Diplomarbeit, 2005
107 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitung
2. Alkohol und Alkoholabhängigkeit
2.1 Begriffsbestimmung und geschichtlicher Rückblick
2.2 Definition von „Abhängigkeit“ und „Alkoholabhängigkeit“
2.2.1 Typologien einer Alkoholabhängigkeit
2.3 Theorien zur Entstehung von Suchtkrankheiten
3. Familie als soziales System
3.1 Entwicklung der Systemtheorien
3.2 Das soziale System Familie
3.2.1 Familienregeln und -grenzen
3.2.2 Familienrollen
3.3 Ein abhängiges Familiensystem aus systemischer Perspektive
4. Alkoholabhängigkeit im familiären Kontext
4.1 Familiäre Situation
4.1.1 Entwicklung der Abhängigkeit innerhalb der Familie
4.1.2 Familienregeln
4.1.3 Abwehrmechanismen und Rollenübernahme innerhalb der Familie
4.2 Die Rolle des Abhängigen in der Familie
4.3 Die Rolle der Partnerin in der Familie
4.4 Die Kinder in alkoholbelasteten Familien
4.4.1 Alkoholabhängigkeit der Mutter - Die Alkoholembryopathie
4.4.2 Die Situation des Kindes innerhalb der Familie
4.4.3 Verhaltensweisen und Verhaltenstörungen
4.4.4 Rollenmodelle nach Wegschneider und Black
5. Die erwachsenen Kinder aus alkoholbelasteten Familien
5.1 Fortsetzung der Rollen
5.2 Charaktereigenschaften erwachsener Kinder alkoholabhängiger Eltern
5.3 Die Situation der Kinder im Erwachsenenalter
5.3.1 Verhaltensweisen und Gefühle erwachsener Kinder alkoholkranker Eltern
5.3.2 Die Partnerwahl
5.3.3 Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte
5.4 Transmission von Abhängigkeit
5.4.1 Einfluss genetischer Faktoren bei der Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit
5.4.2 Die Rolle der familiären Umwelt bei einer Transmission
5.4.3 Psychologische und subjektive Reaktionen auf Alkohol bei erwachsenen Kindern aus alkoholbelasteten Familien
5.4.4 Risiko- und Schutzfaktoren bei einer Transmission
5.4.4.1 Risikofaktoren
5.4.4.2 Schutzfaktoren
6. Hilfe für erwachsene Kinder aus Suchtfamilien
6.1 Selbsthilfeorganisationen
6.1.1 Die Al-Anon Familiengruppe
6.1.2 Blaues Kreuz Deutschland
6.1.3 Der Kreuzbund
6.1.4 Der Guttempler-Orden
6.2 Alternative Hilfen
6.3 Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien
7. Schlussfolgerungen
8. Literaturverzeichnis
Grundlage für die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Thematik „Erwachsene Kinder alkoholabhängiger Eltern“ im Rahmen dieser Diplomarbeit waren unter anderem Beobachtungen aus der Praxis. Während eines Praktikums in einem Kinderheim musste ich feststellen, dass ca. 80% der dort lebenden Kinder aus Familien mit mindestens einem alkoholabhängigen Mitglied stammten. Daraus entwickelte sich bei mir folgende Fragestellung: „Welche Auswirkungen kann eine Kindheit in einem Familiesystem mit einem abhängigen Mitglied auf das Erwachsenenleben der betroffenen Kinder haben?“
Neben diesem privaten Interesse existiert aber auch eine große Bedeutung aus gesellschaftlicher Perspektive, da Alkoholabhängigkeit heute zu einer der größten sozialmedizinischen Probleme gehört.
