Diplomarbeit, 2004
89 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitung
1.1 Themeneinführung
1.2 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit
2. Lebensqualität
2.1 Definitionen
2.2 Messen von Lebensqualität und Instrumente der Messung
2.2.1 Short-Form-36 Health-Survey
2.2.2 Dementia Care Mapping
2.3 Lebensqualität und Pflegequalität
3. Ganzheitliche Pflege
3.1 Historie eines Begriffes
3.2 Ganzheitliche Pflege = gute Pflege?
4. Der Pflegeprozess als Mittel zur Sicherung ganzheitlicher Pflege?
4.1 Darstellung des Pflegeprozesses
4.2 Professionalität und Situationsverstehen
4.3 Systemischer Ansatz
4.4 Kritik an der praktischen Anwendung des Pflegeprozesses
5. Auswirkungen von Pflegeprozess und Ganzheitlichkeit auf die Lebensqualität von Heimbewohnern mit psychischen Störungen – Schlussfolgerungen
5.1 Heime in Deutschland
5.1.1 Gesetzliche Grundlagen
5.1.2 Heime als totale Institutionen?
5.1.3 Enquête zur Abschaffung der Heime
5.2 Heimbewohner mit psychischen Störungen
5.2.1 Zahlen
5.2.2 Beschreibung der Störungsbilder
5.2.3 Versuch einer Analyse anhand des besonderen Bedarfs von Heimbewohnern mit psychischen Störungen
6. Resümee/Bedeutung der skizzierten Überlegungen für den Heimalltag
7. Literaturverzeichnis
Einer der Hauptgründe für den Umzug eines Menschen in ein Alten- oder Pflegeheim ist das Vorliegen einer Demenz oder einer anderen schweren psychischen Erkrankung. In einer vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung in Auftrag gegebenen Expertise wird der Anteil der Heimbewohner mit psychischen Störungen mit 65% angegeben (Hirsch & Kastner, 2004, S. 17). Für die Zukunft wird eine weitere Zunahme des Anteils psychischer Störungen im Pflegeheim prognostiziert, wobei die Krankheitsbilder der Demenz und der Depression hierbei den größten Anteil ausmachen (Hirsch & Kastner, 2004, S. 158). Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung stellt die fachgerechte Pflege und Betreuung dieser Bewohnergruppe, die eines speziellen Milieus und besonderer Formen der Betreuung bedarf, die Pflegenden vor eine schwierige Herausforderung. Ob die Zielsetzung eines menschenwürdigen, möglichst selbstbestimmten Lebens und einer hohen Lebensqualität dieser Bewohnergruppe in der Institution „Pflegeheim“ verwirklicht werden kann, wird von einigen Autoren bezweifelt (Hirsch & Kastner 2004, Röttger-Liepmann & Hopfmüller 2002). Verantwortlich hierfür ist die Zunahme des ökonomischen Drucks auf die Pflegeeinrichtungen, verbunden mit einem wachsenden Anteil schwerstpflegebedürftiger Bewohner bei gleich bleibender personeller Ausstattung. Es kollidieren einerseits eine Praxis der Altenpflege, in der Zeitmangel und Überforderung den Ton angeben und andererseits ein hoher Anspruch zur Umsetzung ganzheitlicher Pflege und zur Anwendung und Dokumentation des Pflegeprozesses. Dies kann zu Frustration und Rückzug bei den Mitarbeitern führen und birgt die Gefahr einer institutionalisierten, entpersönlichten Pflege und Betreuung, die individuelle Bedürfnisse der Bewohner nicht mehr wahrnehmen kann. Gerade Heimbewohner mit psychischen Störungen sind dieser Situation noch hilfloser als andere Heimbewohner ausgeliefert, da sie nur über wenige eigene Kompensationsmöglichkeiten verfügen und einen erhöhten Kommunikationsbedarf haben. Die Auswirkungen der geschilderten Entwicklung sind prägend für den Heimalltag und beeinflussen dadurch auch die Lebensqualität von Heimbewohnern mit psychischen Störungen nachhaltig.
Im Focus dieser Arbeit steht die Lebensqualität von Heimbewohnern mit psychischen Störungen und deren maßgebliche Beeinflussung durch die Beziehungs- und Kommunikationsqualität zwischen Pflegepersonen und Heimbewohnern. In diesem Zusammenhang soll analysiert werden, inwieweit das Paradigma der ganzheitlichen Pflege und das Instrument des Pflegeprozesses die Interaktion zwischen Bewohnern und Pflegekräften bestimmt und wie dadurch die Lebensqualität der Heimbewohner beeinflusst wird. In dieser Arbeit erfolgt eine Reflektion der Fragestellung anhand der gesichteten Literatur und auf der Basis eigener berufspraktischer Erfahrungen mit der Thematik.
Im ersten Teil der Arbeit (Kapitel 2) wird der Begriff Lebensqualität anhand der gesichteten Literatur definiert und es werden Messinstrumente vorgestellt; insbesondere geht es in diesem Kapitel auch um die Beeinflussung von Lebensqualität durch Pflegequalität. In Kapitel 3 werden Begriff und Historie der ganzheitlichen Pflege erläutert, bevor dann in Kapitel 4 das Instrument des Pflegeprozesses vorgestellt wird. Das fünfte Kapitel befasst sich mit den Auswirkungen von Pflegeprozess und Ganzheitlichkeit auf die Lebensqualität von Heimbewohnern mit psychischen Störungen. In den entsprechenden Unterkapiteln werden gesetzliche Grundlagen der stationären Pflege und darüber hinaus kritische Ansätze zur stationären Pflege dargestellt. Kapitel 5.2 beschreibt zunächst die Merkmale von Heimbewohnern mit psychischen Störungen. In den Folgekapiteln werden die Störungsbilder und die Häufigkeit ihres Auftretens beschrieben. Abgeschlossen wird Kapitel 5 mit einer Analyse von Pflegeprozess und Ganzheitlichkeit im Hinblick auf die Lebensqualität von Heimbewohnern mit psychischen Störungen, wobei deren besonderer Pflege- und Betreuungsbedarf berücksichtigt wird. Die Arbeit schließt mit der Zusammenfassung der Ergebnisse in Form eines Resümees; die Bedeutung der skizzierten Überlegungen für den Heimalltag wird dabei abschließend dargestellt.
