Bachelorarbeit, 2019
48 Seiten, Note: 1,8
Abbildungsverzeichnis
I. Einleitung
II. Das deutsche Schulsystem
1. Die Struktur des deutschen Bildungssystems
2. Bildungsungleichheiten in Deutschland
III. Bildung und soziale Herkunft
1. Pierre Bourdieu – Die Reproduktion ungleicher Bildungschancen
2. Raymond Boudon – primäre und sekundäre Herkunftseffekte
IV. Methodik
V. Daltonunterricht
1. Entstehung
2. Didaktische Methoden
2.1. Individualisierung als Antwort auf die Heterogenität
2.2. Selbstgesteuertes Lernen mit Bezug zum Konstruktivismus
3. „Dalton-Schulen“ in Deutschland
4. Erfolge des Daltonunterrichts und der individuellen Förderung
VI. Ergebnisse
VII. Diskussion
VIII. Fazit und Ausblick
IX. Literaturverzeichnis
X. Anhang
Anmerkung der Redaktion:
Teile des Anhangs wurden aus urheberrechtlichen Gründen entfernt.
Abbildung 1: Modell für die Entstehung und Reproduktion von sozialer Ungleichheit der Bildungschancen nach Boudon (Becker, 2016, S. 191)
Abbildung 2: Das Daltonkonzept (Hendriks, o. J., S. 11)
Diese Arbeit widmet sich dem deutschen Schulsystem und der Frage, wie das Schulsystem bezüglich der Verteilung von Bildungschancen gerechter werden kann. Dabei werden zunächst die Strukturen des deutschen Bildungssystems vorgestellt. Das Schulsystem stellt eine wichtige Institution des Staates dar. Es soll die Bildung als Mensch unterstützen und arbeitet an der „Seele“ der Heranwachsenden. Dabei formt die Schule nicht nur den Menschen, sie dient auch der Erhaltung der kulturellen Identität (Fend, 2009, S. 29 f.). Das Niveau des Schulabschlusses ist für die weitere gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe der Heranwachsenden von immenser Bedeutung.
Im Jahr 2017 verließen 6,3 Prozent der Schüler*innen in Deutschland die Schule ohne einen Schulabschluss (INSM-Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft GmbH, 2019, S. 63). Für diese Heranwachsenden gestaltet sich der weitere berufliche Weg dadurch als schwierig. Dabei werden ihre Bildungschancen in einem hohen Maße durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie aufwachsen, bestimmt. In Studien wie PISA zeigen sich im Vergleich zu anderen Ländern einige Kritikpunkte in Bezug auf die Umsetzung von Chancengleichheit im deutschen Schulsystem (Reiss, Sälzer, Schiepe-Tiska & Klieme, 2016, S. 293 ff.). Um die Ursachen dieser Chancenungleichheit in Deutschland zu eruieren, rücken in der folgenden Untersuchung die strukturellen Bedingungen der Schule und die Unterrichtsführung in den Fokus. Das dreigliedrige Schulsystem und die frühe Selektion der Kinder nach der Grundschule stehen dabei ebenso als mögliche Ursachen zur Diskussion wie die Methoden der Unterrichtsgestaltung (Solga & Wagner, 2001, S. 123 f.; Gudjons, 2006, S. 16 f.). Die Motivation dieser Problematisierung ist die Überzeugung, die angestrebt werden muss, die soziale Herkunft der Kinder von ihrem Bildungserfolg zu entkoppeln. Jedes Kind sollte die gleichen Chancen haben, unabhängig von seinem sozialen Hintergrund.
Mithilfe der Theorien von Pierre Bourdieu und Raymond Boudon soll der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg beleuchtet werden, welcher auch heute noch kaum an Aktualität verloren hat. So erkannte Bourdieu schon 1971, dass sich die ungleichen Bildungschancen stets reproduzieren. Dabei spielt, laut Bourdieu das Kapital, welches er in seiner Kapitaltheorie in das ökonomische, das kulturelle und das soziale Kapital unterteilt, welches in materieller oder in verinnerlichter Form zu finden ist, eine entscheidende Rollte (Bourdieu, 2015, S. 49). Raymond Boudon zeigt auf, wie eine weniger lernanregende Umgebung und eine defizitäre kulturelle Ausstattung des Elternhauses als primäre Effekte und Differenzen in den familialen Bildungsentscheidungen als sekundärer Effekt die Bildungslaufbahn und die Selektionshürden des Bildungssystems beeinflussen (Boudon 1974, S. 29 ff.).
