ und „Standardsprache“ ist „Varietät“ also ein übergeordneter Begriff, der durch gemeinsames Vorkommen in einer Sprachgemeinschaft und durch sprachliche Verwandtschaft zu definieren ist.“ (Mattheier 1980, S. 14).
Ob und inwiefern dabei der Systemcharakter eine Rolle spielt, um als eine in sich geschlossene Varietät zu gelten, kann hier nicht vertieft werden. Denn der Systemstatus ist nicht nur zweitrangig, sondern auch von einigen Varietäten nicht endgültig geklärt (vgl. Bierich 2009, S. 13). Innerhalb der einzelnen Varietäten selbst kommt es wiederum zu Varianzen oder Varianten (vgl. Lehmann 20013, S. 35). Für das Deutsche ist es die Gesamtheit solcher Varietäten wie beispielsweise „die Umgangssprache“, „die Sprache der Politik“, „die Sprache der Mittelschicht“, „die Sprache der Obersachsen“, die die Ethnosprache Deutsch darstellt (ebd., S. 34).
Sowohl der Standard als auch der Substandard stellen also Varietäten unterhalb der Ethnosprache Russisch dar.Von besonderer Relevanz für die nachfolgenden Untersuchungen ist die Grenzziehung zwischen Standard und Substandard. Dabei ist vor Allem wichtig zu entscheiden, nach welchen Kiterien eine Abgrenzung stattfindet und wann es Schwierigkeiten gibt, eine solche zu bestimmen. Es ist daher relevant auf die Merkmale der standardsprachlichen Varietäten einzugehen.
Bereits 1986 hat Ammon eine Anzahl möglicher Definitionen für den Begriff „standardsprachlich“ geliefert und beschreibt als zentrales Kriterium das Merkmal „kodifiziert“ (vgl. ebd., S. 14ff.). Ähnlich dieser Beschreibung ist auch die russische Standardsprache bzw. „ Literaturnyj jazyk“ 2 zu begreifen. Krysins (2007) definiert diese folgendermaßen:
„Литературный язык - это такая разновидность общенародного языка, которая отличается от всех других разновидностей двумя важнейшими свойствами - общепонятностью и нормированостью.“ (ebd., S. 7).
Die russische Literatursprache, die auch Standard- oder Normsprache genannt wird (vgl. u.a. Marszk 1999; Krysin 2007)3, zeichnet sich also durch ihre Normierung und das allgemeine Verstehen aus. Ferner betont Krysin (2007), dass die bewusst gepflegte Norm und das Verständnis aller Mitglieder der Gesellschaft die grundsätzlichen Forderungen der Literatursprache sind (vgl. edb., S. 8). Allerdings erweist sich der Begriff Literatursprache tatsächlich als schwierig, denn schon längst sind in der Literatur substandardsprachliche Varietäten zu finden. So ist bei diesem Begriff viel mehr von der Sprache des Schrifttums zu sprechen. Im Deutschen mit dem Terminus „Hochsprache“ oder „Hochdeutsch“ gleichzusetzen (vgl. Lehmann 2013, S. 37). Es ist jedoch zweckmäßiger im Folgenden von standardsprachlichen Varietäten zu sprechen, die hier mit Standardsprache synonym gebraucht werden. Erstere verdeutlichen, dass diese als eine Varietät oder als eine Existenzform der Sprache neben anderen Varietäten im Varietätensystem fungieren (vgl. Wingender 2013, S. 21; s. a. Abb. 1).
Krysin (2003) definiert „ literaturnyj jazyk “ als
„язык культуры, науки, образования, законотворчества и делопроизводства, как средство общения образованной и культурной часть общества“ (ebd., S. 11).
Problematisch und nicht endgültig geklärt ist die Einordung der russischen Umgangssprache bzw. „ razgovornaja reč‘ “4 im System des Russischen. Diese Begriffe werden in der deutschen Slavistik-Forschung meist synonym verwendet (vgl. Hinrichs 1999; Freunek 2007; vgl. a. Ėnciklopedija Krugosvet). Nach Gladrow (1995), der unter der russische Umgangssprache alle Normabweichungen von der Standardsprache mit einbezieht, wäre RR als eine selbstständige Varietät der russischen Ethnosprache zu klassifizieren und nicht als bloße stilistische Markierungen (vgl. ebd., S. 71). Man kann RR definieren als
„разновидность литературного языка, реализующаяся преимущественно в устной форме в ситуации неподготовленного, непринужденного общения при непосредственном gразговорной речи – повседневная обиходная коммуникация, протекающая в неофициальной обстановке“.5
Es sind also zwei wesentliche Merkmale der RR gennant, nämlich ihre mündliche Realisierung in einer nicht offiziellen Situation. Ihr Platz im System des russischen Standards wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Einen der wichtigsten Forschungen auf diesem Gebiet ist Zemskaja e.a. zuzuschreiben (vgl. Freunek 2007 S. 131f.; vgl. a. Ėnciklopedija Krugosvet). Bei der Kommunikationssituation der Umgangssprache sieht Köster-Thoma den Aspekt der „Ungezwungenheit“ als das wichtige Situationsmerkmal (vgl. Köster-Thoma / Zemskaja 1995, S. 20f).
Die RR wird hier nicht im Sinne einer substandardsprachlichen Varietät, sondern mehr wie auch Köster-Thoma / Zemskaja (1995) sie qualifizieren als eine Einheit des sprachlichen Systems der nicht kodifizierten Standardsprache betrachtet. Auf dieses System wirken sich jedoch die substandardsprachlichen Varietäten aus. Diese Arbeit möchte einen anderen Weg gehen und RR von den substandardspachlichen Varietäten als selbstständiges Teilsystem abspalten. Es erweist sich als schwierig insbesondere auf dem Gebiet der Lexik von Nicht-Kodifierziertheit zu sprechen, denn bei Betrachtung der gängigen Wörtebücher und Grammatika stellt man schnell fest, dass auch auch Lemmata aus dem Substandard aufgenommen werden und als solche markiert werden (vgl. Müller 2013, S 52f.). Die folgende Abbildung verdeutlicht das Sprachsystem der russischen Ethnosprache.
Enthnosprache Russisch
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten6 7
Wenn man RR so wie Gladrow (1995) als eine Varietät verstehen will, die bei ihrer mündlichen Realisierung durch verschieden Varietäten angereichert wird, so ist sie zwischen Standard und Substandard anzusiedeln (s. Abb.1).
Die Definition der einzelnen substandardsprachlichen Varietäten ihre Stellung im Sprachsystem und ihr Verhältnis gegenüber RR erweist sich als kein einfaches Unterfangen und bedarf daher einer konkreten definitorischen Klarstellung, um bei der Benutzung der Termini in dieser Arbeit nicht irregeführt zu werden. In der Literatur zur Substandardforschung ist nämlich genau dies der Fall und es ist schwierig den Überblick zu behalten.
Das oben präsentierte zweistufige Modell der Einteilung in Standard und Substandard, das insbesondere in der Romanistik und der Germanistik als Aufgliederung der Ethnosprache gebraucht wird, reicht nach Meinung von Köster-Thoma (1993) nach nicht aus, um die Vielfalt der russischen Ethnosprache einzufangen. Sie geht einen Schritt weiter und unterteilt die russische Ethnosprache nicht nur in Standard und Substandard, sondern fügt dieser noch den Nonstandard hinzu (vgl. ebd., S. 15). Wie bei den meisten Forschern (vgl. z.B. Köster-Thoma 1993; Bykov/Mengel‘ 1996), die sich des Nonstandards bedienen, wird jedoch die Grenzziehung zum Substandard nicht eindeutig durchgehalten, da auch die Bestimmung des Systemcharakters nicht einheitlich ist (s.o.). Daher bleibt fraglich, inwieweit eine Dreiteilung sinnvoll ist. Diese Arbeit folgt dem zweistufigen Modell, was sich als zweckmäßig erweist.