Der ist der glücklichste Mensch, der das Ende seines Lebens mit dem Anfang in Verbindung setzen kann.
Goethe, Maximen und Reflexionen
In der Literatur existiert eine Vielzahl von Definitionen und Konzepten zum Begriff der Lebensqualität. Häufig fallen in diesem Zusammenhang auch die Begriffe „Glück“ und „Wohlbefinden“ (well being), die mit dem Konzept der Lebensqualität in Verbindung gebracht oder ersatzweise verwendet werden.
Eine allgemeine und zusammenfassende Definition von Lebensqualität beschreibt diese als „Summe der wesentlichen Elemente, die die Lebensbedingungen in einer Gesellschaft beschreiben und das subjektive Wohlbefinden des Einzelnen ausmachen“ (Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001). Das Konzept der Lebensqualität im Sinne von materiellem Wohlstand orientiert sich am Wirtschaftswachstum und am Inlandsprodukt. Hinzu kommen soziale Indikatoren, die verschiedene Lebensbereiche beschreiben, wie Arbeitsbedingungen, Bildung, Gesundheit, Freizeit, natürliche Umwelt und politisches Engagement. Durch die Erfassung dieser Sozialindikatoren können zentrale gesellschaftliche Lebensbedingungen abgebildet werden mit dem Ziel der Messung, Bewertung und ggf. gezielten Verbesserung von Wohlstand und Lebensqualität. Berücksichtigt werden ebenfalls subjektive Einschätzungen von Glück und Zufriedenheit sowie gesellschaftspolitische Zielsetzungen wie Freiheit und Solidarität.
Da in Zusammenhang mit dem Konzept der Lebensqualität häufig auch der Begriff des Glücks genannt wird, soll hier eine Definition des Glücksbegriffes aus der gesichteten Literatur beispielhaft genannt werden:
„Das Streben nach Glück erwächst aus der spezifisch menschlichen Situation, nicht allein reagierend das Leben meistern zu können, sondern aktiv durch Handeln gesetzte Zwecke und Werte verwirklichen zu müssen“ (Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001).
Diese Definition weist Parallelen zum Konzept der Lebensqualität „aus Bindungen an Ziele“ bei Filipp und Mayer (2004, S. 335) auf. Laut dieser Definition fühlen sich Menschen Zielen verpflichtet und bewerten ihr Leben nach dem Erreichen dieser Ziele.
Das Glück ist ein zentraler Begriff in Philosophie und Religion und es gibt eine Vielzahl von Glücksvorstellungen, die sich einerseits zwischen den Polen individuell/privat und politisch/sozial sowie andererseits zwischen äußerer/materieller Glückserfüllung und Verinnerlichung des Glücksideals bewegen.
Auch die UNO beschäftigte sich mit dem Glück und der Vollständigkeit halber seien deren 12 Glücksbedingungen nachfolgend genannt:
„Einfach ist das Glück und kostbar.“
Die Weltorganisation beschreibt zwölf Bedingungen des Glücks:
1. Ein Platz zum Kochen.
2. 2500 bis 4000 Kalorien täglich.
3. 100 Liter Wasser pro Tag.
4. Drei Kleidungsstücke, drei Paar Schuhe.
5. Sechs Quadratmeter Wohnraum pro Person.
6. Sechs Jahre Schule.
7. Ein Fahrrad pro Familie.
8. Ein Radio pro Familie.
9. Ein Fernseher je 100 Einwohner.
10. Zehn Ärzte auf 20000 Einwohner.
11. Ein Arbeitsplatz.
12. Hilfe für Kranke, Behinderte und Alte.
(Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001)
Aus dieser Übersicht wird deutlich, dass zwischen dem Konzept der Lebensqualität und dem Glücksbegriff durchaus Gemeinsamkeiten existieren. Im Folgenden soll ein kurzer historischer Exkurs zur Begrifflichkeit der Lebensqualität vorgenommen werden.
In allen Zeiten und Epochen beschäftigten sich Menschen mit der Frage nach dem „guten Leben“ und damit nach dem Glück. Diese „Suche“ nach Glück und Zufriedenheit orientierte sich an Bedürfnissen, Werten und Normen der Menschen in ihrer jeweiligen Zeitepoche, wobei die Vokabel „Lebensqualität“ ab 1784 erstmals nachweisbar ist (Pflegelexikon, 1999 [CD-ROM]).
