Masterarbeit, 2019
91 Seiten, Note: 1,3
1 Einführung
2 State of Art
3 Aufgabenstellung und Vorgehensweise
4 Systemtheorie nach Luhmann
4.1 Differenzierung von System und Umwelt
4.2 Soziale und psychische Systeme
4.3 Kommunikation in der soziologischen Systemtheorie
4.3.1 Universalmedium – „Sinn“
4.3.2 Kommunikation als Synthese von Information – Mitteilung – Verstehen
4.3.3 Ablauf der Kommunikation
4.3.4 Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation
4.3.5 Kommunikationsmedium Sprache (Verstehen)
4.3.6 Kommunikationsmedien Schrift und Internet (Verbreitung)
5 Empirische Analyse
5.1 Untersuchungsdesign
5.1.1 Untersuchungsmethode
5.1.2 Auswahlverfahren
5.1.3 Konstruktion des Erhebungsinstruments
5.2 Pretest
5.3 Ergebnisse
5.3.1 Fragebogen - Rohdaten
5.3.2 Qualitative Inhaltsanalyse
5.4 Reflexion
6. Fazit
7 Ausblick
8. Literaturverzeichnis
9. Anlage(n)
Die moderne Gesellschaft zeichnet sich besonders durch die Digitalisierung aller Lebensbereiche aus. Die digitale Online-Kommunikation, wie wir sie heute kennen, hat sich nun seit über mehreren Jahren bewährt und ihre Spuren hinterlassen. Doch wie ist es mit den „klassischen“ Kommunikationstheorien? Insbesondere mit dem systemtheoretischen Ansatz der Kommunikation nach Luhmann? Niklas Luhmann hinterließ sichtlich Spuren in der Welt der Soziologen, doch kann die Theorie auch die digitale Online-Kommunikation beschreiben oder muss diese ebenfalls, wie bspw. die Kommunikationsformen, angepasst werden?
Mit dieser Frage auseinandergesetzt hat sich insbesondere Iris Thye, die mittels der präzisen Analyse des systemtheoretischen Kommunikationsbegriffs den Einfluss der digitalen Kommunikation auf die Gesellschaft ausführlich beleuchtet hat. Inwieweit der Einfluss auf den (systemtheoretisch) analytischen Kommunikationsbegriffs ausfällt, insbesondere die dyadische Kommunikation zwischen Personen mit sozialer Beziehung, wurde nicht näher erläutert.
Somit versucht die Arbeit zu erläutern, inwiefern die digitale dyadische Kommunikation zwischen Personen mit bestehender sozialer Beziehung Einfluss auf die Kommunikation im analytisch systemtheoretischen Sinne nach Luhmann hat. Mithilfe eines konstruierten Fragebogens und der anschließenden qualitativen Inhaltsanalyse wird versucht der offenen Frage auf den Grund zu gehen.
Nach eingehender Analyse des systemtheoretischen Kommunikationsbegriffs und der empirisch erworbenen Daten ist die Theorie auch auf die digitale Online-Kommunikation anwendbar. Der Ablauf der Kommunikation bleibt ungeachtet der Nutzung der Kommunikationsform und -medium im Grunde genommen dieselbe. Einzig allein die Nutzungsmöglichkeiten der Kommunikationsmedien ändern sich, mit weitreichenden Folgen. Die temporär versetzte Annahme oder Ablehnung der Kommunikationsofferte wird anstelle der sich anbietenden synchronen Kommunikation präferiert genutzt, da insbesondere soziale Pressionen im Vergleich zur mündlichen Interaktion nicht unmittelbar zu erwarten sind. Dafür aber wird der Fokus vor allem auf das psychische Sinn-Verstehen gelegt, um mithilfe einer „angemessenen“ Formulierung und Grammatik Missverständnisse zu vermeiden.
Abbildung 1: Kommunikation in Systemen (eigene Darstellung) 10
Abbildung 2: systemtheoretischer Kommunikationsablauf (eigene Darstellung) 17
Abbildung 3: Zeitdifferenzen in der schriftlichen Kommunikation (eigene Darstellung) 23
Danksagung:
Besonderer Dank gebührt meinem betreuenden Professor, Herr Prof. Dr.-Ing. Manfred Leisenberg, für seinen Rat und seine stets zuverlässige und hilfreiche Unterstützung.