Wie kann man also den Substandard in Gegenüberstellung zum Standard definieren? Nach Marszk (1999) ist der Substandard demzufolge alles,
„was eine Sprache an Abweichungen, Normverletzungen, Obszönitäten, Chiffrierungen und Tabuisierungen zu bieten hat. Es geht also um das Falsche, das Respektlose, das Schamlose, das Geheime, das Verbotene in einer Sprache. Dabei kann es sich um einzelne Wörter handeln, um Redewendungen oder um Satzkonstruktionen.“ (ebd., S. 614).
Diese Aussage sollte jedoch kritisch betrachtet werden, denn vor Allem in Begriffen wie das Falsche, das Respektlose, das Schamlose, das Geheime, das Verbotene in einer Sprache, stecken subjektive Wertungen . Ferner definiert sie in ihrem Beitrag den Substandard als Oberbegriff zur Varietät. Dieser Begriff habe den Vorteil, dass negative Wertungen, die normalerweise im Zusammenhang mit Substandard einhergehen, vermieden werden können (vgl. ebd., S. 615). Allerdings lässt sich festhalten, dass der Substandard von den meisten als stilistisch tieferstehend empfunden wird.
Einen Mittelweg geht Bierich (2000), indem er die nichtstandardsprachlichen Varietäten in diatopische (Dialekte, Halbdialekte) und diastratische (Prostorečie, Jorgons und Argots) einteilt, wobei Mat eine Sonderstellung einnimmt (vgl. ebd., S. 16). Im Zuge der vorliegenden Arbeit werden die Dialekte nicht berücksichtigt, da sie keine Bedeutung für den praktischen Teil haben. Was Mat betrifft, der eine Besonderheit im substandardsprachlichen System ist, jedoch zum Bereich des Obszönen angehört und auch von den meisten substandardsprachlichen Wörterbüchern nicht aufgenommen wird, wird hier ebenfalls außer Acht gelassen. Ferner stellt der Mat eine derart besondere Eigenart des Russischen bzw. der slavischen Sprachen dar, dass er vor Allem in Zusammenhang mit der Übersetzung einiger ausführlicherer Beobachtungen zwischen dem Deutschen und dem Russischen bedürfte, was ein neues Forschungsgebiet eröffnen würde. Als substandardsprachliche Varietäten des Russischen beschränkt sich diese Arbeit demzufolge auf die Abgrenzung zwischen Prostorečie, Jargon, Argot und Slang, ohne sich auf eine endgültige Einordnung festzulegen.
Folgend sollen die einzelnen für diese Arbeit relevanten Varietäten des Substandards ausführlicher beleuchtet werden. Das Ziel soll dabei sein, eine Festlegung der Terminologie zu erarbeiten, anhand derer die für diese Arbeit relevante Erfassung der substandardsprachlichen Lexik herausgearbeitet werden sollte. Es ist nicht das Interesse dieser Arbeit endgültige Definitionen zu erstellen und dabei sollte versucht werden die synonyme Verwendung dieser Begriffe bestmöglichst aufzuheben, da es durchaus Unterschiede zwischen den einzelnen Varietäten gibt.
Man findet im Englischen die Übersetzung „ russian Urban popular language “ (vgl. Egeberg 2011) oder „ urban substandard speech “ (vgl. Potton 1990). Im Deutschen findet man meist die Bezeichnung städtische Umgangssprache. Diese Begriffe umfassen zwar das russische „ gorodskoe prostorečie “, sollten jedoch nicht dem russischen Begriff eins zu eins gleichgesetzt werden (vgl. Timroth 1983, S. 97). Es existiert im Deutschen keine Entsprechung dafür, was das Prostorečie in der russischen Sprachgemeinschaft bedeutet. Meistens wird es jedoch als Umgangssprache ins Deutsche übersetzt (vgl. Lehmann 2013; Mokienko/Walter 20078 ). Betont werden sollte jedoch, dass es sich dabei um „ eine Sprache von Menschen, die keinen Dialekt mehr sprechen, die aber andrerseits die Standardsprache nicht vollständig erworben haben “ handelt (Marszk 1999, S. 630). Besonders charakteristisch ist der Gebrauch des Prostorečie in der gesprochenen Sprache der gesamten russichen Bevölkerung, was es von regionalen Dialekten abhebt und gleichzeitig auch von Soziolekten, die nur von bestimmten Gruppen gebraucht werden (vgl. Šapošnikov 2011, S. 7). An dieser Stelle eröffnet die Prostorečie-Forschung eine Diskussion, inwiefern die Verwendung des Prostorečie tatsächlich vom Bildungsstand und anderen soziolinguistischen Hintergründen abhängt. Diese Problematik der soziolinguistischen Zuordnung scheint jedoch bis heute nicht ganz geklärt zu sein (vgl. Egeberg 2011, S. 18f.).
Es soll in dieser Arbeit betont werden, dass Prostorečie auf keinen Fall mit den anderen substandardsprachlichen Varietäten gleichzusetzen ist, so wie es beispielsweise Patton (1990) tut, indem er Slang als „ ėkspressivnoe prostorečie “ umschreibt (vgl. ebd., S. 147).
Die Abweichungen von der Norm findet man auf allen sprachlichen Ebenen, in der Phonetik, Morphologie, Lexik und in der Syntax. Was die Lexik angeht so ist sie sehr umfangreich und vielfältig (vgl. Šapošnokov 2011, S. 29). Die Zusammensetzung der Lexik, die das Prostorečie bildet ist nicht einfach zu bestimmen und zwar aus zwei Gründen 1. die ungeklärte terminologische Festlegung des Begriff und 2. Das kontinuierliche Verwischen der Grenzen zur Standardsprache, welches seit dem 19. Jahrhundert stattfindet (vgl. Šapošnikov 2011, S. 6).
Die beiden Varietäten Jargon und Argot sind wohl die am schwierigsten voneinander zu trennenden Varietäten des Substandards. Dies hängt natürlich damit zusammen, dass die Forscher sich untereinander nicht einig sind, wie sie voneinander zu trennen sind. Oft wird der Jargon im Zusammenhang mit Berufsjargon (Sonderwortschätze über Milieu und Tätigkeiten) auf der einen Seite und sozialen Jargons auf der anderen Seite zusammengebracht (vgl. Gutschmidt 2008, S. 1857). Doch will man eine Grenze zwischen Jargon und den anderen Varietäten ziehen, so muss man seinen offenen Charakter und die Verwendung meist unter jugendlichen Sprechergruppen betonen. Zudem definieren sich diese Gruppen durch gemeinsame Interessen sei es kulturell oder beruflich und durch das Zugehörigkeitsgefühl zu einem bestimmten sozialen Milieu (Studenten, Soldaten Klubs etc.) (vgl. Bierich 2009, S. 15). Es gibt Forscher wie beispielsweise Gračev (2007) oder Chimik (2000), die Jugendjargon als modernes Prostorečie untersuchen (vgl. a. M/W 2007, S. 9). Forscher wie Romanov (2004) setzen den Jugendjargon dem Slang gleich. Daraus lässt sich die Unbeständigkeit der Termini herauslesen.