Historisch wird der Ursprung dieses Begriffes im 17. und 18. Jahrhundert verortet. Hierbei spielten zwei parallel verlaufende und sich wechselseitig beeinflussende Prozesse eine entscheidende Rolle: Dies war zum einen der ökonomische Aufstieg des Bürgertums verbunden mit Emanzipations- und Gleichberechtigungsbestrebungen gegenüber dem Adel und mehr Selbstbewusstsein des „bürgerlichen Standes“, und zum anderen der Prozess des Übergangs vom klassischen zum modernen Naturrecht. Die Idee des modernen Naturrechts wollte die Vorstellung einer gottgeschaffenen Harmonie der Welt mit dem individualistischen Menschenbild vereinen. Hierzu gehörte das Recht auf Selbstbestimmung und die Anerkennung individueller Rechte des Menschen, der nicht mehr unmittelbar in die Schöpfungsordnung eingegliedert ist, sondern als ein autonomes Individuum mit individuellen Rechten gilt. Daran wird der Gegensatz zum klassischen Naturrecht deutlich, das nicht von einer autonomen Verstandes- und Triebstruktur des Menschen ausging.
Durch die hier beschriebenen Entwicklungen entstand ein Anspruch auf Selbstbestimmung und Selbsterhaltung, welcher mehr als nur physisches Überleben umfasste. Dieser Anspruch beinhaltete „als Fundamentalnorm einen optimalen Zustand der Glückseligkeit, des Daseins und Wohls des einzelnen Individuums und der Gesellschaft“ (Bitzer, 2003, S. 453). Durch diese Definition wird die Untrennbarkeit von individuellem und gesellschaftlichem Wohl beschrieben und Lebensqualität in Bezug zu den Lebensbedingungen in Staat und Gesellschaft gesetzt.
Damit in Zusammenhang steht auch die Entstehung des modernen sozialwissenschaftlichen Wohlfahrtsbegriffs, der im Sinne von Lebensqualität interpretiert wird und dessen Entstehung ebenfalls in die Zeit des 18. Jahrhunderts und hier speziell in die Epoche der französischen Revolution ab 1789 hineinreicht.
Wohlfahrt wird als ein Grundanliegen des Menschen definiert und steht für Wohl und Glück, indem er Lebensverhältnisse bezeichnet, die objektiv nach zur Verfügung stehenden Kriterien und im Sinne eines subjektiven Wohlbefindens des Einzelnen als gut beurteilt werden. In modernen Gesellschaften stellt Wohlfahrt einen der höchsten Werte dar.
Während der französischen Revolution geriet der Wohlfahrtsbegriff ins Zwielicht. In der jakobinischen Erklärung der Menschen und Bürgerrechte von 1793 hieß es in Artikel 1: „Das Ziel der Gesellschaft ist das allgemeine Glück“ (le bonheur commun) (Meck, 2003, S. 123). Trotz dieser Zielsetzung wurde der Wohlfahrtsausschuss als oberstes Exekutivorgan des französischen Nationalkonvents zum Instrument einer Schreckens- und Willkürherrschaft.
Bereits 1791 formulierte W. von Humboldt die Befürchtung, „... dass das Prinzip, dass die Regierung für das Glück und das Wohl, das physische und moralische der Nation sorgen muss, unter allen Regierungsformen, also auch in einer Republik, der ärgste ... Despotismus ist“ (Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, 2001).
Dies führt seither zu Forderungen nach einer Begrenzung der staatlichen Verantwortung gegenüber seinen Bürgern zu mehr individueller Verantwortung und in Zeiten wirtschaftlicher Probleme fällt immer wieder das Schlagwort vom Ende des Wohlfahrtsstaates.
In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Verbesserung der Lebensqualität in den USA von den amerikanischen Präsidenten Kennedy und Johnson als politische Zielsetzung formuliert und fand Eingang in deren politische „Visionen“. Kennedys weit reichendes Programm umfasste Maßnahmen zur Verbesserung der Sozialversicherung, der Krankenversorgung („Medicare“) und des Bildungswesens. Darüber hinaus standen die Gleichberechtigung der Schwarzen, Steuersenkungen und die Sanierung der Städte und des Verkehrswesens im Zentrum der staatlichen Planungen.
Johnson versuchte unter dem Schlagwort „Great Society“ soziale Reformen vor allem in den Bereichen Wohnungsbau, Bildungs- und Krankenwesen durchzusetzen. Sowohl Kennedy als auch Johnson scheiterten am konservativen Widerstand im Kongress bzw. an den ökonomischen und politischen Folgen des Vietnam-Krieges (Inflation, weltweite Studentenunruhen, soziale Benachteiligungen).
In der Bundesrepublik Deutschland erregte die Lebensqualität erst zu Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts Aufmerksamkeit.
Nach Bitzer umfasst Lebensqualität:
- Gesellschaftliche Gerechtigkeit der Verteilung von Chancen und Ressourcen
- Grad der Demokratisierung
- Humanisierung der Arbeitswelt
- Umweltschutz
- Erziehungswesen
- Gesundheitsbezogene Lebensqualität (2003, S.453)
1946 definierte die WHO Gesundheit als einen „Zustand völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur als das Freisein von Krankheit und Gebrechen“ (Bitzer, 2003, S. 453).
Bereits damals führte diese umfassende Definition von Gesundheit zu einer heftigen Debatte bezüglich ihrer Verwirklichungsmöglichkeiten. Diese Definition geht über ein rein somatisches Verständnis weit hinaus und nähert sich durch Berücksichtigung psychischer und sozialer Dimensionen dem Anspruch einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen. In Anlehnung an diese WHO-Definition beschreibt Bullinger, dass Lebensqualität den Menschen in der „Gesamtheit seiner biopsychosozialen Befindlichkeit“ (2000, S. 13) betrifft und hierbei emotionale, funktionale, soziale und physische Aspekte menschlicher Existenz miteinbezieht.