Die Kommunikation in der Gesellschaft hat sich im Laufe der Jahrzehnte spürbar verändert. Es wird nunmehr der Kopf gesenkt und mit konzentrierten Blicken mit dem Smartphone oder treffender formuliert mit dem Kommunikationspartner „auf der anderen Seite der Leitung“ kommuniziert. Bilder von Menschenmassen, die allesamt festen Blickes mit ihrem Smartphone interagieren sind keine Seltenheit mehr. Die digitale Kommunikation hat uns alle eingeholt. Ungeachtet der Generationen, egal ob jung oder alt, das Kommunizieren mittels internetfähiger Endgeräte ist Teil der modernen Gesellschaft geworden.
Kommunikationsmedien waren schon seit jeher unabdingbar für die Entwicklung von Gesellschaften bzw. sie waren es, die ein soziales Leben überhaupt erst ermöglichten.[1] Die Lautsprache ermöglichte im Gegensatz zu der Zeichensprache eine weitaus verständlichere und effektivere Kommunikation, da sie sich der quasi unerschöpflichen Kombinationsmöglichkeiten von Buchstaben, Wörtern und damit auch Sätzen bedient. Der Buchdruck galt als erste Form der Medien, die einen Wandel in der Verbreitung von Informationen mit sich brachte. Die Kommunikation war nicht mehr an Ort und Stelle gebunden, vielmehr konnten Wort und Sprache die Zeit überwinden und somit neue Dimensionen der Kommunikation ermöglichen. Anschließend kamen mit dem Radio akustische Zeichen hinzu und mit dem Fernsehen dann auch letztendlich optische. Mit dem Beginn der rasanten Verbreitung der digitalen Online-Kommunikation öffnete sich ein völlig neues weiteres Kapitel in der Kommunikations-Geschichte der Menschheit, die das Verbreiten von Informationen über die Grenzen der Raum- und Zeitgebundenheit hinweg erlaubt.
"Kommunikation ist unwahrscheinlich. Sie ist unwahrscheinlich, obwohl wir sie jeden Tag erleben, praktizieren und ohne sie nicht leben würden." (Luhmann, 2001, S. 78) „Ziel der Kommunikation ist nicht Konsens, sondern Fortsetzung der Kommunikation.“ (sinngemäß nach Luhmann)
Das sind nur einige von vielen kontroversen Aussagen Niklas Luhmanns, seinerzeit weltweit anerkannter Soziologe und Gesellschaftstheoretiker, der mit seinen zahlreichen Veröffentlichungen rund um die Entstehung und Entwicklung der Gesellschaft jenseits seines Fachgebiets Anklang gefunden hat. Insbesondere mit dem Kommunikationsbegriff, der im Rahmen der Systemtheorie konstruiert wurde, beschäftigte sich Luhmann äußerst ausführlich und nahm mit dem Ansatz von Systemen, Selektion und Differenzierung eine neue Sichtweise ein.
Die gängige deutsch- sowie englischsprachige Literatur aus den Bereichen der Kommunikationswissenschaften und Soziologie befassen sich weitestgehend entweder mit dem Einfluss der digitalen (Massen-) Kommunikation auf die Gesellschaft und ihre Struktur oder mit der (kritischen) Vertiefung des systemtheoretischen Kommunikationansatzes bzw. im Allgemeinen der Systemtheorie (siehe dazu Baecker, D.: Zehn Jahre danach: Niklas Luhmann „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ (2007); Dieckmann, J.: Luhmann-Lehrbuch (2004); Thome, H.: Der Versuch, die "Welt" zu begreifen : Fragezeichen zur Systemtheorie von Niklas Luhmann (1973); Schulte, G.: Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie (1993)). Weitere Literatur behandelt die sog. Kommunikationswende („communicative turn“) in der soziologischen Kommunikation, die die Relevanz kommunikativer Handlungen herausstellt und dabei unter anderem auch auf die Wirkung digitaler Kommunikation im Sinne der Kommunikationstheorien eingeht. Besonders die Beiträge von Jürgen Habermas, Claude E. Shannon und Walter Weaver, Wilhelm von Humboldt oder Gregory Bateson (um nur einige zu nennen) prägten den soziologischen Kommunikationsbegriff und dienten Autoren der „Neuzeit“, wie bspw. Dirk Baecker Studien zur nächsten Gesellschaft (2007) oder Klaus Beck: Computervermittelte Kommunikation im Internet (2006).