Der Jugendjargon stellt in der allgemeinen Varietätenlinguistik die am häufigsten und am intensivsten erforschte Varietät dar. Der Jargon entsteht insbesondere aus der Notwendigkeit einer „zweiten Nomination“ heraus. Dies erfolgt durch „ eine expressive Umcodierunge bereits bekannter Begriffe und Erscheinungen, ihre Bewertung und Umbewertung. “ (Bierich 2009, S. 15). Dies führt zu einem nominativen „Überangebot“ durch viele Synonyme meist stilistisch niederer Lexik und Phraseologie. Die Hauptfunktion des Jugensjargons ist der Audruck der Expressivität. Das sind häufig die emotional-expressiv gefärbten Ausdrücke wie, „ čuvyrla - „ nekrasivaja devuška “ (Zicke, Tusse, Paukerin, Lernpfossil)9, vajfa – „ žena “ (Beiwagen, die Alte)10, „ byt‘ na drajve “ - nahodit’sja v vozbuždennom sostojanii “ (vgl. Gračev 2007, S. 11f.).
Der Jugendjargon lässt sich insbesondere nach sozialen Gruppen der jüngeren Sprecher klassifizieren. Zu den sozialen Gruppen gehören Schüler, Studenten, junge Arbeiter oder Angestellte, so wie Soldaten und Matrosen. Darüber hinaus gibt es die informellen Gruppen, die sich einer bestimmten Musikrichtung oder politischer Weltsicht anschließen, wie z.B. Punker, Rocker, Hippies. Der Jargon der jungen Leute kann aber auch eine Einteilung nach verschiedenen Altersgruppen des Sprachträgers (z. B.: 13-16, 16-20, 20-25, 25-30-jährigen) erfahren (vgl. Romanov 2004, S. 35).
„Молодежный жаргон в современных условиях, прежде всего, определяется специфической жаргонной лексикой, которая „возникает и существует в силу установки на интимный, фамильярно сниженный стиль речи при социально-речевой общности той или иной группы носителей“ (ebd., S. 32).
Daraus lässt sich ablesen, dass der Jugendjargon einer spezifischen Gruppe dazu dient, sich auf einer gruppenspezifischen Ebene zu kommunizieren.
Gračev (2007) widerspricht der Annahme wie beispielweise von Romanov (2004) vertreten, dass man den Gebrauch des Jugendjargons nur auf eine bestimmte Altersgruppe einschränken kann und ab einem bestimmten Alter seine Verwendung aus dem Sprachgebrauch austritt. Nicht selten könne man auch von der älteren Generation solche Wörter wie „velik“, „telik“, „učilka“ hören, was als Beweis dafür gilt, dass sich einige Jargonismen nur schwer durch literatursprachliche Wörter ersetzen lassen.
Die russische Linguistik und die Soziolinguistik allgemein schenken eine besonders große Aufmerksamkeit der sozialen Gruppe der jungen Leute. Der Jugendjargon unterscheidet sich von Jargon der Berufsgruppen dadurch, dass er keine neuen berufsspezifischen Ausdrücke benennt, sondern viel mehr bereits existierende und bekannte Bezeichnung in expressiver Weise umschreibt (vgl. Romanov 2004, S. 15). Einige Beispiele aus der Gruppe der Informatiker zur Bezeichnung von Computer wären z.B., „ komp“, pisjuk“, „železo“ (vgl. Gračev 2007).
Die Geheimfunktion nimmt im Jugendjargon eine wichtige Stellung ein. Die Jugendlichen wollen sich durch ihre eigene Sprache von den Älteren abgrenzen (vgl. Gračev 2007, S. 11f.). Ganz oft geht damit die Belustigungsfunktion mit einher wie z.B. bei, „ volosomordyj “ – „ čelovek s borodoj “, „ predki“ – „roditeli“, „prepod“ – „prepodavatel‘“ (ebd.). Bei Phraseologismen wie „ šnurki v stakane“ – „roditeli doma“ oder „nahodit’sja v tabletke“ – „byt‘ v narkotičeskom op’janenii“ (vgl. ebd.) kann man sowohl die konspirative als auch die belustigende Funktionn zugleich herauslesen. Es darf an dieser Stelle nicht außer Acht gelassen werden, dass viele Argotismen aus dem kriminellen und Drogenmilieu sich im Jugedjargon befinden, so wie z.B. das wohl bekannteste Wort „kajf“ oder „ katomka“ -„ne bol’šoe kaličestvo gašiša“, „ toščit’sja“; „ja bukval’no toščjus‘ ot ėtih zapisej“ – „naslaždat’sja“ (vgl. ebd.). Wirft man noch einen Blick auf die territoriale Verbreitung des Jugendjargons, kann festgestellt werden, dass sein Gebrauch insbesondere unter der städtischen Jugend weitaus häufiger ist als in den ländlichen Gegenden (vgl. Gračev 2007, S. 12f.).
Dem Argot („ blatnoj jazyk “) als eine weitere Varietät des russischen Substandards kommen in der russischen Sprachwissenschaft vier Bedeutungen zu, die Bierich (2000) wie folgt zusammenfasst: (1) abgestorbene Sprache der Hausierer und Wanderhandwerker („Ofenen“), (2) Sprache bestimmter sozialer Gruppen (z.B. Seeleute, Soldaten, Jäger, Schauspieler u.a.), (3) Sprache deklassierter Gruppen (Bettler, Drogensüchtiger, Krimineller u.a.) mit der näheren Bezeichnung Gaunersprache und (4) Argot als lässige Stadtsprache in der Bedeutung des französischen Begriffs (vgl. Bierich 2000, S. 13f.).
Als Synonym zu Argot wird auch der Begriff „ fenja “ verwendet. Diesen Begrif verwenden die Verbrecher zu Beginn des 20. Jhdts zur Bezeichnung ihrer Sprache. In das Argot Einzug hielt der Begriff ursprünglich in Form der Wortverbindungen „ botat’ na ofene “ und „ botat’ po ofene “ und bedeutet so viel wie in der Sprache der Ofenen reden. Bald darauf entwickelte es sich zu der Phrase „ botat‘ po fene “ (vgl. Gračev/Mokienko 2008, S. 65). Umfangreich beschreibt Gračev (2006) die verschiedenen Formen des russischen Argots als Sprache der deklassierten Gruppen. Im Wesentlichen sind für die vorliegende Arbeit diese zwei Betrachtungen des Argots wichtig.