An deutschen Schulen ist eine zunehmende Heterogenität der Schülerschaft zu verzeichnen, die die Lehrer*innen vor große Herausforderungen stellt. Diese Heterogenität zeichnet sich durch Differenzen in der Kapitalausstattung, den häuslichen Lernanregungen sowie in den individuellen Lernvoraussetzungen aus. Das kann zu erheblichen Unterschieden der Leistungsniveaus führen. Die klassischen Unterrichtsmethoden wie der Frontalunterricht können dabei an ihre Grenzen stoßen, da es schwer ist gleichzeitig, jedes Kind individuell zu fördern. Hier kann der individualisierte Unterricht eine Möglichkeit darstellen, auf die Heterogenität der Schüler*innen zu reagieren, da er die Individualität der Schüler*innen berücksichtigt, indem er jedem Einzelnen unterschiedliche Lernbedingungen schafft und Lernziele individuell zuweist. Jede*r Schüler*in weist andere Voraussetzungen und ein anderes Lerntempo auf, was didaktisch individuell Berücksichtigung finden sollte. Diese besondere Form des Lernens ist auch bei dem Daltonunterricht, welcher das Thema des ersten Teils sein wird, zu finden. Der Daltonunterricht wurde von der amerikanischen Lehrerin Helen Parkhurst (1887–1973) entwickelt. Die Grund-Prinzipien dieses Unterrichtes sind Freiheit, Selbständigkeit und Zusammenarbeit (Furch, 1995, S. 11 ff.). Dabei trainieren die Schüler*innen in individualisierten und binnendifferenzierten Unterrichtsphasen selbstständiges und eigenverantwortliches Lernen und Arbeiten. Ausprägung und Dauer der Dalton-Phasen können dabei variieren. In diesen Phasen des Unterrichtes können die Schüler*innen frei wählen, bei welcher*m Lehrer*in und mit welchen Mitschüler*innen sie welche Arbeitsaufträge bearbeiten wollen. Die konstruktivistische Lerntheorie, welche davon ausgeht, dass Lernen individuell eigenaktiv konstruiert wird, macht deutlich, wie wichtig selbstgesteuertes Lernen ist, wobei das Konstruieren von Wissen bei dem Lernenden liegt (Drexl, 2014, S. 23). Anschließend werden einige Schulen in Deutschland vorgestellt, welche mit dem Konzept des Daltonunterrichts arbeiten, sowie ihre Ziele und Erfolge dargestellt. In Bezug zur zuvor dargestellten Problematik der Chancengerechtigkeit im deutschen Schulsystem untersucht die vorliegende Arbeit die folgende Frage:
Kann der Daltonunterricht zu mehr Chancengerechtigkeit im deutschen Schulsystem führen?
In Form einer Literaturarbeit soll in dem Ergebnisteil anhand passender Studien und der anschließenden Diskussion erläutert werden, inwieweit der Daltonunterricht dazu beitragen kann die Bildungsungleichheiten in Deutschland zu vermindern. Am Ende dieser Arbeit werden im Fazit alle Erkenntnisse der Literaturarbeit zusammenfassend erläutert. Die möglichen Aussichten des deutschen Schulsystems, vor allem in Bezug auf ihre Chancenungleichheit, werden in einem Ausblick dargelegt.
Rund 8,3 Millionen Schüler*innen besuchen im aktuellen Schuljahr 2018/2019 eine allgemeinbildende Schule in Deutschland (Statistisches Bundesamt, 2019a, o. S.). Das gesamte Schulsystem in Deutschland liegt laut Art. 7 des Grundgesetzes unter Aufsicht des Staates. Dabei bestimmt die Kulturhoheit der Länder, die sich aus Art. 70 (GG) und Art. 30 (GG) ergibt, die Zuständigkeiten der Bundesländer für die Schulen. Dies wird nachfolgend in einem Überblick der deutschen Schulstruktur erläutert. Anschließend werden die vorhandenen Bildungsungleichheiten in Deutschland aufgezeigt.
Durch den Föderalismus und der damit verbundenen Kulturhoheit der Länder ist eine einheitliche Darstellung der Struktur des deutschen Bildungssystems nicht möglich. Nachfolgend wird auf Einzeldarstellungen der sechzehn Bundesländer betreffenden Schulstrukturen verzichtet, vielmehr werden nur Gemeinsamkeiten oder Besonderheiten dargestellt. Durch die „ständige Konferenz der Kulturminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland“ (KMK) wurde sich auf gewisse Mindeststandards und Regelungen unter allen Bundesländern geeinigt.
Seit einiger Zeit haben die Kindergärten, als Elementarbereich, in den meisten Bundesländern unter der Leitung der Jugendministerkonferenz (JMK) neben ihrer Betreuungs- und Erziehungsaufgabe einen eigenständigen Bildungsauftrag übernommen. Die Wichtigkeit der frühen Bildung wurde unter anderen durch die internationale Lesestudie IGLU (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) untermauert. Sie zeigte erstmals eine positive Korrelation zwischen der Dauer des Kindergartenbesuchs und der Leseleistung der Kinder auf (Bos et al., 2007, S.138). Nach dem Besuch des Kindergartens setzt in Deutschland – mit der Vollendung des sechsten Lebensjahres oder in einigen Bundesländern schon einige Monate früher – die Schulpflicht ein. Die Stichtage zum Beginn der Schulpflicht variieren dabei aktuell in den einzelnen Bundesländern zwischen dem 30. Juni und dem 30. September. Unter bestimmten Voraussetzungen ist eine Zurückstellung oder vorzeitige Einschulung in allen Ländern möglich. Die Schlupflicht umfasst in der Mehrheit der Bundesländer zwölf Jahre. Davon müssen neun bis zehn Jahre an allgemeinbildenden Schulen absolviert werden, die übrigen Jahre im beruflichen Schulwesen.
