Wissenschaftlicher Aufsatz, 1994
37 Seiten
1. Einführung
1.1 Zu den Begriffen "Spätzeit" und "Archaismus"
2. Zur Anwendung von Interpretationen
2.1 Adolf Erman
2.2 Walther Wolf
2.3 John A. Wilson
2.4 Hellmut Brunner
2.5 Resumée
3. Zu den Grundlagen der neuen Interpretation
3.1 Einführung
3.2 Soziale Systeme
3.3 Kulturelle Konstanz und Tradition
3.4 Sozialer Wandel und soziale Veränderungen
3.5 Ethnozentrismus und Revitalisationsbewegungen
3.6 Resumée
4. Zu verschiedenen Aspekten der neuen Interpretation
4.1 Einführung
4.2 Zur Individualisierung innerhalb der Religion
4.3 Zur grenzmarkierenden Funktion der Körpersymbolik
4.4 Zur grenzmarkierenden Funktion der Schrift
4.5 Zur Legitimation der Herrschaftsträger
4.6 Resumée
Eine neue Interpretation des Archaismus[1]
Keinem Bearbeiter der altägyptischen Geschichte ist der Archaismus, d.h. das Zurückgreifen auf alte Kulturelemente, als ein Charakteristikum der Spätzeit entgangen. Es gibt so viele unterschiedliche Ansichten zum Archaismus und seinen Erscheinungsformen wie es Bearbeiter gibt, jedoch sind die Deutungen der Erscheinungsformen, wie sie in der Nachfolge so bedeutender Ägyptologen wie Adolf Erman oder Gaston Maspero schon seit der Jahrhundertwende (modifiziert) übernommen wurden, heute in erster Linie wissenschaftsgeschichtlich interessant.[2] Bis zu den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts wurden zwar die Ausdrucksformen des Archaismus in Kunst oder Literatur untersucht, nicht jedoch der spätzeitliche Archaismus als kulturelles Phänomen.[3]
Der Spätzeit wurde seitens der Ägyptologie in den vergangenen zwei Jahrzehnten zwar eine immer größer werdende Bedeutung zugesprochen, die Herangehensweise an den Archaismus als ägyptologischen Forschungsgegenstand ist heute dennoch grundsätzlich keine andere, als sie es vor den siebziger Jahren war. Auch in neueren, zeitlich und thematisch sehr begrenzten Untersuchungen werden die Formen des spätzeitlichen Archaismus nicht in einen größeren Kontext gebracht. Hier setzt die vorliegende Arbeit an: mittels soziologischer und ethnologischer Ansätze soll ein neuer Deutungsversuch des Archaismus dargestellt werden.
Zunächst sei der Begriff "Revitalisierung" eingeführt. Revitalisieren meint Wiederbeleben. Alte Kulturelemente werden aufgegriffen und neu belebt, d.h. sie werden mit neuen Inhalten gefüllt: "Wiederbelebung eines Vergangenen bedeutet auch bereits Umdeutung, denn ein kultureller Habitus, der nur noch in der Erinnerung besteht, ist, 'wiederbelebt', nicht mehr mit sich identisch".[4]
Revitalisierungen finden sich in allen Kulturen; sie finden sich weltweit in den verschiedensten Ausformungen.[5] Allein aus diesem Grund ist es zweckmäßig, sich zum Verständnis des Archaismus der Theorien der vergleichenden Kulturwissenschaften zu bedienen. So eröffnen sich Interpretationsmöglichkeiten, die rein ägyptologischer Betrachtungsweise entgehen müssen, zumal in der Ägyptologie, disziplinbedingt, kaum Theorien über kulturelle Phänomene existieren; zudem mangelt es oftmals an konkreten Begriffsbestimmungen oder ihrer korrekten Anwendung.