Kennzeichnend für das Argot ist sein geheimer Charakter. Es wird verwendet, um kriminelle Handlungen vor der Außenwelt besonders vor potenziellen Verbrechensopfern und den rechtlichen Institutionen zu verheimlichen. Die Mitglieder dieser Unterwelt können sich so untereinander verständigen, ohne dass ein Nichtgruppenmitglied das Gesagte entschlüsseln kann (vgl. Gračev 1997, S. 95). Es sind dabei sowohl Begriffe, die die kriminelle Welt erfassen, als auch diejenigen, die sie bekämpfen: „avtoritet“ (Führungsperson im kriminellen Milieu) , „baryga“ (Dieb, Spekulant) , „bratva“ (kriminelle Bande) , „vyška“ (höchstes Strafmaß), „malëvka“ (geheime Instruktion für Gefangene in schriftlicher Form) , „pachan“ (Chef einer Diebesbande, Häftling mit dem größten Ansehen seinesgleichen), „puška“ (Pistole, Waffe), „rešat‘“ (jmd. umlegen), „ strelka“ (Ganoventreffen mit dem Ziel einer Abrechnung) „utjug“ (Pistole).11 Gračev (1997) schreibt dem Argot vier Funktionen zu: (1) „ konspirativnaja “: dient der Geheimhaltung außerhalb der kriminellen Welt, (2) „ opoznavatel’naja “: dient der Idenfikation unter den deklassierten Gruppen und ist eng mit der Geheimhaltungsfunktion verbunden. (3) „ nominativnaja“: dient der Nomination von spezifischen Realien aus der Welt der Deklassiert, für die es in der Gemeinsprache keine Bezeichnungen gibt. (4) „mirovozzrenčeskaja“: im lexikalischen Bestand werden die Einstellungen und Weltanschauung der deklassierten Elemente zum Ausdruck gebracht (ebd., S. 95f.).
Tatsächlich ist die Unterscheidung zwischen Argot und Jargon nicht einfach, da sie auch oft synonym gebraucht werden (vgl. Autoren wie Marszk, Mokienko, Elistratov). Als grobe Unterscheidung lassen sich die meistvertretenen Differenzierungskriterien (vgl. u.a. Timroth 1983; Bierich 2000,) wie folgt darstellen. Der Begriff Argot taucht jeweils im Zusammenhang mit den deklassierten Gruppen auf, während Jargon meist mit dem Begriff Jugend- und Berufsjargon konnotiert ist. Wobei allerdings anzumerken ist, dass das Argot schon seit der Revolution einen enormen Einfluss auf den Jugendjargon nimmt (vgl. Bierich 2000, S. 23). Gutschmidt (2008) bezeichnet die Argots auch als Geheimsprachen im Unterschied zu Gruppenjargons, die eher den Charakter eines Slangs haben (ebd. S. 1857).
Was die Argotismen angeht, so spielt insbesondere das Argot der Kriminellen eine zentrale Rolle für den russischen Slang. Das hängt damit zusammen, dass mit der Kriminalisierung der russischen Gesellschaft sich eben dieses Argot besonders weit verbreiten konnte. Viele Argotismen fanden über die Medien oder den Jugendjargon ihren Weg in den Slang. Einen solchen Eingang in den Slang über Jugendjargon hat beispielweise das Wort „ tusovka“, das ursprünglich aus dem Argot der Kriminellen stammte. So bedeutet es unter den Kriminellen (1) „draka“, „skandal“; (2) „ sborišči“, „tolčea“. Im Jugendjargon dagegen bezeichnet „tusovka“ eine Ansammlung von Leuten, die gemeinsame Interessen haben, oder einfach zum Feiern zusammen kommen (vgl. Romanov 2004, S. 153f.).12
Eine weitere Varietät des Substandards ist Slang13. Trotz der synonymen Verwendung mit Jargon und Argot in der sprachwissenschaftlichen Literatur, verdient gerade diese Varietät einer intensiveren Beachtung, zumal sie für den weiteren Verlauf dieser Arbeit eine wichtige Stellung einnimmt. Als Erstes ist aber eine Abgrenzung zu den oben genannten Varietäten sinnvoll, um anschließend auf die Definition des Slangs und auf seine Merkmale hinzudeuten.
Unumstritten ist, dass Slang im Russischen immer noch keine endgültige Definition erfährt. Nicht zuletzt hängt es auch damit zusammen, dass noch in der Sowjetunion sogar die Existenz dieses Phänomens abgestritten wurde, was die Forschung selbstverständlich einschränkte14 (vgl. Timroth 1983, S. 102). Auch werden die Begriffe Argot, Jargon und Slang unter den Sprachwissenschaftlern selbst individuell benutzt und die Abgrenzung wird dadurch erschwert. Man findet auch in Monographien, so wie beispielsweise Romanov (2004) in seiner Arbeit „ Soveremennyj russkij molodežnyj sleng “, in dem er Jargon und Slang zwar einzeln definiert, die Abgrenzung zwischen den beiden Begriffen jedoch nicht deutlich zum Vorschein kommt. Im Titel ist zwar der Begriff „ molodežnyj sleng“ enthalten, in der Arbeit benutzt er jedoch oft den Begriff „ molodežnyj žargon.“ Zudem benutzt er Slangismen und Jargonismen synonym. Dabei untersucht er den sog. obščemolodežnyj žargon, der aus den gleichen Quellen entsteht wie Slang. Der einzige Unterschied sei dabei nur das Alter der Sprecher (vgl. ebd. S. 16). Die Bezeichnung allgemeiner Jargon (obščij žargon), der aus dem Englischen General Slang abgeleitet wurde, eignet sich ebenfalls die Bedeutung des Begriffs Slang zu erfassen (vgl. Bierich 2002; S. 56, vgl. a. Gutschmidt 2008, S. 1857 f.).
In der Forschung zu Slang im anglo-amerikanischen Raum in den letzten fünfzig Jahren, wird der Begriff Slang auch in der russischen Sprachwissenschaft benutzt, allerdings hat er noch keine endgültige Definition bekommen (vgl. Romanov 2004, S. 15f.).
Die Bezeichnung Slang selbst kommt aus dem Englischen. So findet man in Oxford Dictionary die folgende Umschreibung für Slang:
“a type of language that consists of words and phrases that are regarded as very informal, are more common in speech than writing, and are typically restricted to a particular context or group of people: grass is slang for marijuana,army slang.”15
Diese Beschreibung kommt dem russischen Verständnis von Slang zwar ziemlich nah, doch es fehlt noch die Ergänzung, die die Frage nach der Abgrenzung zum Jargon und Argot verdeutlicht. Im Dictionary of American slang beschreibt Wentworth/Flexner (1967) Slang als ein Korpus der Wörter und Ausdrücke, die oft gebraucht werden, und von einem großen Teil der amerikanischen Bevölkerung verstanden werden, die aber nicht als guter Sprachgebrauch anerkannt sind. Ferner beschreibt er den amerikanischen Slang als eine schnelle, einfache und personalisierte Art zu sprechen. Er setze sich aus Cant (englische Gaunersprache), Jargon und Argot-Wörtern vieler Unter-Gruppen zusammen, die sich im Slang überschneiden (vgl. ebd., S. vif.).
Timroth (1983) sieht den sprachlichen Spieltrieb der Menschen als wichtiges Element bei der Entstehung neuer Slang-Wörter. Im Zusammenhang mit Slang treffen solche Stichwörter „ wie Witz, Ironie, Protest, Verachtung, Vulgarität, bewußter [sic!] Verstoß gegen Normen und andere zu.“ (S. 101). Die Abgrenzung zu Argot und Jargon bestünde darin, dass er nicht für eine bestimmte Gruppe charakteristisch sei (vgl. ebd.).