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) schätzt die Anzahl, der in Deutschland mit einem gesundheitlich riskanten Alkoholkonsum lebenden Menschen, auf 9,3 Millionen. Von diesen gehören 2,7 Millionen zu denjenigen, welche einen missbräuchlichen Konsum aufweisen, was bedeutet, dass bei ihnen körperliche oder soziale Schädigungen aufgrund des hohen Alkoholkonsums zu beobachten sind. Weitere 1,6 Millionen Menschen werden als Abhängige definiert, da sie unter anderem nicht mehr in der Lage sind, ihren Alkoholkonsum selbst zu steuern. Laut aktuellem Suchtbericht betrug der allgemeine Pro-Kopf-Verbrauch an reinem Alkohol in Deutschland im Jahre 2003 durchschnittlich 10,2 Liter. Damit liegt Deutschland im internationalen Vergleich an fünfter Stelle und gehört zu den sieben Ländern in der Welt, in denen mehr als 10 Liter reiner Alkohol pro Kopf und Jahr konsumiert werden.
Die Sichtweise auf den Alkoholismus bzw. die Alkoholabhängigkeit hat sich in den letzten Jahrhunderten grundlegend geändert. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Alkoholismus, damals noch mit dem Begriff Trunksucht bezeichnet, unter rein moralischen Gesichtspunkten gesehen. Der Alkoholabhängige galt als minderwertiger und willensschwacher Mensch, welcher selbst für sein Elend verantwortlich war. Erst als im Jahre 1968 Alkoholismus durch das Bundessozialgericht als Krankheit anerkannt wurde, änderte sich auch die allgemeine Betrachtungsweise. Alkoholabhängigkeit wurde nun als eine Krankheit mit Ursachen, Symptomen und einer vorhersehbaren Prognose aufgefasst. Allerdings war der Blick noch immer ausschließlich auf den Betroffenen und seine Symptome gerichtet. Die Familie des Suchtkranken wurde entweder in der Rolle des Verursachers oder in der Rolle des Opfers gesehen. In den letzten Jahrzehnten änderte sich jedoch diese individuumszentrierte Sichtweise. Heutzutage steht nicht mehr nur der Alkoholabhängige im Mittelpunkt, sondern auch das psychosoziale System, in dem er lebt. Dies ist in der Regel die Familie. Süchtiges Verhalten wird somit nicht mehr als ein Problem eines Einzelnen, sondern als eine Interaktion im (Familien-) System gesehen.
Wenn Eltern zu viel Trinken, können sich am wenigsten die Kinder dieser Situation entziehen. Gerade sie sind die eigentlichen Opfer, da sie in der Regel in ein abhängiges Familiensystem hineinwachsen oder hineingeboren werden. Sie fühlen sich hin und her gerissen, empfinden sich als unerwünscht und überflüssig und werden dazu häufig noch als Ursache für das familiäre Elend angesehen. Alkoholabhängigkeit ist eine Krankheit, die sich über Generationen hinweg fortsetzen kann. Kinder, die in einer Familie mit einem abhängigen Mitglied aufgewachsen sind, fällt es meistens noch als Erwachsene schwer, Gefühle zu erkennen und auszudrücken. Überdies besteht bei ihnen ein erhöhtes Risiko, später selbst suchtkrank zu werden oder sich einen suchtkranken Partner zu suchen. Die Anzahl der Kinder unter 18 Jahren, die mit mindestens einem suchtkranken Elternteil aufwachsen, so das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS), liegt bei über 2,5 Millionen.
Die vorliegende Diplomarbeit beschäftigt sich mit der Problematik der in einem alkoholabhängigen Familiensystem aufwachsenden Kinder und den daraus resultierenden Konsequenzen für ihr Erwachsenenleben. Es soll auf mögliche Schädigungen im Kindes- und Jugendalter eingegangen werden, um die Vielfalt derselben und deren Auswirkungen auf das weitere Leben dieser Kinder zu verdeutlichen. Dabei wird die Definition: „Alkoholismus ist eine Familienkrankheit“ als Grundlage der Arbeit angenommen. Das heißt, dass nicht nur jedes einzelne Familienmitglied insbesondere von der Krankheit beeinflusst wird, sondern auch das Familiensystem als Ganzes.