In dieser Arbeit wird der Versuch unternommen, den Archaismus im Kontext der sozialen Veränderungen der altägyptischen Gesellschaft, als Ausdruck eines Anpassungsprozesses, zu interpretieren. Einen Aspekt gilt es dabei besonders zu beachten: die Ägypter hinterließen keine Aussagen über den Archaismus, sie thematisierten ihn nicht. Dies ist methodisch bedeutungsvoll, denn aufgrund dieser Tatsache können Interpretationen prinzipiell zwar auf ihre Richtigkeit hin überprüft, jedoch nur eingeschränkt falsifiziert werden. Insofern bedeutet ein Auswerten sämtlicher zur Verfügung stehender Daten ebensowenig eine Garantie für die Unanfechtbarkeit einer daraus resultierenden Interpretation wie eine Deutung anhand nur weniger oder sekundärer Quellen.[6]
Bevor im zweiten Kapitel verschiedene Interpretationen des spätzeitlichen Phänomens aufgezeigt werden, folgen im Anschluß einige Erläuterungen zu den Begriffen "Spätzeit" und "Archaismus". Danach werden im dritten Kapitel zunächst die theoretischen Grundlagen dargestellt, auf denen der neue Deutungsversuch des Archaismus basiert. Schließlich werden einige Veränderungen in einem von verschiedenen kulturellen Teilbereichen nachgezeichnet und dem Selbstverständnis der gesellschaftlichen Elite, d.h. den Herrschaftsträgern, nachgegangen. Von Bedeutung ist im Kontext dieser Arbeit ausschließlich die Tatsache, daß es aufgrund der hierarchischen Sozialstruktur in Altägypten eine Elite gab, und daß aus diesem Grund in irgendeiner Form untere soziale Gruppen existieren mußten. Es ist selbstredend, daß diese Elite eine soziale Minderheit darstellte; unerheblich ist die Frage, ob mit sozialen Schichten, Klassen, Kasten, Ständen oder sonstigem zu rechnen ist.
In der Ägyptologie herrscht weder ein Konsens darüber, was unter Spätzeit, noch darüber, was unter Archaismus zu verstehen ist. Damit im folgenden ein Arbeiten mit den verschiedenen Begriffen möglich ist und um Unklarheiten von vornherein auszuschließen, muß die verwendete Terminologie definiert und erläutert werden.
Bei dem Begriff "Spätzeit" hält sich die Arbeit an die Vorgabe von U. Rößler-Köhler, die den gesamten Zeitraum der altägyptischen Geschichte nach dem Ende des Neuen Reiches als Spätzeit ansetzt, die jedoch zahlreiche einzelne Epochen umfaßt und nicht als Einheit zu sehen ist. Sie betont, "daß der hier angesetzte Spätzeit-Beginn keinesfalls einen kulturellen Bruch o.ä. anzeigen soll, sondern einen ... künstlichen Schnitt in ein kulturelles Kontinuum darstellt".[7]
Schwieriger ist der Begriff "Archaismus" zu handhaben. Findet sich zur Benennung des spätzeitlichen Phänomens in der französischen Ägyptologie eher der Begriff "Renaissance", so setzte sich in der englisch- und deutschsprachigen Ägyptologie der Begriff "Archaismus" durch. Da sich die Revitalisierungen am augenscheinlichsten in der Kunst bemerkbar machen, ist es nicht verwunderlich, daß die ältere Ägyptologie die kunsthistorische Terminologie der klassischen Archäologie übernahm und sich Begriffe wie "Renaissance", "Archaismus", "Eklektizismus" oder auch "Klassizismus" zur Charakterisierung und Bezeichnung des Phänomens durchgesetzt haben.[8] Problematisch ist, daß diese Begriffe schon eine Deutung des Phänomens implizieren. So bezeichnet der Begriff "Archaismus" eigentlich einen Stil der griechisch-römischen Kunst, der Gestaltungsmittel der Archaik auf Bildwerke späterer Zeit überträgt, "um ihnen ein altehrwürdiges Gepräge zu verleihen". Die ästhetisierende Note setzte sich dabei in zunehmendem Maße durch. Archaische und klassische Werke meist religiösen Inhalts wurden kopiert oder neu geschaffen; dabei handelt es sich "um Produkte einer Spätzeit, die den Verlust an Gehalt durch das Erlebnis der reinen Form zu ersetzen versucht".[9]
Heute hat sich der Begriff "Archaismus" in der Ägyptologie weitgehend durchgesetzt, doch gilt es, das grundsätzliche Problem des inhaltlichen Wandels von Begriffen zu bedenken. Im folgenden bezeichnet "Archaismus" die spezifisch altägyptischen Verhältnisse, also nicht etwa nur die künstlerische, sondern die gesamtgesellschaftliche Situation im Kontext von Revitalisierung.