Bislang existiert kein einheitliches theoretisches Modell von gesundheitsbezogener Lebensqualität; auf internationaler Ebene besteht aber ein Konsens über ein multidimensionales Modell von Lebensqualität, das mindestens körperliche, seelische und soziale Dimensionen des Befindens und des Handlungsvermögens als Inhalte gesundheitsbezogener Lebensqualität definiert. Diese Dimensionen sind in der nachfolgenden Tabelle dargestellt:
Tabelle 1: Dimensionen und Inhalte gesundheitsbezogener Lebensqualität
(Bitzer, 2003, S. 455)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Gesundheitsbezogene Lebensqualität geht mit ihrer Zielsetzung zwar weit über bisher vorherrschende Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit hinaus; sie stellt aber nach Bitzinger (2003, S. 454) dennoch nur einen Teilaspekt der Lebensqualität insgesamt dar.
Dem widerspricht die Einschätzung von Filipp und Mayer (2002, S. 322), die betonen, dass sich allgemeine und gesundheitsbezogene Lebensqualität kaum voneinander trennen lassen, da allgemeine Definitionen von Lebensqualität auch immer die Gesundheit mit einschließen. Eine eigenständige Bedeutung von gesundheitsbezogener Lebensqualität ergibt sich aber dort, wo es um die Erfassung der Lebensqualität von erkrankten Personen geht.
Die zentrale Bedeutung von Lebensqualität im Leben eines Menschen wird häufig erst dann wahrgenommen, wenn diese durch drohende körperliche und psychische Einbußen z.B. durch Erkrankungen im höheren Lebensalter bedroht scheint; häufig wird deshalb Lebensqualität mit gesundheitsbezogener Lebensqualität gleichgesetzt. In der Literatur werden Lebensqualität und gesundheitsbezogene Lebensqualität in vielen Konzepten als synonyme Begriffe verwendet. Filipp und Mayer weisen in ihrer Expertise darauf hin, „dass auch viele vermeintlich so spezifische Aspekte der gesundheitsbezogenen Lebensqualität im Umfeld von Krankheit oft nicht anders konzeptualisiert werden, als wenn man Lebensqualität bei Gesunden erfassen würde“ (2002, S. 372). Demnach unterscheiden sich kranke und gesunde Menschen durchaus nicht eklatant (und messbar) in der subjektiven Wahrnehmung ihrer Lebensqualität, wie man dies aus der Außenperspektive vermuten würde. Erlebte Beeinträchtigungen des eigenen Gesundheitszustandes lassen sich regulieren über „abwärts gerichtete soziale Vergleichsprozesse („Es gibt immer Menschen, die viel schlechter dran sind...“)“ (Filipp & Mayer 2002, S. 372).
In der Medizin wurde Lebensqualität als eigenständiger Terminus erst Anfang der 80er Jahre eingeführt (Bullinger 2000, S. 13), verbunden mit dem Versuch, die Lebensqualität des Patienten nicht nur in die Behandlung miteinzubeziehen, sondern diese auch erfassbar und damit messbar zu machen.
Wie bereits eingangs erwähnt, bestehen nach wie vor Probleme hinsichtlich der Differenzierung von Gesundheitszustand und Lebensqualität. Nach Bullinger beinhaltet Lebensqualität – wie auch in der WHO-Definition vorgeschlagen – „das subjektive Erleben der wesentlichen Gesundheitsdimensionen, nämlich der körperlichen, sozialen und psychischen“ (2000, S. 15). Lebensqualität würde damit die subjektiv oder erlebte Gesundheit umfassen und einen Gegensatz zur Erfassung der Gesundheit anhand von medizinischen Parametern bilden. Einige Kritiker halten diese Definition für nicht umfassend genug und kritisieren die Begrenzung der Patienteneinschätzung auf verhaltensnahe und funktionale Aspekte, wobei unklar bleibe, wie der Befragte diese Aspekte bewerte (Bullinger, 2000, S. 15).
Lawtons nennt in seinem Modell des guten Lebens (1984) (Filipp & Mayer, 2002, S. 320) vier Lebensbereiche, die jeweils unabhängig voneinander aber auch in sich wechselseitig bedingender Form Lebensqualität ausmachen:
- Verhaltenskompetenz im Alltag
- Psychisches Wohlbefinden
- Wahrgenommene Qualität des Lebens
- Objektive Umweltgegebenheiten
Allgemeiner Konsens in der Forschung ist, dass Lebensqualität nicht von externer Stelle festgelegt werden kann, sondern nur vom Adressaten der medizinisch-pflegerischen Leistung selbst beurteilt werden kann. Ilene Morof Lubkin beschreibt, dass gute Lebensqualität dann erreicht wird, wenn „die Kluft zwischen den Bestrebungen und Hoffnungen eines Patienten und dem aktuellen Erleben nicht allzu groß ist“ (2002, S.325).
Der 4. Altenbericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland benennt folgende Lebensbereiche, die im Alter von besonders großer Bedeutung sind:
- Körperliche und seelische Gesundheit
- Mobilität und Handlungsfähigkeit
- Soziale Beziehungen zu Familienmitgliedern und Freunden
- Materielle Lage
- Ausstattung der Wohnung
- Infrastruktur des Wohnumfeldes (2002, S.79)
Das hohe Lebensalter ist bei flüchtiger Wahrnehmung geprägt durch eine vermeintlich massive Reduktion der Lebensqualität. Hierzu gehört die Begrenzung der noch zur Verfügung stehenden Zeit und damit der Zukunftsperspektive. Der soziale Bereich ist gekennzeichnet durch den Verlust nahe stehender Personen (z.B. Tod des Lebenspartners), von sozialen Rollen und von Handlungsoptionen. Die Fähigkeit zur selbständigen Lebens- und Alltagsbewältigung kann darüber hinaus durch Einschränkungen in den Bereichen Gedächtnis, Mobilität und Sensorik beeinträchtigt werden.