Zu Beginn der Arbeit wird eine Übersicht über begriffliche Eingruppierungen und Definitionen von Alkohol und Alkoholabhängigkeit gegeben. Ebenso werden verschiedene Typologien einer Alkoholabhängigkeit vorgestellt, um im Folgenden einen Überblick über die Entstehung von Suchtkrankheiten zu geben.
Das nächste Kapitel beschreibt die Entstehung der Allgemeinen Systemtheorie, um daraufhin die Familie als soziales System vorzustellen. Dies soll verdeutlichen, in welchem Zusammenhang die zugrunde liegende Definition der Arbeit gesehen wird. Aufbauend darauf wird ein abhängiges Familiensystem aus systemischer Sichtweise betrachtet.
Der folgende Abschnitt richtet, nach dem Blick auf das gesamte Familiensystem, schließlich den Fokus auf das Verhalten und Erleben der einzelnen Familienmitglieder. Das besondere Interesse gilt dabei der Frage nach den Auswirkungen des Suchtverhaltens eines Elternteils auf die Interaktionen und die Rollen der einzelnen Familienmitglieder, insbesondere der Kinder. Dazu wird zunächst das gesamte Familiensystem, später die einzelnen Mitglieder, einer von Alkoholabhängigkeit betroffenen Familie beschrieben. Ferner werden die Überlebensstrategien der Kinder in einem alkoholabhängigen Familiensystem durch die Übernahme bestimmter Rollen geschildert.
Das Kernstück der Diplomarbeit betrachtet die Auswirkungen der Kindheit in einem alkoholbelasteten Familiensystem auf die erwachsenen Kinder alkoholabhängiger Eltern. Dazu wird u.a. die Fortsetzung der erlernten Rollen, Charaktereigenschaften sowie die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der Krankheit und den Eltern, beschrieben. Darauf folgend wird die Problematik erörtert, dass Kinder alkoholkranker Eltern Gefahr laufen, selbst in eine Alkoholabhängigkeit zu geraten oder sich einen abhängigen Partner zu suchen. Zur Diskussion steht zuletzt die Frage nach einer genetischen oder sozialen Weitergabe einer Alkoholabhängigkeit.
Im letzten Abschnitt der Arbeit werden verschiedene Hilfsmöglichkeiten für Betroffenen aufgezeigt. Dabei liegt das Hauptinteresse auf jenen Selbsthilfeorganisationen, welche auch Hilfe für erwachsene Kinder alkoholabhängiger Eltern anbieten.
Begriffsbestimmung
Der Ursprung des Wortes „Alkohol“ geht auf den aus dem Mittelalter stammenden arabischen Begriff „al-kuhl“ zurück. Mit ihm wurde eine Salbe, die zum Schminken der Augenlider diente, bezeichnet. Paracelsus[1] übertrug den Begriff auf eine leicht flüchtige Substanz, die sich bei der Destillation von Wein gewinnen ließ.
Alkohol genauer Ethylalkohol oder Ethanol (C2H5OH), ist eine klare, farblose Flüssigkeit mit brennendem Geschmack sowie einem charakteristischen Geruch.
Konzentriertes Ethanol lässt sich u.a. durch Destillation gewinnen, wobei dieser dann aus knapp 96% Ethanol und etwa 4% Wasser besteht. Höhere Konzentrationen sind durch Destillation nicht erzielbar. Allerdings ist es durch die Verwendung bestimmter Chemikalien möglich, das restliche Wasser zu entfernen und so absoluten Alkohol herzustellen.
Schon in alten Zeiten wurde Alkohol durch Gärung von Zucker gewonnen und auch heute werden alkoholische Getränke noch auf diesem Weg hergestellt. Als Rohstoffe dienen u.a. Melasse, Rohrzuckersaft, Produkte aus der Holzverzuckerung, Früchte und Trauben oder Stärke aus Mais, Kartoffeln oder Getreidesorten.