In der Grundschule, dem Primarbereich, beginnen die schulpflichtigen Kinder gemeinsam ihre Schullaufbahn, es sei denn es gibt einen Grund für den Besuch einer Förderschule. Die Grundschule umfasst, mit Ausnahme von Berlin und Brandenburg, vier Jahre. In Brandenburg und Berlin sind es sechs Jahre. Hier werden den Kindern grundlegende Kulturtechniken wie Lesen und mathematische Grundkenntnisse vermittelt. Zudem bereitet die Grundschule die Kinder auf den zukünftigen Bildungsweg vor. Die Kinder mit einem speziellen Förderbedarf, der aufgrund einer geistigen oder körperlichen Behinderung bestehen kann, werden entweder direkt in einer Förderschule, welche unterschiedliche Schwerpunkte hat, angemeldet oder sie werden seit einiger Zeit in wachsendem Maße integrativ, beziehungsweise inklusiv, gemeinsam mit Kindern ohne besonderen Förderbedarf in den allgemeinen Schulen unterrichtet.
Im Anschluss an die Grundschule folgt zunächst die Sekundarstufe I (in der Regel Klasse 5 bis 10), die je nach Bundesland und Leistung in einer von fünf verschiedenen Schulformen absolviert werden kann. Die Fülle an unterschiedlichen Schulformen, die sich mittlerweile entwickelt hat, wird in der vorliegenden Arbeit nur kurz skizziert (siehe Anhang A). Die Hauptschule, welche sich seit einigen Jahren immer weiter zurückbildet von 4.578 Hauptschulen im Schuljahr 2007/2008 auf 2.344 im Schuljahr 2017/2018 (Statista, 2018, o. S.) – und deren Aufgaben darin besteht den Schüler*innen eine grundlegende Allgemeinbildung zu vermitteln, endet in der Regel nach der Klassenstufe 9. Die Schüler*innen erhalten bei entsprechender Leistung einen Hauptschulabschluss, der erste allgemeinbildende Schulabschluss. Einen erweiterten allgemeinbildenden Abschluss bietet die bis Klassenstufe 10 dauernde Realschule mit dem mittleren Abschluss, der auch Fachoberschulreife genannt wird. Die allgemeine Hochschulreife und eine dadurch vertiefte allgemeine Bildung erhalten die Schüler*innen an einem Gymnasium. Es umfasst die Klassenstufe 5 (beziehungsweise in einigen Bundeländern 7) bis 12 oder 13. Die Dauer des Besuchs wurde in einigen Bundesländern um ein Jahr verkürzt. Diese Änderung wurde jedoch auch teilweise wieder aufgehoben. Die Sekundarstufe I (von Klasse 5 bis 10) wird nach dem Klassenprinzip unterrichtet. In der Sekundarstufe II (ab Klasse 11) wird nach Grund- und Leistungskursen unterrichtet. In der Gesamtschule, welche in der Regel alle Klassenstufen der Sekundarstufen I und II umfasst, können die Abschlüsse aller Bildungswege erreicht werden.
Die verschiedenen Schularten sind derzeit einigen strukturellen Veränderungen der Ausgestaltung unterworfen. Die Hauptschule existiert in mehreren Bundesländern nicht mehr, aber ihr Abschluss kann, zusammen mit dem mittleren Bildungsabschluss, in unterschiedlich benannten Gesamtschulen erworben werden. Es zeichnet sich derzeit in Deutschland die Tendenz nach einer zweigliedrigen Struktur des allgemeinbildenden Sekundarschulwesens ab. Grund dafür ist unter anderem, dass das anregungsreichere Milieu an einer Gesamtschule die Entwicklung von Schüler*innen, die sich bedingt durch ihren sozialen Hintergrund beim schulischen Lernen schwertun, deutlicher fördere (van Ackeren et al., 2015, S. 61).
An unterschiedlichen Abend- oder Tageschulen besteht die Möglichkeit auf dem zweiten Bildungsweg nachträglich Schulabschlüsse zu erwerben.
Schüler*innen, die das Klassenziel nicht erreichen, können den Bildungsgang wechseln oder eine Klasse wiederholen. Klassenwiederholungen gibt es in allen Schulformen und allen Schulstufen und geschehen häufig. Das Wechseln des Bildungsgangs aus anspruchsärmeren in anspruchsvollere Schulformen, wie auch umgekehrt, wird als Durchlässigkeit bezeichnet und dient der Korrektur von Bildungsgangentscheidungen. Jedoch werden diese Möglichkeiten weitaus häufiger wahrgenommen, um in anspruchsärmere Schulformen zu wechseln als in anspruchsvollere (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2014, S. 256).
Um die Bildungsungleichheiten in Deutschland erörtern zu können, werden zunächst die Termini der Chancengleichheit und der Chancengerechtigkeit in Bezug auf das Bildungssystem und der Bildungsungleichheit definiert. Stefan Hradil versteht unter Chancengleichheit im Bildungssystem eine ausschließlich an der individuellen Leistung bemessenen Erwerbung von Bildungsgraden und die dadurch resultierende Verteilung von Lebenschancen (Hradil, 1999, S. 148). Wobei die Chancengerechtigkeit entsprechende Zugangsrechte auf die individuellen Begabungen bezieht. Demzufolge hat jedes Individuum die gleichen Chancen im Bildungssystem, unabhängig von seiner Herkunft und anderen Merkmalen. Unter formaler Chancengleichheit im Sinne der Meritokratie wird verstanden, dass alle Kinder entsprechend ihrer Befähigungen und Leistungen die gleichen Chancen zum Erwerb von Bildungszertifikaten erhalten. Bildungsungleichheiten werden definiert als Unterschiede im Bildungsverhalten und den erzielten Bildungsabschlüssen und Bildungsgängen, die bei den Kindern von den unterschiedlichen sozialen und familiären Bedingungen ausgehen (Müller & Haun, 1994, S. 3). Die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der individuellen sozialen Herkunft wird mit dem Konstrukt der sozialen Bildungsungleichheit beschrieben.