Viele Menschen empfinden ihr Leben im Alter trotz der empfundenen Einschränkungen als zufrieden stellend und bedeutungsvoll, da sie diese als Teil des normalen Alterungsprozesses bewerten und das individuelle Resümee durch kognitive und emotionale Verarbeitung positiv ausfällt. Entscheidend für die Bewertung der eigenen Lebensqualität sind nicht so sehr die objektiven Bedingungen wie Verwirrtheit, Krankheit oder Verwitwung sondern „die Art und Weise, wie Menschen diese Situation erleben und sich mit ihr auseinander setzen“ (Filipp & Mayer, 2002, S. 324).
Lebensqualität beinhaltet demnach sowohl objektive Merkmale der Lebenssituation als auch die subjektive Bewertung dieser Aspekte durch den Menschen. Objektive Lebensqualität bezieht sich auf die Ressourcen, die einer Person zur Verfügung stehen, wobei hierbei sowohl personenbezogene als auch umweltbezogene Ressourcen berücksichtigt werden. Beispiele hierfür sind z.B. das Einkommen, soziale Netzwerke oder auch körperliche Leistungsfähigkeit.
Im vierten Altenbericht (2002) wird die Wichtigkeit der Integration beider Konzepte (objektiv und subjektiv) zur Bewertung der Lebensqualität älterer Menschen betont. Als Beispiel wird die Verbesserung der Lebensqualität in stationären Einrichtungen genannt, die häufig mit der Umgestaltung der äußeren Wohnbedingungen gleichgesetzt wird. Hierbei wird innerhalb eines rein objektiven Konzeptes unterstellt, dass durch diese Umgestaltung automatisch eine Verbesserung der Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner entsteht, ohne dass diese dazu befragt werden. Das heißt, dass hierbei Lebensqualität mit den äußeren Bedingungen gleichgesetzt wird. Andererseits wird nur das subjektive Wohlbefinden der Bewohner eruiert, ohne den Zusammenhang mit den äußeren Bedingungen zu berücksichtigen. Hier kann durchaus eine hohe Zufriedenheit von Seiten der Heimbewohner mit der Gestaltung eines Heimes geäußert werden, obwohl die Einrichtung wohlmöglich unterhalb des vorgeschriebenen Standards liegt. (4. Altenbericht, 2002, S. 73). Filipp und Mayer beschreiben den Zusammenhang zwischen objektiven Lebensbedingungen und der subjektiven Bewertung des eigenen Lebens als „nur marginal“ (2002, S. 350) und umschreiben dies mit den Begriffen „Unzufriedenheitsdilemma“ und „Zufriedenheitsparadox“. Der erste Begriff umschreibt die subjektiv schlechte Beurteilung des eigenen Lebens bei objektiv guten Lebensbedingungen, während der zweite Terminus eine subjektiv positive Bewertung des eigenen Lebens trotz schlechter objektiver Lebensbedingungen umfasst. Diese Zusammenhänge finden sich in der folgenden Tabelle als Übersicht dargestellt.
Tabelle 2: Zusammenhänge zwischen objektiven Lebensbedingungen und subjektiver Lebensbewertung (Filipp & Mayer, 2002, S. 350)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Der vierte Altenbericht zitiert in diesem Zusammenhang aus Erhebungen, die Zusammenhänge zwischen objektiven Lebensbedingungen und subjektivem Wohlbefinden aufdecken. In diesen Analysen konnte demnach gezeigt werden, dass objektive Lebensbedingungen globales subjektives Wohlbefinden nicht vorhersagen. Innerhalb dieser empirischen Untersuchungen verzeichneten nur Geschlecht und Wohnbedingungen einen direkten Einfluss auf das subjektive Wohlbefinden: „Frauen äußerten geringere Lebenszufriedenheit als Männer, und Heimbewohnerinnen und Heimbewohner gaben ein niedrigeres subjektives Wohlbefinden an als Personen, die in der eigenen Wohnung leben“ (vierter Altenbericht, 2002, S. 74). Demnach wurde das subjektive Wohlbefinden sehr viel stärker durch die subjektive Bewertung der verschiedenen Lebensbereiche wie Gesundheit, Einkommen und Vermögen oder soziales Netzwerk und Freizeitaktivitäten beeinflusst.
Vor diesem Hintergrund plädieren die Autoren des 4. Altenberichtes (2002) für die Verbindung subjektiver und objektiver Konzepte der Lebensqualitätsforschung zu einem integrativen und multidimensionalen Ansatz.
Multidimensionalität und Subjektivität sind zwei zentrale Begriffe, die in den Definitionen von Lebensqualität immer wieder genannt werden, so auch in der wohl komplexesten Definition der WHO. Die Arbeitsgruppe Lebensqualität der WHO (The WHOQOL-Group) definiert Lebensqualität als
die subjektive Wahrnehmung einer Person über ihre Stellung im Leben in Relation zur Kultur und den Wertesystemen, in denen sie lebt und in Bezug auf ihre Ziele, Erwartungen, Standards und Anliegen. Es handelt sich um ein Arbeitskonzept, das in komplexer Weise beeinflusst wird durch die körperliche Gesundheit, den psychologischen Zustand, den Grad der Unabhängigkeit, die sozialen Beziehungen und den hervorstechenden Eigenschaften der Umwelt. (Bullinger, 2000, S. 15).