In einer chronologischen Abfolge werden nun verschiedene Interpretationen des Archaismus bzw. seiner Erscheinungsformen dargestellt. Die wichtigsten älteren Deutungen, das sind die Arbeiten bis zu den fünfziger Jahren, die richtungweisend waren für viele darauffolgende Interpretationen, hat H. Brunner in seinen Arbeiten aufgezeigt und kommentiert;[10] einige davon werden noch einmal aufgegriffen.
Es wird deutlich werden, daß die Interpretationen selbst zunächst kritisch beleuchtet werden müssen, bevor sie zum Verständnis des Phänomens herangezogen werden können. Die Deutungen und die Herangehensweisen an den Forschungsgegenstand dürfen nicht nur allein im Kontext ihrer jeweiligen wissenschaftsgeschichtlichen Situation gesehen werden. Prinzipiell bedarf es zum Verständnis jeder einzelnen Interpretation biographischer Untersuchungen über den jeweiligen Autor; letztendlich gilt das auch für die vorliegende Arbeit.
Ermans Interpretation des spätzeitlichen Archaismus gibt lediglich seine Meinung wieder, die er weder belegt noch begründet. Er erkennt im Archaismus einen Pessimismus, der sich in einer Sehnsucht nach der "guten, alten Zeit" ausdrücke. Er betrachtet die Saïtendynastie als eine Blütezeit, die jedoch von der "allmächtigen Tendenz" des Archaismus erfaßt sei, dessen Beginn in die 24. Dynastie falle: "Es ist, als sehne sich das alte Volk nach der verlorenen Jugend zurück, wo es ungestört von allen fremden Einflüssen sich selbst lebte, jener Zeit, für deren Größe die Pyramiden noch Zeugnis abzulegen schienen". Erman weiter: "Freilich, wie rührend uns dieses Suchen nach dem erträumten Paradiese erscheint, die Art, in der es sich äußert, hat doch etwas ungesundes".[11]
Zur spätzeitlichen Religion meint Erman: "Und wären es nur Dinge aus der wirklichen alten Religion und dem wirklichen alten Kultus, die man so sammelte und wieder belebte! Aber man nahm offenbar alles, was nur alt und seltsam war, und frug nicht erst lange danach, wo es herstammte, und ob es jemals ernstlich Geltung gehabt hatte".[12] Er charakterisiert die Religion der "altertümelnden Zeit" als "Wirrwarr", der durch "willkürliche Spielereien" und die "neu entdeckten Weisheiten" noch vergrößert werde.[13] Er unterstellt den spätzeitlichen Ägyptern, sie sammelten quasi sinn- und ziellos alles das, was ihnen einigermaßen interessant erscheine. Er beschreibt sie als naive Gläubige, die völlig weltfremd nur dem Kult nachgingen: "Aus dieser Rückkehr zu dem alten Ägyptertume gewinnt auch die Religion neue Kraft, und sie durchdringt das ganze Leben des Volkes in einer Weise wie nie zuvor, als sein einziger Inhalt". Weiter: "Ängstlich beobachten sie alle alten Gebräuche, die sie als reine Diener der alten Götter kennzeichnen und die sie von den Fremden scheiden; denn auf diese sehen sie jetzt mit Verachtung herab".[14]
H. Brunner begründet Ermans Interpretation mit dem Umstand, daß dieser als Gelehrter "so ganz im 19. Jahrhundert wurzelte".[15] Diese "Verwurzelung" läßt sich theoriengeschichtlich festmachen. Typisch evolutionistisch ist seine Gleichsetzung der älteren Zeit mit einer kulturell tieferstehenden Stufe. Inkonsequent zwar, jedoch für einen humanistisch gebildeten Forscher nicht verwunderlich ist der Umstand, daß er die Wiederbelebungen hellenistischen Kulturguts während der europäischen Renaissance als Rückgriffe auf eine höher entwickelte Kultur betrachtet: "Man hat diese geistige Bewegung als die 'Renaissance' des ägyptischen Volkes bezeichnet. Das ist ein Ausdruck, der irreführen kann; denn es handelt sich ja nicht um ein Zurückgreifen auf eine höhere Kultur, sondern im Gegenteil um das gewollte Zurückkehren zu einer längst überholten Stufe der Bildung".[16]