Mit dieser Ausweitung des Begriffs, kommt man auch der russischen Definition des allgemeinen Jargons schon näher. Die wichtigsten Charakteristika des Slangs lassen sich also folgend zusammenfassen: (1) informell, (2) verstärkt in der gesprochenen Sprache, (3) taucht im bestimmten Kontext auf (Witz, Ironie etc.) (4) setzt sich aus dem Jargon und Argot bestimmter sozialer Gruppen zusammen, (5) nimmt eine Mittlerstellung zwischen Standardsprache und informeller Sprache ein, (6) die von der Allgemeinheit akzeptiert wird. Die bekanntestenWörter, die jedem Muttersprachler geläufig sind, sind: „ babki“, „prikid“, „strelka“, „bespredel“ etc. (vgl. Elistratov 2005). Eine intressante Entwicklung hat das Wort „ strelka “ erhalten. Als Argotismus der Kriminellen in der Bedeutung „ Ganoventreffen mit dem Ziel einer Abrechnung “ hat über den Jugendjargon, die Bedeutung „ Treffen, Verabredung “ verbreitet (vgl. M/W 2007). Man vergleiche dazu die Beispielsätze aus Elistratov (2005) „ У меня в три стрелка. / Бегу на стрелку. Как всегда, на стрелке“ (ebd.). Auch der Ausdruck „ zabit‘ strelku “ („ sich zu einem Date verabreden “)16 ist im heutigen Russisch weit verbreitet.
Slang ist zudem in Abgrenzung zu Jargon und Argot so zu verstehen, als dass er wie ein Auffangbecken für die unterschiedlichen Varietäten der nicht standardsprachlichen Lexik funktioniert und sich daraus eine breitere Sprechergemeinschaft bedingt. Somit ist seine Verwendung weder an eine spezifische soziale Gruppe gebunden, noch steht die Geheimfunktion an erster Stelle. Dies zieht den Schluss mit sich, dass Slang als Varietät betrachtet wird, deren Lexik Eingang in die russische Gemeinsprache findet. Zudem stellt sich die Frage nach seiner Entwicklung, warum und wie konnten Elemente aus dem Prostorečie, Argot und Jargon in in das Bewusstsein einer größeren Bevölkerungsschicht eindringen.
Wenn in der vorliegenden Arbeit also die Rede von Substandard oder substandarsprachlichen Lexik ist, ist damit die Gesamtheit der substandardsprachlichen Varietäten, wie oben beschrieben, gemeint. Als eine besondere Varietät ist Slang zu verstehen. Wie im vorherigen Kapitel herauskristallisiert ist es die Varietät durch die die substandardsprachliche Lexik der anderen Varietäten in die Gemeinspache eindringt. Dieser Prozess und die Gründe dafür werden in diesem Kapitel skizziert.
Daraufhin gilt das Augenmerk der Lexik, die Möglichkeiten ihrer Erfassung und Einordnung unter Berücksichtigung ihrer semantischen und wortbildenden Prozesse. Anders als die Dialekte sind die Soziolekte, die von Gutschmidt (2008) auch als Gruppensprachen bezeichnet werden, „ komplimentäre Sprachgebilde mit speziellen Funktionen, die durch einen besonderen Wortschatz realisiert werden.“ (ebd. S. 1857). Ein weiterer Aspekt, der unmittelbar damit zusammnehägt ist die Behandlung der substandardsprachlichen Lexik in Wörterbüchern.
Die Bezeichnung Gemeinsprache wird hier synonym zu „ obščenarodnyj jazyk“ gebraucht (vgl. Kap. 2.1). Der Duden erfasst den Begriff Gemeinsprache als Standardsprache und ebenfalls als „ allgemein verwendete und allen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft verständliche Sprache. “ (vgl. Duden-Online)17. Argotismen können prinzipiell in alle Sprachvarietäten des Russischen eindringen, d. h. in die Standardsprache, die territorialen Dialekte, die Umgangssprache und die verschiedenen Jargons. In die Standardsprache kommen sie oft über eine andere Sprachenvarietät (vgl. Gračev 1997, S. 154). Einen entscheidenden Grund für den Übergang des Substandards in den „ literaturnyj jazyk“ stellt der Faktor Norm dar. Die Norm unterliegt nämlich den Veränderungen der Zeit, aber auch den Prozessen in der Gesellschaft, die einen Einfluss auf die Einstellungen gegenüber der Norm haben. Die Demokratisierung des Bestandes der russischen Literatursprache führte dazu, dass das Normverständnis sich weitete (vgl. Krysin 2003, s. 11f). Das Eindringen des Substandards in den Standard wird an dieser Stelle nicht ausführlicher behandelt, da für die vorliegende Untersuchung nur der Übergang aus dem Substandard in die Gemeinsprache von Relevanz ist.
Nun sollen die Entwicklungen mit Beispielen für den Übergang des Substandards in die Gemeinssprache angeführt werden, um so besser auf den Gebrauch und die Funktionen des Slangs eingehen zu können.
Immer mehr Wörter aus dem Substandard dringen in die russische Gemeinsprache ein. Dafür gibt es unterschiedliche Ursachen. Elistratov (2000) sieht Argot18 als Spiegel der Kultur und als ein komplett offenes System an, bei dem die Aufnahme oder Ablehnung eines Argotismus (bzw. Slangismus) äußerst komplex ist. Es spielen unterschiedliche Faktoren der Sprecher eine wichtige Rolle:
„Люди арготизируют свою реч в том или ином ключе, выбирают тот или иной аргостиль, исходя из своего культурного уровня, особенностей психической организации, пристрастий, вкусов, привычик и.т.д.“ (Elistratov 2000, S. 620).
Dabei wählen die einen eher ein härteres Benehmen, die anderen eher sanfteres und dementsprechend richten sich die Argotismen (vgl. ebd.).
Wie groß das Interesse an der Lexik der unterschiedlichen Jargons und Argots ist, lässt sich anhand von entsprechenden Wörterbüchern nachweisen, die Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts erscheinen. Mokienko (2000) ist der Ansicht, dass „ жаргон действительно стал обшим “ (ebd., S. 4). Zemskaja (2000) bezeichnet „ obščij žargon“ 19 als Phänomen des 20. Jahrhunderts (vgl. S. 33). Das Wörterbuch, dass die Slangismen beschreibt, trägt auch den bezeichnenden Titel „ Slova, s katorymi my vse vstrečalis. Tolkovoj slovar‘ russkogo obščego žargona “ von Ermakova et al. (1999). Darin führen die Autorinnen Beispiele aus der Presse, aus Fernseh- und Radioprogrammen und aus der gesprochenen Sprache der Sprecher, die Träger der Standardsprache sind auf, um zu zeigen wie die ursprünglichen Jargonismen/Argotismen Mittel einer breiteren Kommunikation geworden sind.
Die Gründe für den Übergang der Substandadismen in die russische Gemeinsprache können in zwei Gruppen geteilt werden: innersprachliche („ intralingvističeskie “) und außersprachliche („ ėkstralingvističeskie“) (vgl. Gračev 1997, S. 155). Zu den innersprachlichen Gründen zählen alle linguistischen sprachinternen Veränderungen und bei den außersprachlichen handelt es sich insbesondere um Veränderungen in der Gesellschaft.
Der wichtigste innersprachliche Grund für das Eindringen der Substandardismen in die Gemeinsprache ist die Notwendigkeit zur Bezeichnung bestimmter Gegenstände, die es in der Gemeinsprache nicht gibt. Dass Argotismes in die Gemeinsprache eindringen, kann beispiesweise in der Literatur durch die Thematisierung der Unterwelt oder der Drogenproblematik sein (vgl. Gračev 1997, S. 155).