Die Autorin Iris Thye hingegen hat sich genauer mit dem Einfluss der digitalen Kommunikation auf den luhmannschen Begriff der Kommunikation im analytischen Sinne befasst. Sie erkannte, dass „wenn Kommunikation mit Luhmann als die grundlegende soziale Operation zu verstehen ist, die der Systemtheorie zufolge Gesellschaft allererst konstituiert, dann haben technisch bedingte Veränderungen in der Kommunikation bahnbrechende Veränderungen in der Gesellschaft, ihren Strukturen und Semantiken zur Folge.“ (Thye, 2013, S. VII) Ihren Ausarbeitungen nach wird durch die immer weiter zunehmende Nutzung digitaler Plattformen und Kommunikationen die Synthese der drei Komponenten der Kommunikation Information, Mitteilung und Verstehen beträchtlich beeinflusst. Die erhöhte Zunahme an Information und folglich auch die erhöhte Wahrscheinlichkeit an Redundanz sowie die „simple Erreichbarkeit“ von Kontakten und damit der Verbreitung von Informationen und im besonderen Maße die Möglichkeit der digitalen Anonymität, die keine Zuordnung der Mitteilung einer Information (Sender) und des Verstehens (Alter) zulässt sind die wesentlichen Gründe, weshalb sich die Kommunikation in der Komplexität verliert (Thye, 2013, S. IX). Da der systemtheoretische Kommunikationsbegriff auf der Annahme basiert, dass die Kommunikation sich innerhalb der funktional geordneten Gesellschaft stets bekannten Systemen (Personen oder Organisationen) zuordnen lässt, fehlt der Verweis auf nicht zurechnungsfähige Kommunikationsabläufe, die die digitale Anonymität erlaubt. Thye weiter:
„Die strukturellen Veränderungen in der Kommunikation begrifflich zu erfassen und zu reflektieren, sie mithin in den Begriff der Kommunikation mit aufzunehmen, vermag der luhmannsche Kommunikationsbegriff allerdings nicht, was wenig verwundert, ist er doch gekoppelt an die übersichtliche Ordnung einer funktional differenzierten Gesellschaft.“ (Thye, 2013, S. X).
Thye geht zwar ebenfalls auf die digital schriftliche Kommunikation unter bekannten Gesprächspartnern ein und verweist auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur mündlichen Kommunikation, die in der Interaktion begründet liegen. Sie geht jedoch nicht genauer auf die Konsequenzen im Ablauf des analytischen Kommunikationsbegriffs ein und beschäftigt sich dementsprechend nicht präzise genug damit, inwieweit die digital schriftliche Kommunikation mit bekannten Gesprächspartnern den systemtheoretischen Kommunikationsbegriff im analytischen Sinne beeinflusst. Zumal Thye‘s Erkenntnisse theoretischer Natur sind und empirische Studien nicht erkennbar hinzugezogen worden sind.
Aufgrund der eingangs erwähnten Forschungslücke bezüglich des Einflusses digital schriftlicher Kommunikation auf den systemtheoretischen Kommunikationsbegriff lautet die Forschungsfrage dieser Arbeit, ob und wenn dem so ist, inwiefern die digitale dyadische Kommunikation zwischen Personen mit bestehender sozialer Beziehung Einfluss auf die Kommunikation im analytisch systemtheoretischen Sinne nach Luhmann hat. Weiterhin versucht die Arbeit mit den Ergebnissen der empirischen Untersuchung zu erläutern, welche analytischen Konsequenzen ein möglicher Einfluss hat. Die daraus formulierte Hypothese lautet, dass aufgrund der Nutzung digitaler dyadischer Kommunikation in sozialen Beziehungen der systemtheoretische Erklärungsansatz Luhmanns dementsprechend angepasst werden muss, da es diese Form der Kommunikation so vorher noch nie gegeben hat.
Diese Arbeit konzentriert sich auf die digitale Kommunikation zwischen Personen mit sozialer Beziehung, ebenfalls bekannt unter dem Begriff der „dyadischen Kommunikation“. Das heißt, dass die Kommunikation mit „unbekannten“ Personen, wie es in sozialen Netzwerken der Fall sein kann, nicht Gegenstand dieser Arbeit ist und demnach nicht weiter behandelt wird. Dies hat zum einen den Grund, dass eine weitere Analyse bzw. Beobachtung der Kommunikation zwischen Personen, die keine soziale Beziehung führen, ein weiteres Phänomen darstellt, das aufgrund der Eigendynamik dieser Netzwerke gesondert analysiert werden muss und zum anderen folglich den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Des Weiteren wird ebenso nicht weiter auf die digitale Kommunikation in Gruppen, in der der Empfängerkreis aus mind. mehr als 2 Personen besteht, eingegangen, da in Bezug auf die systemtheoretische Kommunikation die Gruppenkommunikation ein ebenso weiteres Phänomen darstellt.