Bei Wolf kommt zusammen mit nationalsozialistischem Gedankengut der sozialdarwinistische Aspekt zum Tragen. In einer früheren Arbeit meint er, neben den Kräften des Bodens könne in denen des Blutes ein bestimmender Faktor für das ägyptische Gemeinschaftsdenken vermutet werden.[17] Er sieht in einer "wachsenden Überfremdung der Verwaltung und des Heeres, der Sitte und der Sprache durch Fremdrassige" und in einer sich herausbildenden luxuriösen weltstädtischen Gesellschaft einen Ausdruck des "Problems der Zivilisation, d.h. der Verselbständigung, der Differenzierung und des dadurch bedingten Absterbens der organischen Lebensformen".[18] Wolf erkennt dieses "Problem" schon im Neuen Reich und deutet die nachfolgende Zeit als Zeit des zunehmenden Verfalls, dessen Ausdruck der Archaismus sei: "Die 'Kopie' erscheint als Symbol einer unlebendigen, rückwärts gewandten Geisteshaltung. Erst als alle Möglichkeiten erschöpft sind, als die Vergreisung vollständig und der letzte Funke kulturellen Lebens endgültig erloschen ist, wird Ägypten die leichte Beute schnell wechselnder Fremdherrschaften".[19]
Sein Vergleich des "Niedergangs" der ägyptischen Kultur mit organischem Verfall entspricht zyklisch-kulturmorphologischem, sein Vergleich der ägyptischen mit der deutschen "Volkwerdung" nationalsozialistischem Denken: "Erst seit dem Beginn der Pyramidenzeit dürfen wir von einem ägyptischen Volkstum sprechen. Blut und Geist sind in eine feste Bindung gebannt worden, und ein neuer Mensch ägyptischen Stiles ist aus dem Formungsprozeß hervorgegangen. Der Vergleich mit unserer eigenen Volkwerdung liegt hier nahe. Noch beim karolingischen Reiche können wir nur von germanischen Stämmen reden, erst seit etwa 900 vom deutschen Volk". Weiter: "Und schließlich das bittere Ende der ägyptischen Kultur. Wieder erhebt sich die Beispielhaftigkeit dieses langsamen Verwelkens zu eindringlicher Bedeutung. Wie die ägyptische Kultur in vollendeter Reinheit ihrem Boden entwachsen war, so sinkt sie in ihn zurück, ohne daß ein Eingreifen von außen diesen Prozeß auch nur im geringsten beeinflußt oder beschleunigt hätte".[20]
Wolfs Interpretation ist beeinflußt von O. Spenglers Theorie der "Zyklischen Kulturmorphologie".[21] Nach O. Spengler wird eine Kultur "in dem Augenblick geboren, wo eine große Seele aus dem urseelenhaften Zustand ewig-kindlichen Menschentums erwacht Sie erblüht auf dem Boden einer genau abgrenzbaren Landschaft, an die sie pflanzenhaft gebunden bleibt. Eine Kultur stirbt, wenn diese Seele die volle Summe ihrer Möglichkeiten in der Gestalt von Völkern, Sprachen, Glaubenslehren, Künsten, Staaten, Wissenschaften verwirklicht hat und damit wieder ins Urseelentum zurückkehrt Jede Kultur steht in einer tiefsymbolischen und beinahe mystischen Beziehung zum Ausgedehnten, zum Raume, in dem, durch den sie sich verwirklichen will. Ist das Ziel erreicht und die Idee, die ganze Fülle innerer Möglichkeiten vollendet und nach außen hin verwirklicht, so erstarrt die Kultur plötzlich, sie stirbt ab, ihr Blut gerinnt, ihre Kräfte brechen - sie wird zur Zivilisation".[22]