Dieses Arbeitskonzept wird danach in komplexer Weise durch die Faktoren körperliche Gesundheit, psychologischer Zustand, Grad der Unabhängigkeit, die sozialen Beziehungen und die hervorstechenden Eigenschaften der Umwelt beeinflusst. Diese finden sich dann in operationalisierter Form in vielen Messverfahren zur (gesundheitsbezogenen) Lebensqualität wieder. So wird die gesundheitsbezogene Lebensqualität häufig anhand des Grades des kognitiven Funktionierens, dem Grad der Aktivitäten des täglichen Lebens, der sozialen Integration und des Wohlbefindens beurteilt.
In empirischen Studien wird Lebensqualität häufig durch den Grad an Unabhängigkeit und Selbständigkeit definiert. Hierzu werden Alltagsbewältigung, Selbstversorgung, Mobilität, Kontinenz, Beteiligung an Aktivitäten und Orientierung erhoben und bewertet. Darüber hinaus bestimmt das physische und psychische Wohlbefinden (well-being) in Verbindung mit der subjektiven Wahrnehmung des körperlichen Zustandes die Lebensqualität. Weitere Dimensionen sind Beschäftigung vs. Apathie/Rückzug, Agitiertheit vs. Ruhe und positive vs. negative Stimmung. Auch so genannte Quality Time, d.h. positiv verbrachte Zeit (soziale Aktivitäten, Unterhaltung etc.) wird hierzu gezählt.
Multidimensionaliät und Subjektivität als zentrale Aspekte des Begriffes Lebensqualität beeinflussen natürlich auch die Frage nach der Messbarkeit von Lebensqualität. Im Gegensatz zu z.B. Laborparametern sind soziales, physisches und psychisches Wohlbefinden als Eigenschaften nicht direkt mess- und beobachtbar. Da eine direkte Messung also nicht möglich ist, wird versucht, die Lebensqualität indirekt über Indikatoren zu erfassen. Hierbei kommen Methoden der empirischen Sozialforschung zum Einsatz wie z.B. standardisierte Fragebögen oder Interviews. Die Instrumente stammen zum Großteil aus dem angloamerikanischen Raum und sind in andere Sprachen übersetzt worden bzw. an länderspezifische Gegebenheiten angepasst worden. Mann kann hierbei krankheitsspezifische und krankheitsübergreifende Instrumente unterscheiden. Als messtheoretische Grundlagen zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität werden Ergebnisse aus Psychophysik und Psychometrie verwendet. Die Psychophysik nutzt den „Menschen als Messinstrument“ und beschreibt die „Art und Weise, in der Menschen physikalische Phänomene (z.B. Lautstärke eines Tones...) ... wahrnehmen und beurteilen“ (Bitzer, 2003, S.454). Diese subjektive Wahrnehmung des Menschen wird dann einem anderen „objektiven“ Verfahren zur Messung sensorischer Reize gegenüber gestellt. Die Psychometrie befasst sich nach Bitzer „... mit dem „Ob“ und „Wie“ beim Menschen psychologische Phänomene wahrgenommen und beurteilt werden können, für die es keine objektiven Messmöglichkeiten gibt“ (2003, S. 454).
Da Lebensqualität ein subjektives Konzept ist und die Selbsteinschätzung der zu Befragenden hierbei im Zentrum steht, ist die Befragung der Betroffenen hierbei eine gängige Methode. Vergleiche von Selbst- und Fremdeinschätzungen zeigen deutliche Unterschiede in den Bewertungen bestimmter Bereiche. In den meisten Untersuchungen, die die Selbsteinschätzung mit Fremdeinschätzung z. B. durch Angehörige oder Ärzte vergleichen, zeigt sich, dass die Beeinträchtigungen in psychischen und sozialen Bereichen in der Fremdeinschätzung eher unterschätzt und die Beeinträchtigungen aufgrund von spezifischen Krankheitssymptomen eher überschätzt werden. Weiterhin kann bei der Fremdeinschätzung nicht beurteilt werden, welche Aspekte des eigenen Lebens ein Mensch für die Beurteilung seiner Lebensqualität heranzieht und wie diese individuell gewichtet werden. Deshalb wird überwiegend dafür plädiert - wenn irgend möglich -, die Betroffenen selbst zu befragen und diese Selbstauskunft anderen Verfahren vorzuziehen (Bitzer, 2003, S. 455). Weiterhin sind spezielle Erhebungsverfahren für Zielgruppen wie Kinder oder psychiatrische Patienten entwickelt worden, wobei die Lebensqualitätsforschung in der Psychiatrie noch recht jung ist. Ein Grund hierfür ist die Befürchtung, dass die subjektive Bewertung des eigenen Lebens durch die Symptome der psychiatrischen Erkrankung im Bereich der Affekte, Kognition und Veränderungen der Wahrnehmung in die falsche Richtung gelenkt werden könnten (Karow & Naber, 2000, S. 202). Mittlerweile gibt es aber auch für unterschiedliche psychiatrische Krankheitsbilder spezielle Messinstrumente. Hierbei handelt es sich überwiegend um Fragebögen zur Selbsteinschätzung der subjektiven Lebensqualität durch den Patienten. Darüber hinaus existieren Instrumente mit deren Hilfe die Lebensqualität von den Behandlern oder Bezugspersonen der Klienten eingeschätzt wird, da Selbstberichte bei bestimmten Gruppen psychisch kranker Menschen - und damit auch bei der Zielgruppe von Heimbewohnern mit psychischen Störungen - an ihre Grenzen stoßen können. So beeinflussen psychische Erkrankungen wie manisch-depressive Erkrankungen oder Demenz die Wahrnehmungs- und Beurteilungsfähgikeit in unterschiedlichem Ausmaß. Für diese Zielgruppe wurden zum Teil spezielle Instrumente entwickelt, die Selbst- und Fremdwahrnehmung kombinieren. So kann bei Demenzkranken z.B. die Lebensqualität durch Beobachtungsdaten von Pflegepersonen ergänzt um Aussagen des Betroffenen zu affektiven Komponenten erhoben werden. Affektive Komponenten zeigen weniger Differenzen zur Fremdbeobachtung und können deshalb gut soweit möglich im Selbstbericht erhoben werden. Fremdberichte sollten sich nur auf fortgeschrittene Krankheitsphasen beschränken, in denen keinerlei Selbsteinschätzungen mehr möglich sind.