Mithilfe internationaler Vergleichsstudien wird nun im Folgenden die Situation in Deutschland dargestellt. Die internationale Vergleichsstudie PISA (Programme For International Student Assessment) untersucht die Leistungen der Schüler*innen im internationalen Vergleich.
Die PISA-Schulstudien der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) basieren auf einem zweistündigen Leistungstest sowie einer knapp einstündigen Fragebogensitzung. Die Studie untersucht bei 15-jährigen Schüler*innen die Bereiche der Lesekompetenz (Reading Literacy), der mathematischen Grundbildung (Mathematical Literacy), naturwissenschaftlichen Grundbildung (Scientific Literacy) und fächerübergreifende Kompetenzen (Reiss, Sälzer, Schiepe-Tiska, Klieme & Köller, 2015). Zudem werden soziale Disparitäten der Bildungsbeteiligung in Deutschland untersucht (Müller & Ehmke, 2016). Ihre ersten Ergebnisse zur Bildungsgerechtigkeit in Deutschland im Jahr 2000 waren desolat. So waren im Jahr 2000 Schulleistungen und soziale Herkunft in keinem anderen Land so eng miteinander verknüpft wie in Deutschland (siehe Anhang B). Auch hatten die Schulkinder aus höheren Sozialschichten gegenüber Kindern aus Arbeiterschichten eine 7-mal bessere Chance ins Gymnasium zu wechseln (Becker & Lauterbach, 2016, S. 4). Um den Einfluss der sozialen Herkunft auf die schulische Bildung bestimmen zu können, wurde mit dem Index des sozioökonomischen Status gearbeitet. Hierfür wurde in PISA 2000 der „International Socio-Economic Index of Occupational Status“ (ISEI) entwickelt, wobei der Status des höher bewerteten Elternteils als „highest ISEI“ (HISEI) berücksichtigt wurde. Seit 2003 werden in PISA der „Index of Economic, Social and Cultural Status (ESCS) und die Erikson-Goldthorpe-Portocarero-Klassifikation (EGP) zur Auswertung der Daten angewendet, welche mit der Erfassung der Familienstruktur, der Bildungsabschlüsse sowie der Berufstätigkeit der Eltern die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Indikatoren der familiären Herkunft für den Bildungserfolg zusammen darstellen. Ausgangsbasis der verwendeten Indikatoren ist die internationale Standardklassifikation der Berufe (International Standard Classification of Occupations, ISCO-08) (ILO, 1969, 1990, 2012). Das von der internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Office, ILO) für die amtliche Statistik und international vergleichende Erforschung entworfene Instrument wurde in der zuletzt angeglichenen Ausführung eingesetzt (ILO, 2012). Mit dem ISCO werden die Angaben der Schüler*innen zur Berufstätigkeit ihrer Eltern auf vier Stufen hierarchisch gruppiert und die einzelnen Berufe unterschiedlichen Berufsgruppen zugeordnet. Auch die Menge der im Haushalt vorhandenen kulturellen Güter wie die Anzahl der Bücher, Taschenrechner oder Kunstwerke ist für die Ermittlung des sozioökonomischen Status von Interesse. Laut PISA gelten alle Schüler*innen, die nach diesem Index zum unteren Viertel gehören, als sozial benachteilig. Die Gruppe der leistungsstarken Schüler*innen unterscheidet sich hinsichtlich des sozioökonomischen Status, des Bildungshintergrundes und der häuslichen Ausgestaltung mit kulturellem und lernrelevantem Besitz signifikant von den Schüler*innen, deren Kompetenzniveau unter Stufe II liegt (Müller & Ehmke, 2016, S. 305). Seit 2006 ist der Anteil der Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund, welche über geringere sozioökonomische und kulturelle Ressourcen verfügen, in Deutschland um rund 8 Prozent gestiegen (Rauch, Mang, Härtig & Haag, 2016, S. 317). PISA 2015 zeigt zudem Unterschiede in der Beteiligung an den unterschiedlichen weiterführenden Schulen. So ist der Anteil der Jugendlichen ohne Zuwanderungshintergrund an Gymnasien um 11 Prozent höher als der der Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund (ebd., S. 336). In den naturwissenschaftlichen Kompetenzen zeigten sich signifikante Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und solchen ohne Zuwanderungshintergrund, zum Nachteil für die Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund (ebd., S. 338). Außerdem geht aus PISA 2015 hervor, dass der sozioökonomische Status, die Kulturgüter und das Bildungsniveau der Eltern, die naturwissenschaftliche Kompetenz signifikant beeinflussen (ebd., S. 336). Je höher diese sind, umso besser ist auch die naturwissenschaftliche Kompetenz. Die Disparitäten in der naturwissenschaftlichen Kompetenz zwischen Schüler*innen mit und ohne Zuwanderungshintergrund, die zu 22 Prozent vom sozioökonomischen Hintergrund der Familie und der Muttersprache beeinflusst ist, betragen in PISA 2015 61 Punkte (ebd., S. 341 f.).