Wolf belegt seine Deutung mittels des kunsthistorischen Vergleichs nach der Methode der organizistischen Kulturmorphologie. Er isoliert die ägyptische und die griechische Kunst aus ihrem jeweiligen Kulturkontext,[23] und vergleicht und klassifiziert sie aufgrund formaler Gemeinsamkeiten. Daraus schließt er: "Die Spätzeit hat die alte Zeit zum Vorbild ihrer Kunstform - wir wissen nicht, in welchem Umfang auch ihrer Lebensform - gemacht, weil sie von ihr annahm, daß sie das geistige Gesetz des Ägyptertums erfüllt hätte. Eine solche zum Dogma gewordene Wertung aber ist allemal Symptom eines erstarrten Zeitalters. Die Rückbesinnung auf eine klassische Epoche zeitigt zwar den Willen, alte Formen neu zu beleben, vermag sie aber nicht mit dem Sinngehalt zu erfüllen, der sie einst geschaffen hatte. So bleiben sie leere, tote Gehäuse. Wenn nun gar diese Rückbesinnung in Eklektizismus ausartet, wie es bei den Aegyptern der Spätzeit der Fall ist, die ihre Vorbilder beliebig dem Alten, Mittleren und Neuen Reiche entnehmen, so ist diese Gesinnung vollends ein Symptom chaotischer Zustände. Weil man die alten Formen nicht mehr als von einem Sinn belebt begreift, ist man umso mehr auf die ästhetische Form aus".[24]
Wolf meint, die 26. Dynastie habe keine "Renaissance" herbeigeführt, denn es sei nichts "wiedergeboren" worden.[25] "Man konservierte das Alte und suchte es zugleich mit neuem Leben zu erfüllen", denn man war "darauf aus, die Gesamthaltung der alten Zeit nachzuempfinden und nachzuschaffen".[26] Zuvor schrieb schon O. Spengler, jede Modernität halte Abwechslung für Entwicklung. Wiederbelebungen und Verschmelzungen alter Stile würden an die Stelle wirklichen Werdens treten. Das Kopieren von Meisterwerken beginne, "nicht, weil man diese noch verstanden hätte, sondern weil man Originale nicht mehr selbständig hervorzubringen verstand".[27] In diesem Sinne schreibt Wolf: "Neue Ideen werden nirgends mehr sichtbar".[28] Und er kommt zu dem Schluß: Das Ägyptertum "blickt nicht vorwärts, sondern rückwärts".[29]
Im Gegensatz zur Interpretation A. Ermans, die eine Meinung wiedergibt, ist Wolfs Deutung theoretisch fundiert. Doch O. Spenglers Theorie der "Zyklischen Kulturmorphologie" ist heute überholt.
Wilson sieht in den Revitalisierungen nicht mehr als ein unverständiges Kopieren: "Dieses starke Gefühl für eine reiche, stolze Vergangenheit war tröstlich für ein Zeitalter, das das Ungewisse seiner Gegenwart deutlich empfand. Zuletzt steigerte sich das Heimweh nach den früheren Zeiten zu einem Archaismus, der ziemlich blind und ahnungslos die Formen der fernen Vergangenheit nachahmte".[30]
Die Gründe für den seit dem Neuen Reich beobachtbaren Wandel der Weltanschauung der Ägypter finden sich, so Wilson, in der Zweiten Zwischenzeit, der Zeit der Fremdherrschaft der Hyksos: "Jetzt mußte sich die Gemeinschaft zum erstenmal zu einer Einheit zusammenschließen, um dieser Bedrohung entgegenzutreten und sie abzuwenden". Weiter: "Dabei kam es zu einer Sicherheitspsychose, zu einem neurotischen Bewußtsein der Gefahr, die der für die modernen Welt charakteristischen Haltung sehr ähnlich war. Das gemeinsame Gefühl des Bedürfnisses nach Sicherung schweißte die Ägypter zu einer auf sich selbst bedachten Nation zusammen".[31]