Filipp und Mayer weisen darauf hin, dass es besser sei, eine kleine Zahl von Selbsteinschätzungen zu haben, als sich nur auf Fremdberichte zu verlassen (2002, S. 379).
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird die besondere Problematik des Messens von Lebensqualität von Heimbewohnern mit psychischen Störungen deutlich, die als chronisch Kranke mit dauerhaften Einschränkungen in unterschiedlichen Bereichen leben müssen, und sich zur subjektiv empfundenen Lebensqualität nur noch begrenzt oder gar nicht mehr äußern können. In den nachfolgenden Kapiteln sollen zwei Instrumente zur Messung der Lebensqualität exemplarisch vorgestellt werden. Der SF-36 ist ein langjährig erprobter und weltweit verbreiteter standardisierter Fragebogen zur Messung der subjektiven Lebensqualität durch die direkte Befragung des Klienten. Das Dementia Care mapping stellt ein spezielles Verfahren dar, das die Lebensqualität Demenzkranker durch Gewinnung von Beobachtungsdaten beurteilen will.
Die Messinstrumente zur Erfassung gesundheitsbezogener Lebensqualität lassen sich nach Kirchberger (2000, S. 73) in 2 Gruppen einteilen:
1. Verfahren, die die gesundheitsbezogene Lebensqualität krankheitsübergreifend als so genannte „generic instruments“ erfassen,
2. Verfahren, die diese krankheitspezifisch erfassen.
Der Short-Form-36 Health-Survey (SF-36 Fragebogen zum Gesundheitszustand) ist ein krankheitsübergreifendes Standardinstrument zur Erfassung der subjektiven Einschätzung gesundheitsbezogener Lebensqualität (HRQOL = Health Related Quality of Life). Er stammt aus dem angloamerikanischen Raum und wurde - wie einige andere Messinstrumente auch – in seiner Anwendungsmöglichkeit auf andere Kulturkreise geprüft und entsprechend modifiziert. Er gilt als international führendes und sehr weit verbreitetes Instrument und hebt sich unter anderem durch die Vielfalt seiner Einsatzmöglichkeiten und seine psychometrische Qualität hervor (Kirchberger, 2000, S. 73). Radoschewski und Bellach (1999, S. 171) betonen die hohe Sensitivität und damit die Eignung dieses Testverfahrens bei älteren chronisch Erkrankten. Das Verfahren blickt auf eine über 20-jährige Entwicklungsgeschichte zurück und beruht auf einer Reihe empirischer Testverfahren. Der Test wurde in mehr als 40 Sprachen übersetzt, wobei für 12 Länder auch Bevölkerungsnormen vorliegen (Kirchberger, 2000, S. 75).
Entstanden ist der SF-36 aus dem Versuch, die Leistungen von Versicherungssystemen in den USA im Rahmen einer Studie zu prüfen, die bereits 1960 begann. Hierzu wurde ein umfangreicher Fragenkatalog entwickelt, der zunächst aus 100 Items bestand und für den SF-36 weiter reduziert wurde. Basis für die Definition der subjektiven Gesundheit waren einerseits theoretische Ansätze aus anderen Forschungsarbeiten und andererseits durch Experten gemeinsam mit den Klienten identifizierte relevante Bereiche der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Zielsetzung war es, möglichst verhaltensnahe und ökonomische Items zu formulieren, die das Konstrukt der subjektiven Gesundheit methodisch adäquat repräsentierten.
Der SF 36-Fragebogen erfasst mit der körperlichen und der psychischen Gesundheit die zwei Grunddimensionen der subjektiven Gesundheit. Diesen beiden Dimensionen lassen sich wiederum je vier Subdimensionen (Subskalen) zuordnen, die mit 35 Items erfasst werden. In der nachfolgenden Tabelle findet sich eine Übersicht der Dimensionen des SF 36.
Tabelle 3: Dimensionen des SF 36
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zusätzlich wird der aktuelle Gesundheitszustand im Vergleich zum vergangenen Jahr durch ein Einzelitem erfasst. Die Antwortkategorien des SF-36 sind unterschiedlich und reichen von „ja – nein“ Antworten bis hin zu sechsstufigen Likert-Antwortskalen.
Gemessen werden mit diesem Verfahren vor allem die Folgen von Gesundheit oder Krankheit, wobei diese dann in ihren Auswirkungen auf die subjektiv erlebte physische und psychische Funktionsfähigkeit auf individueller und sozialer Ebene operationalisiert werden.
Neben dieser Version des SF-36 existiert noch eine 12 Items umfassende Kurzfassung dieses Verfahren, der SF-12. Mit dem SF-12 kann durch Gewichtung der zwölf Items die körperliche und psychische Summenskala ermittelt werden. Es ist aber keine differenzierte Darstellung der acht Subskalen (Subdimensionen) im Profil möglich.