Dem einfacheren Verständnis halber sowie aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird sich in der Arbeit weder auf die weibliche noch auf die männliche Form festgelegt. Sowohl die eine als auch die andere Form schließt die jeweils andere mit ein. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichwohl für jedes Geschlecht.
Die Arbeit setzt sich trotz der kontrovers diskutierten Theorieansätze nicht kritisch mit der Systemtheorie Luhmanns auseinander. Die Teilthemen der Systemtheorie Luhmanns werden in Hinblick auf die Forschungsfrage analysiert und wiedergegeben. Die Themenanteile spiegeln den Fokus der Arbeit auf die digitale Kommunikation sozialer Beziehungen wider, das hat zur Folge, dass einige Teilthemen nicht so ausführlich behandelt werden wie andere. Unterschieden wird stets zwischen Kommunikation im Medium Lautsprache und digitaler (schriftlicher) Kommunikation.
Die Einführung zur luhmannschen Systemtheorie wird zunächst in einer stark verkürzten Fassung dargestellt, da sie zwar die Basis des Kommunikationsbegriffs bildet, jedoch keinen entscheidenden Beitrag zur Beantwortung der Forschungsfrage leistet. Der theoretische Teil der Arbeit befasst sich hauptsächlich mit der Herleitung der systemtheoretischen Kommunikation und bildet diese ausführlich ab. Der rote Faden der Forschungsfrage zieht sich durch die gesamte Arbeit, weshalb folglich die Kommunikationsmedien Schrift sowie digitale Kommunikation vergleichsweise ausführlicher behandelt werden.
Die anschließende empirische Analyse baut auf die im theoretischen Teil wiedergegebenen Erkenntnisse der systemtheoretischen Kommunikation in Hinblick auf die digitale Kommunikation im Vergleich zur mündlichen Interaktion auf. Die Fragenkataloge, die zum einen nach den Akten der Kommunikationseinheit zum anderen nach den Unwahrscheinlichkeiten der Kommunikation unterteilt sind, werden jeweils in Anbetracht der Forschungsfrage analysiert, um darauf nachfolgend eine kritische Reflexion der empirischen Analyse zu verfassen. Abschließend wird ein zusammenfassendes Fazit gezogen.
Luhmann erhebt zwar „Universalitätsanspruch“ (Luhmann, 1987, S. 33) auf seine Systemtheorie, dies ist jedoch nicht als eine sog. Welttheorie zu verstehen, die die gesamte Realität mit all ihren Elementen so wie sie ist widerspiegelt. Ganz im Gegenteil, denn die Systemtheorie beschreibt Luhmann als selbstreferentiell, da sie selbst Teil der Gesellschaft ist und versucht diese und somit auch sich selber zu beschreiben. Demnach „impliziert Selbstreferenz in dem Sinne, daß die Systemtheorie immer auch den Verweis auf sich selbst als einen ihrer Gegenstände im Auge behalten muß“ (Luhmann, 1987, S. 31).
Systeme sieht Luhmann als Form an, die Grenzlinien bzw. Markierungen einer Differenz darstellen.[2] Beschreibt man die sog. Form bzw. das System, so muss man auch zwingend klarstellen, welche Seite gerade beschrieben wird und schließt damit die jeweils andere Seite aus, wodurch eine bezeichnete Differenz gebildet wird, die das System konstituiert.
„Jede Seite der Form ist die andere Seite der anderen Seite. Keine Seite ist etwas für sich selbst. Man aktualisiert sie nur dadurch, daß man sie, und nicht die andere, bezeichnet. In diesem Sinne ist Form entfaltete Selbstreferenz, und zwar zeitlich entfaltete Selbstreferenz. Denn man hat immer von der jeweils bezeichneten Seite auszugehen und braucht die Zeit für eine weitere Operation, um auf der bezeichneten Seite zu bleiben oder die formkonstituierende Grenze zu kreuzen.“[3] (Luhmann, 1998, S. 66 f.)
