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Essay, 2004
18 Seiten
Ein-Griff der “unsichtbaren Hand”
Die selbstzerstörerische Kraft der Gier
Altruistische Züge des Handels
Die Ökonomie der Habgier
Aktienoptionen - der Anreiz zur Selbstbereicherung
Gezähmte Gier in gesunden Unternehmen
Selbstbindung an den langfristigen Erfolg
Die gegenwärtige Wirtschaftskrise hat ihre Ursache größtenteils in außer Kontrolle geratenen Selbstbereichungsstrategien. Sie widerlegt die Behauptung von Adam Smith, daß in einer freien Marktwirtschaft jeder sein Eigeninteresse verfolgen kann, während sich eine „unsichtbare Hand“ um das Allgemeinwohl kümmere. Diese hat offenbar ihren Zweck verfehlt. Am Rande der Illegalität haben viele der heutigen Wirtschaftsakteure mit ‚unsichtbarer Hand’ ihr Eigeninteresse in Maßlosigkeit pervertiert und dabei das Allgemeinwohl schwer verletzt. Damit sich die kranken Unternehmen wieder erholen können, müssen Wege zur Zähmung der Habgier gefunden werden.
Einer antiken Sage zufolge zerstörte einst der junge Königssohn Erysichthon den heiligen Hain der Demeter. Gegen alle Warnungen fällte er die Bäume, um sich aus dem Holz einen Saal zu bauen und dort herrliche und üppige Mahlzeiten mit seinen Freunden einzunehmen. Doch Demeter verfluchte ihn in ihrem Zorn und entfachte in ihm einen heftigen, wilden und glühenden Hunger. Was immer er verschlang, es ergriff ihn sogleich wieder die Begierde nach Mehr. Nachdem nichts Essbares mehr übrig war, begann er in seiner Gier sich selbst zu verspeisen.
Der Schweizer Nationalökonom Hans Christoph Binswanger hat diese Sage im Lichte der modernen Ökonomie neu interpretiert. Erysichthon steht für den homo oeconomicus, der spätestens mit Erfindung des Geldes keine Grenzen der Sättigung mehr kennt. Da Geld nicht verdirbt und gegen jede Art von Gütern eingetauscht werden kann, vermehrt sein Besitz ständig die Bedürfnisse. Vor allem die Gier nach Gütern, die den eigenen Geltungsdrang befriedigen, wird mit Geld angefacht. So wollte auch Erysichthon, seine Gäste mit seinem Prunksaal beeidrucken und sich damit Ansehen, Prestige und Macht verschaffen.[1]
Daß solche „Geltungsgüter“[2] auch Menschen unserer Zeit niemals zur Ruhe kommen lassen, zeigen die Exzesse heutiger Manager, die im Fieberwahn des Luxus exorbitante Summen ihrer Konzernkasse entnehmen und für ihre Geltungssucht ausgeben. Dennis Kozlowski, der Ex-Chef des amerikanischen Mischkonzerns Tyco, muß sich gerade vor Gericht für seinen Größenwahn verantworten. So ließ er auf Firmenkosten sein Privat-Apartment in New York herrichten. Er ließ z. B. einen geblümten Duschvorhang für 6.000,- US$ montieren, der im Vergleich zu den 125.000,- Dollar teuren Stühlen und dem 103.000,- Dollar teuren Eingangsspiegel noch geradezu günstig war. Insgesamt soll Kozlowski 600 Mio. Dollar veruntreut haben. Kurz vor seinem Rücktritt sank der Firmenwert um 82 Milliarden Dollar, also um fast drei Viertel seines ursprünglichen Wertes.[3] So gesehen ist Kozlowski ein moderner Erysichthon, dem 170 Millionen Dollar, die er als Vorstandschef bei Tyco offiziell verdient hatte, nicht mehr genügten. Er begann daher, in seiner Gier, den Wert seiner Firma „aufzufressen“, und damit seine eigene Lebensgrundlage zu gefährden.
Moralische Empörung und Bestrafung der Akteure mögen unser Bedürfnis nach ausgleichender Gerechtigkeit befriedigen, sie lösen jedoch ein grundsätzliches Problem unseres heutigen Wirtschaftssystems nicht: Dieses belohnt offenbar Egoisten und bestraft Altruisten. Bei näherer Betrachtung ist diese Charakterisierung alles andere als selbstverständlich. Auf den zweiten Blick setzt erfolgreiches Wirtschaften altruistisches Handeln sogar voraus. Denn die Wirtschaft basiert auf dem Tausch handel. Ware und Geld wechseln ihre Besitzer. Dies verlangt wechselseitige Rücksichtnahme, wenn die Geschäftsbeziehung dauerhaft sein soll. Im 18. Jahrhundert war die Auffassung weit verbreitet, daß ökonomische Aktivitäten den Altruismus sogar fördern. So schrieb Samuel Ricard1704: „Der Handel verbindet die Menschen einander durch den beiderseitigen Nutzen. … Durch den Handel lernt der Mensch, besonnen und ehrenhaft zu sein, sich gute Manieren anzugewöhnen und sowohl im Wort als auch in der Tat Klugheit und Zurückhaltung zu üben, …[er] meidet … das Laster oder legt wenigstens ein anständiges und seriöses Verhalten an den Tag.“[4] Montesquieu stellte Jahrzehnte später zum „doux commerce“ fest: „Der Handel … glättet und mildert die Sitten der Barbaren.“[5] Und Immanuel Kant zufolge sorgt der „kluge Kaufmann“ dafür, daß er „seinen unerfahrenen Käufer nicht überteure“, seine Artikel zum „festgesetzten allgemeinen Preis für jedermann“ zugänglich macht und überhaupt „ehrlich bedient“. Gleichwohl tut er dies nicht aus ethischem Pflichtbewußtsein oder besonderer Neigung, sondern „bloß in eigennütziger Absicht“[6].