Die Bildungsungerechtigkeit fällt zudem in den einzelnen Ländern der Bundesrepublik unterschiedlich aus. Aktuell gestaltet sich das in Deutschland wie folgt: 43,5 Prozent der Schüler*innen, die im Jahr 2017 eine allgemeinbildende oder berufliche Schule besuchten, lebten in Familien, in denen mindestens ein Elternteil die Hochschul- oder Fachhochschulreife besaß. 64,7 Prozent dieser Schüler*innen gingen auf ein Gymnasium und 16 Prozent auf eine Hauptschule. Ein Anteil von 17,3 Prozent der Eltern aller Schüler*innen, die im Jahr 2017 eine allgemeinbildende oder berufliche Schule besuchten, besaßen einen Hautschulabschluss. 41,9 Prozent ihrer Kinder gingen ebenfalls auf eine Hauptschule und lediglich 6,9 Prozent auf ein Gymnasium (Statistisches Bundesamt, 2019b, o. S.). Hier ist der Zusammenhang zwischen dem Schulabschluss der Eltern und der besuchten Schulart ihrer Kinder deutlich zu erkennen. Je höher der Bildungsabschluss der Eltern, umso geringer war der Schüleranteil an Hauptschulen und umso höher der an Gymnasien. Das Gleiche gilt auch in umgekehrter Richtung.
Die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU), unter der Verantwortung der International IEA (Association for the Evaluation of Educational Achievement), einem Zusammenschluss von internationalen Wissenschaftlern*innen, Regierungsstellen und Forschungseinrichtungen, wird seit 2001 alle fünf Jahre durchgeführt. Die vierten Jahrgangsstufen der deutschen Schulen nehmen seit Beginn dieser Studie auf Beschluss der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik (KMK) teil. Sie zeigte in der neusten Ausgabe des Jahres 2016 und auch in den früheren Erhebungen in allen Teilnehmerstaaten signifikante Unterschiede in der Lesekompetenz zwischen Schüler*innen aus günstigen und aus ungünstigen sozialen Verhältnissen (Hußmann, Stubbe & Kasper, 2017, S.204). Anhand folgender Indikatoren wurden die sozialen Disparitäten gemessen: die Anzahl der Bücher im Haushalt, der Berufsstatus der Eltern, das Bildungsniveau der Eltern und das Einkommen des Haushaltes (ebd., S. 199 f.). Dabei zeigten sich die größten Unterschiede in der Lesekompetenz in Bezug auf den Berufsstatus der Eltern. So zeigte sich bei Kindern aus Familien der dritten Berufsgruppe (Führungskräfte, Akademiker und Techniker) gegenüber den Kindern aus Familien der ersten Berufsgruppe (manuelle Tätigkeiten) ein Leistungsvorsprung im Leseverständnis um 72 Punkte. Dieser Vorsprung ist ungefähr vergleichbar mit eineinhalb Schuljahren. Deutschland liegt hier signifikant über dem Mittelwert der Vergleichsgruppe EU, die hier bei 55 Punkten liegt (ebd., S. 205). Ein Unterschied von 48 Punkten besteht zwischen Kindern aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil einen tertiären Bildungsabschluss erreicht hat, und Kindern aus Familien ohne dieses Bildungsniveau (ebd., S. 206). In der Sekundarstufe ist dabei die Abhängigkeit des schulischen Erfolgs von der familiären Schichtzugehörigkeit stärker als in der Grundschule. Verantwortlich dafür sind vor allem die ungleichen Lernmilieus sowie Lehrpläne der unterschiedlichen Schularten, die bei gleichen Leistungsvoraussetzungen und Ausgangsbedingungen ungleiche Chancen bedeuten (Solga & Dombrowski, 2009, S. 15). Das bedeutet, dass soziale Ungleichheiten der Bildungschancen und das Risiko der Bildungsarmut im Laufe der Schulzeit zunehmen. Aber auch in den Grundschulen zeigen Kinder aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil einen Fachhochschul- oder Hochschulabschluss besitzen einen Leistungsvorsprung in der Lesekompetenz von ungefähr einem Lernjahr, also 45 Punkte, gegenüber Familien, in denen die Eltern über keinen solchen Abschluss verfügen (Hußmann, Stubbe & Kasper, 2017, S. 212). Im Vergleich zu den Schülern, deren Eltern im Ausland geboren sind, beträgt die Differenz der Leseleistung zum Mittelwert der Schüler*innen ohne Migrationshintergrund 24 Punkte bei einem im Ausland geborenen Elternteil 49, wenn beide Elternteile im Ausland geboren sind (Wendt & Schwippert, 2017, S. 225). Das entspricht einer Differenz des Leistungszuwachses von einem halben Schuljahr bei einem Elternteil und einem ganzen Schuljahr, sind beide Elternteile im Ausland geboren.