Eine Abbildung der Realität ist demnach in keiner Weise möglich, lediglich die Beobachtung dieser und somit die „Analyse realer Systeme in der wirklichen Welt“ (Luhmann, 1987, S. 30) erklärt das Ziel der Systemtheorie. Es gibt zum einen die Realität und zum anderen vorhandene Systeme in dieser Realität. Luhmann als Beobachter bzw. als Bewusstseinssystem operiert anhand von Beobachtungen der Realität, indem er Unterscheidungen bzgl. des zu Beobachtbaren trifft (mehr dazu im Kap. 4.2). Die daraus resultierende Realitäts-Konstruktion[4] des Beobachters muss nach Luhmann deshalb stets im Auge behalten werden. (vgl. Berghaus, 2011, S. 24 ff.)
Beobachten heißt auch immer zu unterscheiden. Die konstruierte Realität des einzelnen Beobachters erfolgt durch die Unterscheidung des zu Beobachtbaren. Heißt im Allg., dass der Beobachter bspw. bei der Beschreibung des Wetters zwischen warm und kalt, trocken und nass oder sonnig und wolkig unterscheidet. Diese Zustandsbeschreibungen sind immer nur Konstrukte, denn in der Realität gibt es keine Verneinungen der Zustände. Wenn das Wetter warm ist, so würde die Abwesenheit von Wärme richtigerweise als Kälte bezeichnet werden. Die Kälte gibt es jedoch in der Realität nicht, denn sie ist nur ein Konstrukt des Bewusstseinssystems, um die Abwesenheit von Wärme zu beschreiben und somit zu differenzieren. Die in der Realität vorhandenen Zustände sind zwar „echt“, sie beruhen auf Konstanz und können ebenfalls von anderen Bewusstseinssystemen beobachtet werden, jedoch beruhen sie auf Differenzierungen durch Beobachter und sind somit lediglich Konstrukte der Realität. (Berghaus, 2011, S. 26 ff.)
„Ohne Wasser macht die Qualle schlapp. Das zu erkennen erfordert jedoch Unterscheidungen: mit/ohne Wasser, nicht-schlapp/schlapp. Diese Unterscheidungen selbst sind erkenntnisspezifische Codierungen, und sie fungieren umweltindifferent (reizungsspezifisch) insofern, als es für sie keinerlei Äquivalente in der Umwelt gibt und auch nicht geben kann.“ (Luhmann, 1990, S. 50)
Erst die Beobachtung von Differenzen macht die Welt erleb- und beschreibbar.
Systeme sind nach Luhmann ein kompliziertes, in sich funktionierendes Gebilde bestehend aus Operationen, die die Letzteinheit aller Systeme darstellen. Psychische Systeme bspw. Operieren, indem sie Gedanken an Gedanken anschließen. Soziale Systeme operieren mittels Kommunikation. Operation beschreibt in dem Sinne die Aktivitäten der einzelnen Systeme, die dadurch erst erzeugt werden und sich selber erzeugen. (mehr dazu in Kap. 4.3)
Voraussetzungen für jedes der drei definierten Systemtypen[5] sind die System/Umwelt-Differenz und die Autopoiesis. Die Differenz zwischen Systemen und alles außerhalb davon wird als Umwelt bezeichnet. Diese Differenz macht sie erst beobachtbar, unterscheidbar und beschreibbar. Die Umwelt ist also stets systemrelativ zu betrachten. Heißt alles, was das psychische System beobachtet, wird automatisch zu seiner Umwelt. Die Umwelt per se existiert also gar nicht. Die Umwelt existiert nur als „alles andere“ zum System und ist somit für jedes psychische System eine andere. Alles, was das psychische System mittels ihres Operators Gedanken/Kognitionen betrachtet, wird für sie zur Umwelt. Selbst der eigene Körper (biologisches System), die Kommunikation und soziale Kontakte (soziales System) sind, für das psychische System betrachtet, als Umwelt zu bezeichnen. Die Umwelt selbst operiert nicht, lediglich die Operatoren und somit die Systeme in der Umwelt des Systems können operieren. (Luhmann, 1998, S. 82; Berghaus, 2011, S. 41 ff. und Thye, 2013, S. 4 ff.)