Wilson sieht die Ursache des Archaismus in der Eroberung Ägyptens durch die Hyksos und deutet ihn als gesamtgesellschaftliche Abgrenzung, in deren Verlauf gesellschaftsinterne Faktoren wirksam würden, die dem zu befürchtenden Wandel entgegenwirkten. Die Priester seien die Träger dieser Abgrenzung. Die einmal eingeimpfte Angstpsychose bleibe bestehen, denn in Ägypten gebe es Kräfte, die diese Psychose förderten. Wilson deutet die Vorgänge als Manipulationen der Priester, die, um für ihre Tempel Macht und Reichtum zu sichern, "auf das Solidaritätsgefühl des Volkes zugunsten der Nationalinteressen großen Wert legten".[32] Für die Menschen habe dies folgenschwere Konsequenzen: der Einzelne finde sich "in einer Zwangsjacke von Riten und Verpflichtungen gefangen", und sein einziger Trost bestünde in "beschwichtigenden Worten und fernen Versprechungen".[33]
In der kulturellen Entwicklung Altägyptens meint Wilson einen anfänglich ausgeprägten Individualismus erkennen zu können, der ab dem Neuen Reich immer mehr abnehme und letztendlich in einen frommen Determinismus umschlage. Er stellt eine psychische Wandlung des ägyptischen Volkes fest, den Wandel vom "mutigen Individualismus" über den "Kollektivismus" hin zur "Frömmigkeit". Diese These basiert vor allem auf Wilsons calvinistischen Moral- und Glaubensvorstellungen, die er anhand punktuell herausgegriffener Textstellen zu belegen versucht.[34] Das Wort "Schweigen" stellt für Wilson dabei den Schlüssel für den "veränderten Geist" der späteren Zeit dar: Dem Ägypter "war aller Mut, sich aus eigenem Antrieb voll zu entwickeln, genommen worden; statt dessen war er jetzt gezwungen, sich schicksalergeben den Bedürfnissen seiner engeren Gemeinschaft unterzuordnen".[35]
Wilsons Vergleich der älteren und der jüngeren Zeit der altägyptischen Kultur mit der amerikanischen und der sowjetischen Staatsform ist ebenso unpassend wie W. Wolfs Vergleich des altägyptischen mit dem deutschen Volk: "Die ägyptischen Texte fuhren noch jahrhundertelang fort, die alten Formeln zu wiederholen, und die Gräber schilderten nach wie vor die vielfältigen Möglichkeiten, das Erdendasein und seine Freuden auszukosten. Genau so wäre es, wenn die Amerikaner sich allmählich einer sozialistischen Staatsform und einer rationalistischen Ethik zuwendeten, zugleich aber die Schlagworte der Demokratie und des Calvinismus beibehielten - sie würden von diesem Wechsel lange Zeit, nachdem er eingetreten wäre, überhaupt nichts merken".[36] Wilson stellt die individualistisch-amerikanische der sozialistischen Staatsform gegenüber und meint nichts anderes, als daß ersteres gut sei und letzteres schlecht.[37]
[...]
[1] Es handelt sich bei der vorliegenden Arbeit um die Kurzfassung meiner unveröffentlichten Magisterarbeit mit dem Titel: Der spätzeitliche Archaismus, Ausdruck sozialen Wandels?, Hamburg 1993.
[2] Bibliographische Details zum Archaismus und seinen Erscheinungen s. bes. H. Brunner, "Zum Verständnis der archaisierenden Tendenzen in der ägyptischen Spätzeit", in: Saeculum 21 (1970), 151ff; ders., "Archaismus", in: LÄ 1 (1975), 386ff; P. Der Manuelian, "Prolegomena zur Untersuchung saitischer 'Kopien'", in: SAK 10 (1983), 221ff; ders., Living in the Past. Studies in Archaism of the Egyptian Twenty-sixth Dynasty (1994) und I. Nagy, "Remarques sur les souci d'archaïsme en Egypte à l'époque Saïte", in: Acta Antiqua Acad. Scient. Hungar. 21 (1973), 53ff.