Diese Untersuchungen zeigen, dass das Ziel der Reduzierung der migrationsbedingten Disparitäten trotz unterschiedlicher Bemühungen nicht ausreichend gelungen ist. Es ist dabei jedoch anzumerken, dass sich die Zusammensetzung der Schülerschaft in den letzten Jahren verändert und die Heterogenität zugenommen hat (ebd., S. 232). Hier wird deutlich, dass die Förderung der Schüler*innen entsprechend ihrer unterschiedlichen sprachlichen und soziokulturellen Voraussetzungen noch stärker in das Zentrum der bildungspolitischen Bemühungen der Schulen rücken muss.
Die IGLU-Studie befasst sich mit der Thematik des Überganges von der Primar- in die Sekundarstufe, da er für den zukünftigen Bildungserfolg der Schüler*innen von entscheidender Bedeutung ist. Die im internationalen Vergleich recht frühe Aufteilung der Schüler*innen auf die verschiedenen Bildungsgängen in Deutschland wird von vielen Fachleuten kritisiert, da eine verlässliche Prognose der künftigen Leistungsentwicklung in diesen jungen Lebensjahren fraglich sei und zudem die Schullaufbahnpräferenz der Eltern sowie der Lehrer*innen in einem bedenklichen Zusammenhang mit dem sozialen Status und der Herkunft der Familien steht. Laut der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland sollen die Noten der Schüler*innen das wichtigste Kriterium für die Schullaufbahnempfehlung sein. Jedoch zeigt sich, dass in die Schullaufbahnempfehlung, die die Grundschullehrkräfte aussprechen, auch Merkmale der Schüler*innen und ihrer Familien einfließen, die nicht mit der Leistung des Kindes zusammenhängen. Dies weicht von dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Chancengleichheit, die unabhängig vom sozialen Status der Familie sein soll, ab (Stubbe, Bos & Schurig, 2017, S. 243). Ohne weitere Faktoren zu berücksichtigen, haben Schüler*innen aus Familien der oberen Dienstklasse eine 5,18-mal höhere Chance von der Lehrkraft eine Gymnasialempfehlung zu erhalten als Schüler*innen aus einer Arbeiterfamilie (ebd., S. 244). Bezieht man die Faktoren der Lesekompetenz und der kognitiven Fähigkeiten ein, ist diese Chance 3,44-mal so hoch (ebd., S. 245). Hierbei lässt sich im Vergleich der IGLU-Erhebungen von 2001 bis 2016 sogar eine Zunahme dieser Chancen feststellen. Zudem haben Mädchen im Vergleich zu Jungen, ohne weitere Merkmale zu berücksichtigen, bei den Lehrkräften eine 1,26-mal und bei den Eltern eine 1,40-mal höhere Chance das Gymnasium zu besuchen (ebd., S. 245). Betrachtet man nun den Lesekompetenzwert, bei dem eine mehr als 50 prozentige Chance auf eine Gymnasialempfehlung besteht das ist der sogenannte „kritische Wert“, der ab einem Wert von 562 Punkten, also 25 Punkte oberhalb des deutschen Mittelwertes, vorliegt, so erkennt man deutliche Unterschiede zwischen den Berufsklassen. So haben Kinder aus der oberen Berufsklasse bei einem Wert von 518 Punkten gute Chancen auf eine Empfehlung für das Gymnasium, während Kinder aus Arbeiterfamilien 590 Punkte und Kinder von un- und angelernten Arbeitern 620 Punkte benötigen (ebd., S. 246). Zwischen un- und angelernten Arbeitern und der oberen Berufsklasse beträgt die Differenz fast 100 Punkte, was in etwa zwei Lernjahren entsprechen dürfte. Von Chancen- und Bildungsgerechtigkeit kann bei diesen Werten nicht gesprochen werden.
Auch die TIMSS Studie ( Trends in International Mathematicsand Science Study ) von 2015, welche die mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenz von Grundschulkindern in Deutschland international vergleicht, berichtet über eine eher überdurchschnittliche Verbindung zwischen dem sozialen Status und dem Bildungserfolg der Schüler*innen. So zeigte TIMSS 2015, eine Differenz von 35 Punkten im Bereich Mathematik, was in etwa einem Lernjahr entspricht, zwischen Schüler*innen, deren Eltern der oberen Dienstklasse angehören, und Schüler*innen aus Arbeiterfamilien. Im Bereich der Naturwissenschaft lag die Differenz bei 37 Punkten, in etwa anderthalb Lernjahren entspricht (Stubbe, Schwippert & Wendt, 2016, S. 310).
PISA und der IQB-Bildungstrend 2016 zeigten auch deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede. Analysen des „IQB-Bildungstrend 2016“ zeigen, dass Mädchen gegenüber Jungen am Ende der vierten Klasse einen deutlichen Vorsprung im Lesen haben (Stanat et al. 2017, S. 188 f.). In allen sechs PISA-Studien zeigten Mädchen signifikant höhere Kompetenzwerte im Lesen und signifikant niedrigere Werte in den mathematischen Kompetenzen als Jungen (Weis et al. 2016. S. 274; Reiss & Sälzer, 2016, S. 378). Selbst auf dem Gymnasium ist der Vorsprung der Mädchen bei den Schreibleistungen noch erheblich (Gläser-Zikuda & Fuß, 2003, S.8).
Wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben, haben die Ungleichheiten im Bildungssystem seit Jahren viel Aufmerksamkeit erregt. Laut Artikel 3 Absatz 3 des deutschen Grundgesetzes widersprechen sie dem Anspruch auf Chancengleichheit in der Gesellschaft. Mithilfe unterschiedlicher Theorien wird nachfolgend versucht die Ursachen und Gründe für die sozialen Disparitäten im deutschen Bildungssystem zu erläutern. Es werden sowohl die Entscheidungstheorie nach Boudon als auch die Kapitaltheorie nach Bourdieu herangezogen, um den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und dem individuellen Bildungserfolg zu ergründen.
Der französische Soziologe Pierre Félix Bourdieu (1930–2002) gehört zu den einflussreichsten Soziologen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In seinen Schriften befasst er sich unter anderem mit den Fragen der Mechanismen in der Entstehung von Bildungsungleichheit.
Seine Kapitaltheorie (1983) beschreibt gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse, welche von Auseinandersetzungen zwischen dem Individuum und gesellschaftlichen Gruppen geprägt sind. Der Ursprung dieser Theorie liegt in der bildungsstatistischen Analyse der französischen Gesellschaft Anfang der 1960er Jahre (Bourdieu & Passeron 1964). Die Ergebnisse dieser Analyse zeigen, dass Kinder privilegierter Eltern eine bis zu achtzigfach höhere Chance haben eine Universität zu besuchen als Kinder von Landarbeitern (Bourdieu 1966b, S. 25).
Bourdieu unterscheidet in seiner Kapitaltheorie drei Kapitalarten. Diese sind das ökonomische, das kulturelle und das soziale Kapital, die in wechselseitiger Beziehung zueinanderstehen. Sie umfassen das gesamte Vermögen der Familie, wobei Bourdieu nicht das ökonomische, sondern das kulturelle und soziale Kapital in den Vordergrund seiner Analysen stellt (Bourdieu, 1993, S. 54).
Das ökonomische Kapital, das mit den jeweiligen Geldmitteln zusammenhängt, besteht aus dem Besitz und dem Einkommen einer Familie. Es kann durch eigene oder fremde Arbeit akkumuliert werden. Zu dem Besitz zählen neben dem Geldbesitz wie Spareinlagen, Aktien und Ähnliches auch Privatbesitz wie Schmuck, Gold, Kunstobjekte oder Sammlungen wertvoller Güter sowie Land- und Immobilienbesitz. Das Einkommen einer Familie kann sich aus Einnahmen durch Arbeit, Vermietungen, Verpachtungen und Vermögen zusammensetzen und akkumuliert werden. Zudem zählen staatliche Transferleistungen vermehrt zu einer wichtigen Einkommensquelle. Für Bourdieu ist das ökonomische Kapital das dominierende Kapital, das direkten oder indirekten Einfluss auf die anderen Kapitalarten hat.
Das kulturelle Kapital unterteilt er in drei Formen und weist ihm einen hohen Stellenwert zu. Bourdieu unterteilt es in das objektivierte Kapital, das inkorporierte, also verinnerlichte Kapital, zu dem das Bildungskapital zählt und das institutionalisierte Kapital (Bourdieu, 1983, S. 185 ff.). Zu dem objektivierten kulturellen Kapital einer Familie, das das materiell objektivierte Ergebnis kultureller Arbeit darstellt, zählt der Besitz von materiellen Kulturgütern wie Bücher, Musikinstrumente und Kunstgegenstände. Die Handschrift ist nach Bourdieu die reinste Form des objektivierten Kulturkapitals (Bourdieu, 1983, S. 189). Der häusliche Anregungsgehalt durch Bücher beispielsweise wird zu diesem objektivierten kulturellen Kapital gezählt.
Unter dem inkorporierten Kulturkapital, auch Bildungskapital genannt, wird das gesamte Wissen verstanden, das alle kulturellen Fertigkeiten wie Sprache und die Fähigkeit Logik zu verstehen sowie Rechnen und Lesen und Schreiben beinhaltet. Durch einen aktiven Aneignungsprozess wird das inkorporierte kulturelle Kapital akkumuliert. Das kann nicht durch Dritte geschehen (ebd., S. 186). Aus dem akkumulierten, inkorporierten kulturellen Kapital, das sich die Person einverleibt, entsteht ihr Habitus, ihre Seinsart (ebd., S. 187). Dabei vollzieht sich die Übertragung des kulturellen Kapitals innerhalb der Familie durch soziale Vererbung, geplant und teilweise ungeplant durch die Erziehung (ebd., S. 186 f.). Der Habitus ist nicht nur die metaphysische Wesensart einer Person, er ist auch das verkörperte Ausdrucksschema der Zugehörigkeit zu einer Klasse, welche sich in Sprache, Geschmacksvorlieben, Bildung und Manieren äußert. Wichtige Voraussetzungen für die Übertragung des kulturellen Kapitals ist die investierte Zeit seitens des Kindes und der Eltern. Die Eltern investieren das soziale Kapital der Familie um das inkorporierte kulturelle Kapital des Kindes zu vermehren.
Die dritte Form des kulturellen Kapitals ist das institutionalisierte kulturelle Kapital. Dieses ist die entscheidende Kapitalform der Statusverteilung in modernen Gesellschaften, in denen die Bildungseinrichtungen durch die Vergabe von legitimen Bildungstiteln und Zertifikaten nach Leistung selektieren. Es ist die objektivierte Form des inkorporierten kulturellen Kapitals, da es ermöglicht das akkumulierte Bildungskapital auf beruflichen Positionen zu verwerten bzw. es einzusetzen, um an diese zu gelangen. Objektiviertes kulturelles Kapital ist im Gegensatz zu dem inkorporierten kulturellen Kapital, welches an die Person gebunden ist, unmittelbar vererbbar.