Tatsächlich vergleicht der Kunde den Wert der ausgegebenen Summe mit dem eingekauften Nutzen (customer value). Ist dieser nicht marktgerecht, wendet er sich an die Konkurrenz. Deshalb handelt der kluge Kaufmann aus ‚höherem Eigeninteresse’[7], wenn er seinen Egoismus zügelt und altruistisch die Interessen seiner Kunden, Mitarbeiter, Lieferanten u. a. mitberücksichtigt; sonst läuft er Gefahr, sie gegen sich aufzubringen.
Die potentielle Gier des Kaufmanns wird also durch sein höheres Eigeninteresse gezähmt. Er geht den fiktiven Vertrag ein, seine Geschäftspartner ehrlich zu behandeln, weil er sonst mit externen Sanktionen belegt werden könnte und sich langfristig dabei selbst mehr schaden als nützen würde. Mit Recht hat man diese moralische Position des Kontraktualismus als „Quasi-Moral“[8] bezeichnet, weil sie nicht um des Guten selbst willen eingegangen wird, sondern ausschließlich um des eigenen Nutzens willen. Man sollte aber die günstige Auswirkung auf das gute Auskommen miteinander nicht unterschätzen.
Der soziale Druck wäre also ein Instrument, die Gier von außen zu zähmen, und die Idee des höheren Eigeninteresses ein Motiv, sie von innen zu begrenzen. Die auf diese Weise gezähmte Gier droht jedoch jederzeit wieder durchzubrechen, wenn sich dem Kaufmann eine Gelegenheit bietet, die Regeln der Ehrbarkeit zu verletzen, und zwar wenn es ihm nützlich ist und er dabei unerkannt bleibt. Aus der Sicht der ökonomischen Logik wäre diese Haltung sogar ausgesprochen rational. Dann bleibt ihm zwar das Risiko des Entdecktwerdens und der damit verbundenen Ächtung durch die Öffentlichkeit. Der Gierige überhört aber wie Erysichthon solche Warnungen nur allzu gerne, denn er ist geradezu süchtig danach, sich alles zum Besitz zu machen, was ihm Geltung verschafft.
So wird das Risiko, durch unehrliches Geschäftsgebahren etwa seine Kunden zu verlieren, häufig vernachlässigt, wenn die Nachfrage größer ist als das Angebot, die Konkurrenz unbedeutend ist oder der Betrug sanktionsfrei bleibt. Dann können Unternehmen ‚Werte’ generieren, die die realen Leistungen bei weitem übersteigen.
Dies war der Fall, bevor die Börsenspekulationsblase zu Beginn dieses Jahrhunderts platzte.[9] Unternehmensführer, InvestmentBanker, Analysten und Consultants hatten im Namen des „Shareholder Value“ Millionen gutgläubiger Anleger gigantische Entwicklungen eines Neuen Marktes in Aussicht gestellt, sie in Wirklichkeit aber schleichend enteignet.
[...]
[1] Hans Christoph Binswanger: Die Glaubensgemeinschaft der Ökonomen – Essays zur Kultur und Wirtschaft. München 1998, S. 11 ff.
[2] Ebd. S. 17
[3] Jan Fleischhauer: „Gier vor Gericht“, in: Der Spiegel, Nr. 2, 2004, S. 78 ff.
[4] Zit. n. Albert O. Hirschman: Entwicklung, Markt und Moral – Abweichende Betrachtungen. Frankfurt a. M. 1993, S. 195.
[5] Zit. n. und übers. v. Hirschman ebd. S. 194.
[6] Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Stuttgart 1978, S. 34.
[7] „Höheres Eigeninteresse“ verweist auf eine langfristige Wahrung des Eigeninteresses durch Berücksichtigung der Interessen anderer. Mathias Schüz: Werte – Risiko – Verantwortung. Dimensionen des Value Managements. München 1999, S. 63.
[8] Ernst Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a. M. 1993, S. 76.
[9] Zur Erinnerung: der Deutsche Aktienindex fiel vom Höchsstand mit 8065 Punkten am 7. März 2000 um 73% auf den Tiefststand von 2189 Punkten am 12. März 2003.