Autopoiesis
Lebende (biologische), psychische und soziale Systeme sind autopoietisch (selbstherstellend) und operational geschlossen. Sie produzieren sich durch die Nutzung ihrer eigenen Operatoren (Gedanken, Kommunikation) selber und reproduzieren sich dadurch. Vergleichbar ist dieser Ansatz mit den biologischen Prozessen des Lebens. Biologische Organsimen reproduzieren sich durch die Geburt selbst und je weiter der Kreislauf des Lebens fortgesetzt wird, so besteht das biologische System weiterhin. Durch das Anschließen von Gedanken an weitere Gedanken entstehen psychische Systeme. Und durch das weitere Anschließen von Kommunikation an Kommunikation entstehen soziale Systeme. Sie selbst sind, bedingt durch die Nutzung der in sich existierenden Operatoren, operativ geschlossen und stellen sich somit selber her (autopoietisch). Dem System wird nichts von „außen“ hinzugefügt, noch fügt es sich selber etwas hinzu. Es entsteht durch sich selbst und grenzt sich damit von ihrer Umwelt ab.
„Insofern heißt Autopoiesis: Produktion des Systems durch sich selber.“ (Luhmann, 1998, S. 97)
Die Systeme operieren lediglich in ihren eigenen selbstproduzierten Grenzen. Kein System kann ein anderes System kontrollieren oder vorgeben, was es bspw. denkt. Das psychische und das soziale System sind in dem Sinne zwar strukturell gekoppelt, dass Letzteres ohne psychische Systeme nicht existieren würde jedoch agieren sie weiterhin operativ autonom. (vgl. Thye, 2013, S. 6 f.)
Jeglicher soziale Kontakt, der eine Interaktion voraussetzt, die wiederum Kommunikation fordert, wird als System verstanden. Die Kleinstform eines sozialen Systems ist die der Interaktion. Weiterführend sind Organisationen jeglicher kommunikativen Art ebenfalls als soziale Systeme zu bezeichnen, bspw. Massenmedien, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft Kunst und auch Liebe. Sie alle sind abermals Teilsysteme eines weiteren sozialen Systems der Gesellschaft und sie haben alle eins gemein, sie alle bestehen aus dem Operator Kommunikation. (vgl. Luhmann, 1998, S. 108ff. und 378f. sowie Berghaus, 2011, S. 61 ff.)
Die Kommunikation kommuniziert in sozialen Systemen, genauer formuliert, durch die operative Schließung der autopoietischen Operationen Gedanke und Kommunikation entstehen erst soziale Systeme ebenso wie ihre Umwelt bestehend aus psychischen Systemen. Die beiden Systeme operieren geschlossen, heißt sie arbeiten völlig eigenständig und dennoch sind sie beeinflussbar aneinandergekoppelt. Keines der Systeme kann ohne das andere existieren. Sie setzen sich gegenseitig voraus. (vgl. Luhmann, 1998, S. 100 ff. und Berghaus, 2011, S. 67 ff.)
„[…] alle Kommunikation [ist] strukturell gekoppelt an Bewußtsein. Ohne Bewußtsein ist Kommunikation unmöglich. Kommunikation ist total (in jeder Operation) auf Bewußtsein angewiesen – allein schon deshalb, weil nur das Bewußtsein, nicht aber die Kommunikation selbst, sinnlich wahrnehmen kann und weder mündliche noch schriftliche Kommunikation ohne Wahrnehmungsleistung funktionieren könnte“ (Luhmann, 1998, S. 103)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Kommunikation in Systemen (eigene Darstellung)
Den Gedanken weiterführend können Gedanken als psychische Operation niemals die operative Kommunikation sozialer Systeme steuern. Umgekehrt gilt, dass die soziale Operation Kommunikation die Gedanken eines psychischen Systems weder beeinflussen noch überhaupt einsehen kann. Das, was in einem psychischen System passiert, bleibt für die Kommunikation nicht einsehbar. Die Gedanken selbst können demnach nicht kommuniziert werden, lediglich der Operator sozialer Systeme nämlich die Kommunikation kommuniziert. (vgl. Thye, 2013, S. 7)
„Es gibt also keine »bewußten Kommunikationen«, so wenig wie es »kommunikatives Denken« (Empfinden Wahrnehmen) gibt. Oder anders gesagt: Der Mensch kann nicht kommunizieren; nur die Kommunikation kann kommunizieren.“ (Luhmann, 1990, S. 30 f.)