Dass die russische Sprache sich seit Beginn und nach der Perestrojka in allen Bereichen verändert hat, bleibt unbestritten. Damit geht ein veränderter Sprachgebrauch der russischen Bevölkerung einher (vgl. Fleischmann 2007, S. 335ff.) Gessellschaftlche Gründe für den Übergang der Substandardismen in die Gemeinsprache gehen mit Veränderungen in der Gesellschaft einher. Zu Sowjetzeiten waren alle Normabweichungen in der Sprache nicht gern gesehen und von Massenmedien gemieden. Ausdrücke, die vom Standard abwichen, wurden als Erscheinungen der Jugendsprache („ molodëžnyj žargon “) deklassiert (vgl. Timroth 1983, S. 101f.). Die Sowjetischen Lexikographen versuchten den Terminus Slang zu umgehen. Es finden sich in Wörterbüchern bei Wörtern, die im Englischen als Slang markiert sind, Vermerke wie, „razgovornoe“, „prostorečnoe“, „vul’garizm“, „žargonizm“, „professionalizm“, „dialektizm“, „neologizm“ (vgl. ebd., S. 103). Erst in der postsowjetischen Ära bediente man sich offiziell des Begriffs Slang zur Beschreibung nicht normativer Sprache. Während der amerikanische Slang sich hauptsächlich durch die Beweglichkeit der US-Amerikaner in ihrem eigenen Land verteilt, war in der Sowjetunion sowohl die berufliche als auch die private Beweglichkeit der Menschen streng eingeschränkt und kontrolliert (Wentworth/Flexner 1967, S. ix). Es sind also andere Vorgänge, die in Russland zu Verbreitung des Slangs beitrugen, z.B. die Urbanisierung, bei der Menschen mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund auf engsten Raum zusammenkamen. So haben beispielsweise die politischen, wirtschaftlichen und die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Veränderungen dazu beigetragen, dass die russische Bevölkerung für die neuen Realien neue Ausdrücke und Bezeichnungen gebraucht hat. In diesem Prozess haben sich auch die Grenzen zwischen der Literatursprache und anderen Varietäten geweitet (vgl. Fleischmann 2007, S. 335f.). Zu Sprachwandelprozessen des Russischen seit der Perestrojka liegen vielfältige Untersuchungen vor, bei denen alle Autoren die Tendenzen zum Eindringen von Substandard in die Literatursprache durch die Medien und durch den Gebrauch breiterer Bevölkerungsschichten mit ein beziehen (vgl. z.B. Duličenko 1994; Fleischmann 2007; Koester-Thoma 1995; Kostomarov 1994; Krysin 2007; Zybatow 1995).
Was allerdings heute für die meisten Sprachen zutrifft, ist das Auftauchen neuer Wörter in Massenmedien zwischen Personen verschiedener Gruppen. Auf diese Art und Weise verbreiten sich die Wörter sehr schnell: „ If the word is also useful to non-group members, it is on its way to becoming slang.” (vgl. Wentworth/Flexner 1967, S. ix). Für Russland spielen die historischen und politischen Umbrüche Russlands der 90er Jahre eine entscheidende Rolle. Anhand ausgewählter Beispiele soll hier das Eindringen vor Allem aus dem Argot der Kriminellen genauer dargestellt werden . Dies ist insofern wichtig für diese Arbeit, als dass die Handlung des zu analysierenden Films in dieser Zeit der 90er Jahre spielt und durch viele kulturspezifische Phänomene markiert ist. Aus diesem Grund erscheint das Wissen über diesen historischen Hintergrund auch für die Übersetzung unentbehrlich.
Die russische Sprache wurde von zwei großen gesellschaftlichen Erschütterungen beeinflusst. Die sozialen Umbrüche zu Zeiten der Revolution 1917 und in Zeiten der Perestrojka (vgl. Duličenko 1994, S. 2). Diese sozialen und politischen Umbrüche führten letztendlich zu freiem Denken und dadurch befreiten sich auch die Sprachträger von obligatorischen Stereotypen und erlangten neue Ausdrucksmöglichkeiten (vgl. Fleischmann 2007, S. 354f.). Insbesondere in der Zeit nach der Wende fanden viele Ausdrücke aus unterschiedlichen Jargons und Argots ihren Weg in die Massenmedien und damit in die breite Öffentlichkeit. Die Entwicklungstendenzen im Russischen der neunziger Jahre werden als „Demokratisierung“ oder „Liberalisierung“ bezeichnet (vgl. Kostomarov 1994, S. 60, 65). Es gibt allerdings auch Stimmen, die diese Entwicklung eher als eine Art „Vulgarisierung“ und „Jargonisierung“ der russischen Sprache verstehen, die wie von Duličenko (1994) mit kritischem Blick beobachtet wird (vgl. ebd., S 221ff.). Ob diese sprachlichen Veränderungen eher positiv oder negativ zu bewerten sind, kann und will diese Arbeit nicht entscheiden.
Im Ganzen scheint die literatursprachliche Norm in der Postsowjetischen Periode weniger festgelegt und weniger notwendig zu sein, so dass es dazu kommt, dass die Literatusprache weniger standardisiert ist (vgl. Kostomarov 1994, S. 15).
Die Menschen reden ohne Vorbereitung und ohne Angst und ohne einen vorbereiteten Text abzulesen bei Versammlungen, auf der Straße, auf der Arbeit, in den Zeitungen und im Fernsehen. Nicht zu unterschätzen ist auch die Veränderung der Textsorten. Der Dialog und das Interview sind in den 90ern groß im Kommen (vgl. Zemskaja 2000, S. 31). Daher sind Veränderungen insbesondere in der Lexik zu verzeichnen, da die Autoren vor Allem bei der Darstellung negativer Sachverhalte auf stilistisch tiefer stehende Lexik, Jargon und Prostorečie, sogar Vulgarismen zurückgriffen (vgl. Fleischmann 2007, S. 355). Der wichtigste linguistische Grund für den Übergang des Substandrads in die Gemeinsprache ist ihre Benutzung in der Literatur, wenn beispielsweise das Thema Drogen oder Kriminalität in der russischen Bevölkerung problematisiert wird. Auf Grund ihrer starken Ausdruckskraft finden sich viele Argotismen im Jugendjargon wieder und durch den Jugendjargon gelangen diese in die Medien und über die Medien in breite Öffentlichkeit (vgl. Gračev 1997, S. 154f).
„Частое употребление по радио и телевидению блатных слов навязывает населению особое речевое поведение. [С]редства массовой информации –один из главных факторов, способствующих проникновению арготизмов в речь молодежи.“ (Gračev 1997, S. 160).
Man bedient sich der Argotismen in der Literatur auf Grund ihrer emotional-expressiven Färbung (vgl. Gračev 1997, S. 155). Es wird somit deutlich, wie die jeweiligen Entwicklungen der Gesellschaft und das Bedürfnis der Bevölkerung die jeweiligen Sachverhalte des Lebens zum Ausdruck zu bringen, die Benutzung des Substandards vorantreiben. Dabei spielt natürlich auch die Unzufriedenheit, die Empörung, Abwertung und Verachtung eine Rolle, die durch Verwendung der Slangismen durch die Sprecher zum Ausdruck kommen (vgl. Fleischmann 2007, S. 356). So ist beispielsweise die Kriminalisierung der Gesellschaft in postsowjetischer Zeit ein Spiegelbild dieser Epoche in Gesellschaft und Sprache (vgl. ebd., S. 364).
Ein wichtiges Merkmal des Substandards, das unbedingt von der Überstezung berücksichtigt werden muss, ist seine Funktion. Hier soll nicht näher darauf eingegangen werden, wie und warum sich russischer Substandard historisch entwickelt hat, denn dieses Phänomen ist allen Sprachen eigen. Dahinter steckt zum größten Teil das Bedürfnis der Sprecher mit der Sprache zu spielen (vgl. Timroth 1983, S. 101).