Der Fragebogen kann sowohl von gesunden wie auch von kranken Personen ab dem 14. Lebensjahr bis ins hohe Alter beantwortet werden. Er wird sowohl in der somatischen als auch in der psychiatrischen Medizin eingesetzt und wird häufig verwendet, um in Querschnittsstudien den Gesundheitszustand von Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen zu beschreiben. Der Test bietet eine breites Spektrum an Einsatzmöglichkeiten und wird in klinischen Studien zur Wirksamkeit medizinischer Therapien ebenso eingesetzt wie in epidemiologischen und Public-Health-Studien sowie bei gesundheitsökonomischen Fragestellungen. Ich nenne als Beispiel aus der Praxis die Anwendung des SF-36 bei der Einschätzung der Wirksamkeit von Angehörigenberatungen im Rahmen des Krankheitsbildes der Demenz. Hierbei geht es um die Fragestellung, wie diese Beratungen die Lebensqualität betreuender Angehöriger beeinflussen (TU München, Deutsche Alzheimer-Gesellschaft und Charité Berlin, 2003).
Der SF-36 eignet sich zum Selbstausfüllen durch den Klienten ebenso wie für die Befragung in Interviewform, die sich vor allem für ältere und mental schwer beeinträchtigte Personen eignet. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass im direkten Interviewkontakt eher Antworten im Sinne sozialer Erwünschtheit abgegeben werden, als bei der Selbstbearbeitung des Fragebogens durch den Klienten. Als Bearbeitungszeit für den Fragebogen wird eine durchschnittliche Bearbeitungszeit von 10 Minuten angegeben, wobei ältere Menschen mehr Zeit benötigen. Als weitere Möglichkeit der Datenerhebung werden telefonische Interviews genannt, die vor allem bei Personen ohne Gesundheitsbeeinträchtigung durchgeführt werden können (Kirchberger, 2000, S. 77). In der nachfolgenden Tabelle sind Aufbau und Konzept des SF 36 dargestellt:
Tabelle 4: Aufbau und Konzept des SF-36 (Radoschewski & Bellach, 1999, S. 192)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Auswertung des Fragebogens erfolgt nach einer internationalen Standardisierung, die in den Handbüchern zum SF-36 beschrieben ist und sowohl manuell als auch elektronisch mit entsprechenden Statistikprogrammen durchgeführt werden kann.
Abschließend soll noch auf die Anwendbarkeit des Verfahrens auf die Gruppe der Heimbewohner mit psychischen Störungen eingegangen werden. Kirchberger (2000, S. 78) weist in diesem Zusammenhang auf die Schwierigkeiten hin, die hospitalisierte Patienten bei der Beantwortung der Fragen nach Tätigkeiten des Alltagslebens haben können. Hier sei z.B. das Tragen von Einkaufstaschen oder Sport treiben genannt und es wird dafür plädiert, dass die Fragen so beantwortet werden sollen, als ob die Klienten die gefragte Tätigkeit ausführen könnten, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. Der SF-36 ist bei Heimbewohnern mit psychischen Störungen je nach Ausmaß dieser Störungen zur Einschätzung der subjektiv empfundenen Lebensqualität geeignet, da das Instrument ja auch im Bereich der Psychiatrie eingesetzt wird. Sicherlich empfiehlt sich bei stärkeren Einschränkungen auf jeden Fall die Interviewform und ab einer bestimmten Phase der Erkrankung kann dieses Instrument nicht mehr sinnvoll angewandt werden.
Die Befragung von Demenzkranken zur subjektiv empfundenen Lebensqualität und zum Wohlbefinden ist bei fortschreitendem Erkrankungsverlauf nicht oder nur noch bedingt möglich, da die Klienten, je nach Krankheitsphase nicht mehr in der Lage sind, sich verbal oder gar schriftlich zum eigenen Erleben und Empfinden zu äußern. Vor dem Hintergrund dieser Problematik wurde mit dem Dementia Care Mapping ein spezielles Beobachtungsverfahren entwickelt, mit dessen Hilfe es ermöglicht werden soll, Perspektive und Wohlbefinden von Demenzkranken einzuschätzen. Mit Hilfe des DCM sollen verbale und nonverbale Signale erfasst werden, in Zusammenhang mit der persönlichen Biographie des Klienten gedeutet und zur Verbesserung seines Wohlbefindens genutzt werden. Hierzu wird der Alltag des Betroffenen detailliert abgebildet und diese Abbildung an die Pflegenden zurückgemeldet. Diese Beobachtungen sind dann die Basis für entsprechende Veränderungen im Pflegealltag. Sie sollen einen Zyklus von Verbesserung und Beobachtung in Gang bringen und dadurch zur Erhöhung der Pflegequalität führen. Nach Müller-Hergl, der dieses Verfahren in Deutschland einführte, ist die Zielsetzung des DCM „das Wohlergehen von Menschen mit Demenz, aber auch der Pflegenden und Betreuenden zu erhöhen“ (2002, S. 1). In diesem Konzept wird ein hohes subjektives Wohlbefinden gleichgesetzt mit einer hohen Pflegequalität und im Umkehrschluss eine geringe Ausprägung an subjektivem Wohlbefinden mit schlechter Pflegequalität. Somit wird Wohlbefinden als ein „Ergebnismaß für die Qualität der Arbeit mit Menschen mit Demenz“ (Müller-Hergl, 2002, S. 3) angesehen.
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