Die Reaktion des Gesprächspartners auf die Kommunikationsofferte, ob er sie weiterführt, sie ablehnt oder sie missversteht (im Allg. seine Gedanken), ist nie vorhersehbar und auch nicht vom psychischen System kontrollierbar. Alles, was in der Kommunikation kommuniziert wird, bleibt nur in der Kommunikation. Darüber hinaus agieren das psychische und soziale System simultan ohne jegliche Überschneidung. Es ist nicht möglich während bzw. parallel zu der Kommunikation zu wissen, was der gegenüber denkt oder fühlt. Erst im Anschluss mittels weiterer fortführender Kommunikation ist es möglich die Gedankenlage des jeweils anderen sicherzustellen.[6]
„Sie[7] schließt überdies mit den Bedingungen ihres eigenen Funktionierens aus, daß die Bewußtseinssysteme den jeweils aktuellen Innenzustand des oder der anderen kennen können, und zwar bei mündlicher Kommunikation, weil die Beteiligten mitteilend/verstehend gleichzeitig mitwirken, und bei schriftlicher Kommunikation, weil sie abwesend mitwirken.“ (Luhmann, 1998, S. 81 f.)
Kommunikation als autopoietische Operation
Die Kommunikation gilt als Letzteinheit aller sozialen Systeme und lässt sich nicht weiter auflösen. Sie ist dadurch eine genuin soziale Operation, dass sie stets mind. zwei psychische Systeme erfordert, aber als Einheit wiederum keinem einzelnen Bewusstsein zugeordnet werden kann. Kommunikation ist deshalb stets sozial und die Art von Operator, durch die sich soziale Systeme bilden, erhalten und von ihrer Umwelt abgrenzen. (vgl. Luhmann, 1997, S. 81 f.)
Die Kommunikation ist ein sich selbstbestimmender Prozess. Kommunikation schließt sich an Kommunikation schließt sich an Kommunikation usw. Sie ist ein sich selbsttragendes System, dass sich über diese Operation selbst produziert. Jedes Verstehen oder Missverstehen wird erst durch weitere Kommunikation deutlich. (Thye, 2013, S. 95)
„Weder der Sprecher noch der Hörer kann den Tatbestand der Kommunikation als solchen leugnen. Man kann allenfalls mißverstehen oder schwer verstehen oder interpretieren oder sonst wie nachträglich über die Kommunikation kommunizieren. Die Probleme der Kommunikation werden in die Kommunikation zurückgeleitet. Das System schließt sich. Eine normalerweise entropische Entwicklung von Kommunikationsansätzen in Richtung Nichtkommunikation wird durch Sprache umgedreht und in die Richtung des Aufbaus komplizierter, interpretationsfähiger, sich auf bereits Gesagtes stützender Kommunikationsweisen gelenkt. Die an sich unwahrscheinliche Autopoiesis eines Kommunikationssystems wird auf diese Weise wahrscheinlich.“ (Luhmann, 1998, S. 212)
Soziale und psychische Systeme operieren zwar wie im vorigen Kap. 4.2 angesprochen unabhängig voneinander, jedoch sind sie miteinander so verkoppelt, dass Kommunikation ohne Bewusstsein nicht erfolgen kann und im Umkehrschluss die Kommunikation für das Bewusstsein essentiell ist. Beide Systeme bedienen sich der Sprache und besitzen den Drang dazu „sinnvoll“ zu operieren – genauer formuliert zu beobachten, zu denken und zu kommunizieren. Dies tun sie mittels des Universalmediums Sinn. Universal, weil alle ausführbaren Operationen jedes Systems auf Sinn beruhen. Jedes Denken, jede Beobachtung, jede Kommunikation wird vollzogen, weil sie dem System als sinnvoll erscheint. Sinn ist allumfassend und unvermeidlich eben universell. Alle psychischen und sozialen Prozesse erfolgen zwangsläufig innerhalb eines nicht negierbaren Sinns. Sinn als Medium kann weder vermieden noch verneint werden. Die Sinnformen, die aus der Beobachtung innerhalb der „Welt“ resultieren, sind dagegen negierbar. Etwas als sinnlos oder sinnfrei zu bezeichnen, ist nur möglich, da diese Aussage eine Sinnform darstellt und für den Mitteilenden sinnvoll erscheint und ihr demnach ein Sinn hinzugefügt wurde. Sinn kann vieles sein. Er verleiht einer Information eine Bedeutung, er erklärt die Intention des Mitteilenden einer Mitteilung, er begründet die Selektion eines psychischen Systems. Im Allgemeinen ordnet Sinn die Welt in eine für den Beobachter sinnvolle Strukturierung.