Sowohl die russischen als auch die deutschen substandardsprachlichen Varitäten haben gleiche Funktionen. Während Dialekte den Sprecher nach seiner Herkunft unterscheiden, geben die Soziolekte eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe wieder (vgl. Kap. 2). So ist beispielsweise das Beherrschen des Argots der Kriminellen manchmal sogar eine Voraussetzung für die Aufnahme in die Gruppe. Sie dienen der Kodierung und müssen von Mitgliedern verstanden und auch richtig verwendet werden. Es dient der Abgrenzung zu Nichtgruppenzugehörigen, aber vor allem der Abgrenzung zum Gefängnispersonal (vgl. Gračev 1997, S. 95f.).
Die Wörter, die aus dem Argot in den Slang eindringen, erfahren nicht nur eine Bedeutungsmodifikation, sondern auch eine andere stilistische Wertung. So kann es passieren, das ein Tabuwort aus dem kriminellen Milieu durch den Gebrauch größerer Sprechergemeinschaft andere Konntationen erhält (vgl. Gračev 2009, S. 91f.). Viele russische Muttersprachler selbst kennen die Herkunft und ihre ursprüngliche Bedeutung nicht (vgl. M/W 2007, S. 9). Die Einteilung ist auch deshalb schwierig, weil ein Sprecher mehrere Varietäten innerhalb einer Sprachhandlung realisieren kann. Ein Individuum kann mehrere Soziolekte gleichzeitig verwenden, z.B. ein Student, der in der Armee war, beherrscht sowohl den Jargon der Soldaten, als auch den Studentjargon und den Jugendjargon (vgl. Gračev, 1997, S. 12).
Bei der Benutzung des Slangs spielt weniger die Geheimfunktion wie im Argot eine Rolle, sondern die Expressivität und das Spiel mit der Sprache, als auch das Bedürfnis der Nomination. In der Presse geht es vor Allem darum ein Zugehörigkeitsgefühl zu vermitteln und Kritik an den Missständen im Land insb. wenn es um Politik oder Wirtschaft geht zu thematisieren. Die symbolträchtigsten Ausdrücke der 90er Jahre sind wohl „ bezpredel“, „razborka“ und „strelka“. Ihr Gebrauch in der Presse und in den Medien dient vor Allem der Expressivität . Gračev (2005) stellt fest, dass die Leser die Beiträge, in denen Argotismen vorkommen mit großem Interesse verfolgen (ebd. S. 326; 336). Mit der Verwendung dieser Lexik beabsichtigen die Journalisten die Aufdeckung von Missständen und Korruption im Bereich der Wirtschaft und Politik . Diese Kriminalisierung der Russen findet sich auch in der Sprache wieder (vgl. Fleischmann 2007, S. 364).
Viele Jorgonismen entwickeln neue Bedeutungen, wie beispielsweise das Wort „ bespredel ‘“ (s. Kap. 4.1.2.). Anhand dieser Beispiele lässt sich auch der Schluss ziehen, wie die jeweiligen Entwicklungen der Gesellschaft ihren Niederschlag in der Sprache finden. Dabei spielt natürlich auch die Unzufriedenheit, die Empörung, Abwertung und Verachtung eine Rolle, die durch Verwendung der Slangismen durch die Sprecher zum Ausdruck kommen (vgl. Fleischmann 2007, S. 356).
Das Eindringen substandardsprachlicher Lexik in die Gemeinsprache birgt die Notwendigkeit ihrer Erfassung und Beschreibung.
Von Bedeutung für die vorliegende Arbeit sind die Begrifflichkeit der substandardsprachlichen Lexik und die Gliederung dieser. Denn wie auch in der allgemeinen Lexikologie stellt sich bei der substandardsprachlichen Lexik die Fage, was als Lexik bezeichnet wird und nach welchen Kriterien diese in der Lexikologie und dementsprechend von der Lexikographie behandelt wird (vgl. Pavlova 2013, S. 93f.).
In „Metzler Lexikon der Sprache“ (2010) wird die Lexik als der Wortschatz einer Sprache definiert. Ein Wortschatz ist die Gesamtheit der Wörter (Lexeme) einer Sprache bzw. einer Sprachgemeinschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt, die damit das Lexikon dieser Sprache bildet. Den Wortschatz einer Sprache kann man nach sechs grundlegenden Kriterien gliedern: (1) Sprachstadien, (2) Herkunft (z.B. Entlehnungen), (3) Varitäten (z.B. Standard-, Fachsprache), (4) Gebrauchshäufigkeit, (5) Bildungstypen und (6) Bedeutungsgruppen (semantische Gruppen) (vgl. Glück 2010, S. 774).
Betrachtet man die substandardsprachliche Lexik als Gebilde von Varietäten, wie im vorherigen Kapitel beschrieben, lässt sie sich wie auch Lexik im Allgemeinen nach Herkunftsvarietät und/oder des konkreten Anwendungsgebietes unterscheiden, z.B.: Prostorečie (prost.), Jugendžargon (mol.), Argot der Kriminellen (ugol.) etc. (vgl. Mokienko 2000; Elistratov 2005). Im Folgenden soll gezeigt werden wie sich die Lexik des Slangs zusammensetzt und wie sie besser erfasst werden kann.
Im Grunde genommen besteht die Lexik des Slangs wie oben schon angedeutet aus den anderen substandardsprachlichen Varietäten, die am Anfang definiert wurden, also Prostorečie, Jargon und Argot. Schließlich kommt hinzu, dass innerhalb dieser noch weitere Untergruppen wie Jugendjargon, Jargon der Geschäftsleute und Händler etc. sich besonders stark im Slang durchsetzen. Auch gelangen viele Argotismen durch die Vermittlung der Jugendsprache in den Slang, oft mit Bedeutungserweiterung. Es handelt sich dabei um Wörter, die in das Allgemeinverständnis einer größeren Bevölkerungsschicht eingedrungen sind. Viele Argotismen aus dem kriminellen Milieu finden ihren Einzug in den Slang und damit in die Gemeinsprache.
Am Beispiel des Wortes „ kozël“ lässt sich das Ganze verdeutlichen. Das Wort „ kozël“ zählt im Argot der Kriminellen eigentlich zu tabuisierten Wörtern und bezeichnet erstens einen Häftling, der mit den Gefängnisangestellten kooperiert und zweitens einen Homosexuellen. Das erstere stellt unter den Häflingen den schwersten Verstoß gegen kriminelle Gesetze dar. Tabuisiert meint in Zusammenhang mit Argotismen, dass man dieses Wort in täglicher Kommunitkation nicht verwendet (vgl. Gračev 2009, S. 91). Im Gebrauch außerhalb der kriminellen Welt wird dieses Wort als eine Beleidigung für einen unangenehmen Menschen oder einen Menschen mit schlechtem Benehmen verwendet (vgl. M/W 2007).
Auch dringen viele Jargonismen aus dem Jugenjargon in den Slang ein. Wobei sich bei der vielschichtigen Lexik des Jugendjargons, die sich aus unterschiedlichen Jargons, wie der Drogensüchtigen oder berufsspezifischen Jargons (Studenten, Militär, Informatik) oder teilweise sogar aus Prostorečie zusammensetzt, lassen sich keine allgemeingültigen Trennlinien ziehen, um die substandardsprachliche Lexik im Gesamtbild zu erfassen. Dies hängt zunächst mit den irreführenden Begrifflichkeiten in der Forschung zusammen, als auch mit den unterschiedlichen Markierungen in den Wörterbüchern. Eine Aufgliederung in thematische Gruppen kann die Lexik des Slangs übersichtlicher darstellen.