Bei dem sozialen Kapital handelt es sich um die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe gründen (ebd., S. 190 f.). Um es aufzubauen, muss Beziehungsarbeit geleistet werden, die Zeit und teilweise Geld, also ökonomisches Kapital, für beispielsweise Geschenke, Fahrtkosten, Ausgaben für Kommunikationsmittel erfordert, um die gegenseitige Anerkennung immer wieder neu zu bestätigen und den Nutzen der Beziehung zu bekräftigen (ebd., S. 192 f.). Dieser Nutzen liegt vor allem in der Möglichkeit der Unterstützung, beispielsweise durch Gefälligkeiten oder Rat durch einzelne Personen oder bestimmte Gruppen (ebd., S. 192). Zu diesen Gruppen zählen unter anderen die Familie, Clubs, politische Parteien wie auch Freundschaften, Bekanntschaften und Geschäftsbeziehungen. Das soziale Kapital ist kein dauerhafter persönlicher Besitz, sondern das Resultat sozialer Wechselwirkungen (ebd., S. 191).
Um die sozial höchst unterschiedliche Bildungsbeteiligung der französischen Gesellschaft zu erklären, entwickelte Bourdieu die Reproduktionstheorie, die für moderne kapitalistische Gesellschaften gilt (Bourdieu 1998, S. 28 ff.). Die Reproduktionstheorie sieht in der ungleichen Verteilung des kulturellen Kapitals, vor allem des Bildungskapitals, die Ursache der ungleichen Verteilung sozialer Positionen in meritokratischen Gesellschaften. Die intergenerationale Übertragung des kulturellen Kapitals in der primären Sozialisationsphase der frühen Kindheit durch die Familie wird durch die Verteilung von Bildungstiteln ähnlich der ungleichen Verteilung des kulturellen Kapitals nach familiärer Herkunft in der Schule als sekundäre Instanz der Sozialisation legitimiert. Dadurch wird die soziale Ungleichheit moderner Gesellschaften fortgeführt. Daher kann die Theorie Bourdieus als Theorie der kulturellen Reproduktion sozialer Ungleichheit bezeichnet verstanden werden (Bourdieu, 1999, S. 175). Sie besagt, dass Familien ihre gesellschaftliche Position im sozialen Raum weitergeben, indem sie durch die Investition von Zeit und Geld das kulturelle Kapital erhöhen. Im Bildungssystem werden die Schüler*innen nach der Höhe ihres vererbten kulturellen Bildungskapitals selektiert und die ungleiche Verteilung sozialer Positionen wird als zulässig aufrechterhalten. Zudem wird durch den Gleichbehandlungsgrundsatz der Schule die Gleichbehandlung der Ungleichen legitimiert. Das wiederum trägt dazu bei, dass bei großen sozialen Unterschieden im kulturellen Niveau und einer Orientierung an dem Bildungsniveau der gebildeten Mittelschicht der kulturelle Reproduktionsprozess fortgeführt wird (ebd., S. 175). Dabei empfiehlt Bourdieu den kompensatorischen Unterricht, in dem es darum geht „allen das zu geben, was einige ererbt haben“ (Bourdieu, 1966a, S. 24), um die Chancenungleichheiten auszugleichen oder zumindest zu verringern. Für Bourdieu ist die Verteilung des kulturellen Kapitals zwischen den unterschiedlichen sozialen Klassen und Klassenfraktionen entscheidend für den Schulerfolg der Kinder (Bourdieu, 1983, S. 185).
Zudem spielt laut Bourdieu und Passeron der Habitus eine wesentliche Rolle. Die Schule erwartet von ihren Schülern*innen, dass sie bestimmte Fähigkeiten von zuhause mitbringen. Dazu gehören die Kenntnisse zu gewissen typischerweise gutbürgerlichen Handlungsweisen und Gütern wie ein sogenannter guter Geschmack. Die Herkunft der Familie bleibt ein wichtiges Kriterium für den schulischen Erfolg. Denn das Herkunftsmilieu beeinflusst auch die Arbeitsweisen der Schüler*innen durch beispielsweise den in der Familie erlernten Umgang mit Büchern, was in unterprivilegierten Klassen nicht selbstverständlich ist. Jedoch besteht die Möglichkeit, auch wenn die Familie durch ihr kulturelles Erbkapital Vieles beeinflusst, durch Motivation in die eigene Bildung zu investieren oder durch individuelle Einstellungen zu Bildung und Schule, einen persönlichen und erfolgreichen Bildungsweg zu finden. Somit kann der sogenannte Schulhabitus, welcher die Bildungseinstellung beeinflusst, durch seine strukturierende wie gleichzeitig auch strukturierte Art eine Veränderung der ursprünglichen Bildungseinstellung bewirken. Aufgrund dessen lässt sich erklären, warum das Verhalten mancher Schüler*innen vom herkunftsbedingten Kapitalniveau, das die Bildungschancen maßgeblich beeinflusst, abweicht und sie trotzdem Erfolg haben.
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