„[…] die Welt ist ein unermeßliches Potential für Überraschungen, ist virtuelle Information, die aber Systeme benötigt, um Information zu erzeugen, oder genauer: um ausgewählten Irritationen den Sinn von Informationen zu geben.“ (Luhmann, 1998, S. 46)
Sinn existiert nicht per se, er wird von einem Beobachter (psychischen System) im Moment der ausführenden Operation erst konstruiert, um der Welt und damit auch all den beobachtbaren Differenzen einen Sinn zu geben. Sinn ist demnach ein zugewiesenes Produkt der Operationen – ein Konstrukt -, wie es in der Differenzierung von System und Umwelt ebenfalls der Fall ist. (vgl. Luhmann, 1998, S. 44-59 und Berghaus, 2011, S. 120-124)
Sinndimensionen
Da die Welt stets in Differenzen beobachtet wird und damit jede Selektion aus einer Vielzahl von anderen Möglichkeiten der Selektion getroffen wird, scheint der Prozess der Sinnkonstruktionen folglich schier unendlich zu sein.[8] Dieser wird jedoch durch die analytische Einteilung des Sinns in drei Dimensionen eingegrenzt bzw. unterbrochen.
Die sachliche Sinndimension der Kommunikation beschreibt die zu mitteilende Information, die im zeitlichen Rück- oder Vorgriff (Anschlusskommunikation) auf andere Kommunikationen zu einem bestimmten Zeitpunkt mitgeteilt (zeitliche Dimension) und verstanden (soziale Dimension) werden muss. (vgl. Thye, 2013, S. 25)
- Sachdimension:
- Die Unterscheidung von innen nach außen - präziser formuliert -
zwischen System und Umwelt. Die sachliche Sinndimension konstruiert Sinn
über die Differenz von Gegenständen und kommunizierter Themen. Bspw.:
„Wo befinden wir uns gerade und wo nicht?“ oder „Um welche Themen geht
es gerade und um welche nicht?“
- Zeitdimension:
- Die Unterscheidung von vorher und nachher - präziser formuliert -zwischen Vergangenheit und Zukunft.
- Sozialdimension:
- Die Unterscheidung von Ego und Alter - präziser formuliert - zwischen
der eigenen Perspektive und der der anderen. (vgl. Luhmann, 1998, S.
1136 f. und Berghaus, 2011, S. 124 f.)
„Kommunikation ist […] eine Synthese aus drei Selektionen. Sie besteht aus Information, Mitteilung, und Verstehen. Jede dieser Komponenten ist in sich selbst ein kontingentes Vorkommnis.“ (Luhmann, 1998, S. 190)
Nach Luhmanns Auffassung besteht die Kommunikation aus der Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen. Jemand teilt etwas mit und der Gegenüber versteht den Akt der Kommunikation, indem er die Differenz zwischen Information und Mitteilung erkennt. Dabei ist jedes kommunizierte Wort, jeder kommunizierte Satz eine Wahl aus vielen anderen Möglichkeiten. Die Freiheit auf der einen Seite aus vielen Optionen zu wählen, wie man bspw. eine Person grüßt, man sich jedoch auf der anderen Seite zwischen den Selektionsmöglichkeiten entscheiden muss, bezeichnet Luhmann als doppelte Kontingenz. (vgl. Berghaus, 2011, S. 75 f.)
[...]
[1] In Luhmanns Worten, „Die Gesellschaft besteht aus Kommunikation, nicht aus Menschen.“ (Luhmann, 1987)
[2] In Anlehnung an George Spencer Brown’s Laws of Form (1979)
[3] Zeit für eine weitere Operation bedeutet hierbei, dass an eine Operation (hier: Gedanken/Kognitionen) eine nächste anschließt und anschließen muss, wenn das System bestehen bleiben soll.
[4] Nicht falsch zu verstehen als Konstruktion von Einbildungen eines Bewusstseinsystems.
[5] Neben den beiden erwähnten Systemen nennt Luhmann das biologische System also alles „lebende“ als drittes, dessen Operator die im Körper ablaufenden Aktivitäten sind. Von Relevanz für die Kommunikation und somit auch dieser Arbeit sind hingegen die psychischen und sozialen Systeme.
[6] Ausgenommen sind natürlich Interpretationen über den Bewusstseinszustand bzw. der Gefühlslage des Gegenübers.
[7] Gemeint ist hier die Kommunikation
[8] Siehe dazu den Verweis auf Gregory Batesons Diktum: „a difference that makes a difference“ (vgl. Luhmann, 1998, .86)
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