Bei der Betrachtung der Lexik des Slangs kann man feststellen, dass sie alles widerspiegelt, was mit dem Menschen, seinem Dasein und seinem Verhältnis zu anderen Menschen zu tun hat. Betrachtet man die thematischen Gruppen, so listet Ermakova (1999, S. xii) folgende thematische Hauptgruppen auf, die hier mit einigen Beispielen dargestellt werden.
(1) Kriminelle Welt: „ bespredel“, „ zavalit‘“, „močit‘“, „fraer“, „raskolot’sja“, nakryt‘.
(2) Business und Geld: „ babki“, „baksy“, „ kapusta“- „kapusta zelenaja“, „limon.“
(3) Trunkenheit und Alkoholismus: „alkaš“, „sinjak“, „sin’ka“, „buchat‘“, „nadrat’sja.“
(4) Drogenwelt: „ kislota“, „kajfovat‘“.
(5) Armee: „ dembel‘“, „dedy“, „slony“, „vorona.“
(6) Unterhaltung und Feiern: „ tusovka“, „popsa“, „boldet‘.“
(7) Zwischenmenschliches Verhältnis: „ dostat‘“, „pristovat‘.“
(8) Der Mensch und die Welt um ihn herum: „ durdom“, „ kajf“, „ otvalit‘“, „ torčat‘.“
(9) Bewertung: „ krutoj“, „čajnik“, „žlob.“ 20
Nach einer solchen Einteilung lassen sich noch weitere Unterkategorien aufstellen. So z.B. für die Gruppe der kriminellen Welt, wo es auf der einen Seite Bezeichnungen für die Personen, die die kriminelle Handlungen ausführen, die Handlungen selbst, die Gegenstände, mit denen die Handlungen ausgeführt werden und die Instanzen, die die Kriminalität bekämpfen (s. Kap. 2.2.3.). Ähnliches Prinzip lässt sich auf die Gruppe der Trunkenheit und des Alkoholismus übertragen. Einmal die Personen, die Alkohol konsumieren („ alkaš“, „sinjak“) und auf der anderen Seite die Mittel, die konsumiert werden („ sin’ka“) sowie die dazu gehörige Handlung („ buchat‘“, „nadrat’sja“).
Die Anreicherung des substandardsprachlichen Wortschatzes durch sprachimmanente Elemente beruht zum grölßten Teil auf dem Prinzip der Bedeutungsübertragung. Als Ausgangspunkt dient dabei die Standardsprache. Meistens findet diese Übertragung direkt aus der Standsardsprache in den Substandard statt (Rozina 1999, S. xxviii). Das wäre beispielsweise bei den Wörter wie, „ svalit‘“ („ Свалить снег с крыши “)21 vs. („Уходить , уезжать, эмигрировать“)22, „ rubit ‘“ („ Резать , разделять на части, ударяя острием с размаху“)23 vs. („ Понимать , разбираться в чем - л .“)24 der Fall.
Eine Besonderheit der semantischen Prozesse im Slang ist die Bildung von Metaphern und Metonymien. Bezeichnend für die Übertragung ist, dass in den meisten Fällen vom Nichtmenschlichen auf Menschliches übertragen wird (vgl. ebd.), wie bei „ zver ‘“, „soska“, „čajnik“. Diese metaphorische Übertragung des Menschlichen bildet die größte Gruppe der Slang-Ausdrücke. Hervorgehoben werden sollte hier, dass gerade bei den Umschreibungen der Körperteile auch immer eine kulturelle Note und Sichtweise auf den Menschen einhergeht. Somit gelten diese Slangismen auch gleichzeitig als Ausdruck der Kultur (vgl. Elistratov 2000, S. 635).
Des Weiteren wird der Slang von Übertragungen der Handlungen oder Eigenschaften, die sich auf Gegenstände oder Tiere beziehen, auf Handlungen und Eigenschaften des Menschen übertragen, wie bei z.B. bei „ krutoj “ (vgl. i.S.v. Ei ist hart) – „krutoj “ (viel beschäftigter Mensch).25
[...]
1 In der Russistik gibt es noch den Begriff „ obščenarodnyj (nacional‘nyj) jazyk “ (vgl. Krysin 2007, S. 7). Dieser Begriff wird hier in seiner deutschen Entsprechung „Gemeinsprache“ verwendet (s.a. Kap. 3.3).
2 Hier wird die deutsche Übersetzung „ Literatursprache “ gebraucht (vgl. bspw. Fleischmann 2007).
3 Auch Krysin (2003) vermerkt, dass „ literaturnyj jazyk “ das Pendant zum westlichen Gebrauch des Ter- minus „Standardsprache“ oder „Standard“ ist (ebd., S. 11). In dieser Arbeit werden diese Begriffe syno- nym benutzt.
4 Im Folgenden mit RR abgekürzt.
5 http://www.krugosvet.ru/enc/gumanitarnye_nauki/lingvistika/RAZGOVORNAYA_RECH.html (Stand: 02.09.2014).
6 Nach Gladrow (1995).
7 Nach Lehmann (2013), Krysin (2003) und Köster-Thoma (1996) von mir angepasst (L.L.).
8 Das russisch-deutsches Wörterbuch des Jargons und der Umgangssprache von Mokienko/Walter (2007) wird im Folgenden mit M/W (2007) abgekürzt. Die Erklärungen und Übersetzungen der Lexeme sind unter dem jeweiligen Eintrag nachzuschlagen, daher wird hier auf Seitenangaben in Wörterbüchern ver- zichtet. Um den Lesefluß nicht zu behindern werden an diesen Stellen die Wörterbucheinträge in den Fußnoten wiedergegeben. Die Quellen aus den Online-Wörterbüchern werden immer in Fußnoten aufge- führt.
9 Überstezung aus M/W (2007).
10 Überstezung aus M/W (2007).
11 Die Beispiele samt ihren deutschen Übersetzungen wurde entnommen aus: Fleischmann (2007), S. 364f.
12 Auf das Lexem „tusovka “ wird noch im letzten Kapitel näher eingegangen.
13 Darüber hinaus listet Romanov (2004) noch weitere Termini auf, u.a. „ sociolekt “, „ sub‘‘jazyk “, „ interžargon “, die mit den substadardsrachlichenVarietäten der russischen Sprache zusammenhängen (S. 16f.).
14 mehr dazu unter Kapitel 2.3.
15 http://oxforddictionaries.com/definition/american_english/slang (10.12.14), Unterstreichungen von mir vorgenommen (L.L.).
16 Übersetzung aus M/W (2007).
17 http://www.duden.de/rechtschreibung/Gemeinsprache (Stand: 18.11.14).
18 Wobei er auch Argot synonym zu Slang verwendet.
19 Hier als Synonym zu Slang anzusehen.
20 Vgl. die Beispiele bei Elistratov (2005) und im Kapitel 6.
21 Ušakov http://dic.academic.ru/dic.nsf/ushakov/1017082 (Stand: 10.12.14).
22 Elistratov (2005).
23 Ušakov http://dic.academic.ru/dic.nsf/ushakov/1012170 (Stand: 10.12.14).
24 Elistratov (2005).
25 M/W (2007).
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