[3] Die oben in Anm. 2 genannten Arbeiten von H. Brunner und I. Nagy sind bis heute die einzigen zum Archaismus als solchem.
[4] W. E. Mühlmann, Chiliasmus und Nativismus. Studien zur Psychologie, Soziologie und historischen Kasuistik der Umsturzbewegungen, in: ders. (Hg.), Studien zur Soziologie der Revolution, Bd. 1 (21964), 11 (11961).
[5] S. z.B. W. La Barre, "Materials for a History of Studies of Crisis Cults: A Bibliographic Essay", in: Current Anthropology 12 (1971), 3ff; G. Weiss, "Revitalisationsbewegungen", in: W. Hirschberg (Hg.), Neues Wörterbuch der Völkerkunde (1988), 403.
[6] Vgl. H. Brunner, in: LÄ 1 (1975), 394; P. Der Manuelian, in: SAK 10 (1983), 222; ders., Living in the Past (1994), 387.
[7] U. Rößler-Köhler, Individuelle Haltungen zum ägyptischen Königtum der Spätzeit. Private Quellen und ihre Königswertung im Spannungsfeld zwischen Erwartung und Erfahrung, GOF 21 (1991), XIII.
[8] S. a. W. Schenkel, in: J. Assmann, E. Feucht, R. Grieshammer (Hgg.), Fragen an die altägyptische Literatur. Studien zum Gedenken an Eberhard Otto (1977), 418.
[9] W. Schindler, in: J. Irmscher (Hg.), Das große Lexikon der Antike (1974), 55.
[10] S. oben Anm. 2.
[11] A. Erman, Die Religion der Ägypter. Ihr Werden und Vergehen in vier Jahrtausenden (21968), 321 (11934).
[12] A. Erman, a.a.O., 325.
[13] Inwieweit Ermans religiös-familiärer Hintergrund seine Interpretation der spätzeitlichen Verhältnisse beeinflußte, soll hier nicht beurteilt werden. Jedoch sei darauf hingewiesen, daß er einer hugenottischen schweizer Kaufmanns- und Gelehrtenfamilie entstammte.
[14] A. Erman, a.a.O., 322.
[15] H. Brunner, in: Saeculum 21 (1970), 156.
[16] A. Erman, a.a.O., 321, Anm.
[17] W. Wolf, Individuum und Gemeinschaft in der ägyptischen Kultur, LÄS 1 (1935), 24.
[18] W. Wolf, Wesen und Wert der Ägyptologie, LÄS 8 (1937), 26f.
[19] W. Wolf, a.a.O., 28.
[20] W. Wolf, a.a.O., 26ff.
[21] O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (111993), (11923).
[22] O. Spengler, a.a.O., 143.
[23] Aus der jeweiligen "Kulturphysiologie". Dazu s. a. W. Hirschberg, in: ders. (Hg.), Neues Wörterbuch der Völkerkunde (1988), 273.
[24] W. Wolf, in: AfO 6 (1930-31), 269.
[25] W. Wolf, Wesen und Wert der Ägyptologie, LÄS 8 (1937), 28, Anm. 1.
[26] W. Wolf, in: AfO (1930-31), 268.
[27] O. Spengler, a.a.O., 379.
[28] W. Wolf, in: AfO 6 (1930-31), 265.
[29] W. Wolf, in: AfO 6 (1930-31), 268.
[30] J. A. Wilson, in: H. Frankfort, H. A. Groenewegen-Frankfort, J. A. Wilson, Th. Jacobsen, W. A. Irwin (Hgg.), Alter Orient - Mythos und Wirklichkeit (21981), 133 (11954).
[31] J. A. Wilson, a.a.O., 124f.
[32] J. A. Wilson, a.a.O., 125f.
[33] J. A. Wilson, a.a.O., 132f.
[34] J. A. Wilson, a.a.O., bes. 127ff.
[35] J. A. Wilson, a.a.O., 128f.
[36] J. A. Wilson, a.a.O., 127.
[37] Das zitierte Buch erschien 1946 in den USA (am.: The Intellectual Adventure of Ancient Man) kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Ein Jahr später begann unter US-Präsident H. S. Truman der "Kalte Krieg".
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