Alkohol dringt über die Schleimhäute in die Blutbahn ein und durchströmt den gesamten Organismus. Er wirkt unmittelbar toxisch (giftig) und sedativ (beruhigend). Dabei beeinflusst er vor allem die Zentren des Gehirns, welche das Bewusstsein und die Gefühle steuern.
Die Alkoholkonzentration im Blut kann ungefähr nach folgender Formel berechnet werden: Getrunkener Alkohol in Gramm geteilt durch Körpergewicht in kg x 0,7 (bei Männer) bzw. x 0,6 (bei Frauen).
Ab ca. 0,2 Promille verändern sich subjektives Erleben und persönliches Verhalten. Man fühlt sich freier und zwangloser. Sehfähigkeit, Konzentrationsvermögen und Bewegungskoordination lassen nach. Ab etwa einem Promille Blutalkoholkonzentrat beginnt das Rauschstadium[2] mit heiterer oder depressiver Stimmung. Es kommt zu Gleichgewichts- und Sprachstörungen, wie z.B. Torkeln oder Lallen. Bei ca. zwei Promille wird das Betäubungsstadion erreicht. Störungen des Gedächtnisses und der Orientierung treten auf. Vom Beginn einer schweren oder akuten Alkoholvergiftung, die im schlimmsten Falle zum Tod durch Atemstillstand führen kann, spricht man bei über drei Promille Blutalkoholgehalt.
Die „Abbauarbeit“ im Körper übernimmt zu 90-95% die Leber, der Rest des Alkohols wird direkt ausgeschieden.
Geschichte
Der Gebrauch, sowie die Herstellung von alkoholischen Getränken, lassen sich bis in die vorhistorische Zeit zurückverfolgen.
So geht aus keilschriftlichen Zeugnissen der Summerer und Akkader aus dem 3. Jahrhundert v.Chr. hervor, dass Bier, welches zunächst aus Getreide und später aus Datteln hergestellt wurde, neben Wasser ein übliches Getränk im alten Mesopotamien darstellte. Auch im alten Ägypten gibt es bereits aus den Jahren um 3000 v.Chr. Hinweise auf die Herstellung und den Konsum von Bier. Aber auch vom Weingebrauch wird berichtet, der allerdings vorwiegend wohlhabenden Kreisen vorbehalten war. Die Bewohner des antiken Griechenland nutzten alkoholische Getränke als Genussmittel, aber auch um ihren Göttern Dankopfer darzubringen. In der chinesischen Kultur wird ebenfalls früh vom Gebrauch alkoholischer Getränke berichtet. In der Shang-Dynastie (ca. 1650-110 v.Chr.) war das Weintrinken schon allgemein verbreitet und teilweise sogar ritualisiert.[3]
Da Alkohol jedoch nicht zuverlässig verfügbar war und die notwendigen Grundstoffe in erster Linie direkt der Ernährung dienten, kam es bis ins Mittelalter trotz weiter Verbreitung zu keiner nennenswerten Entwicklung von Abhängigkeiten. Ein ausgeprägter Alkoholkonsum ist erst belegt, als die Entlohnung von Leibeigenen und Tagelöhnern teilweise in Form von alkoholischen Getränken bzw. durch die Gewährung des Privilegs eigener Alkoholherstellung erfolgte. Auch im beginnenden Industriezeitalter war diese Art der Entlohnung noch eine gängige Praxis, was zur Folge hatte, dass mancherorts ein „Elendsalkoholismus“ entstand. Die zunehmende Verbreitung der Destillation führte dazu, dass die Konsequenzen des daraus folgenden vermehrten Alkoholkonsums zunahmen und immer deutlicher hervortraten. Zur Eindämmung des Konsums und der daraus entstehenden Abhängigkeit wurden in manchen Ländern staatlicherseits wiederholt massive Maßnahmen ergriffen, von denen die Prohibition in den USA das wohl bedeutsamste und bekannteste Beispiel ist.
Da der Begriff „Alkoholismus“ sehr unterschiedlich definiert werden konnte[4], empfahl die World Health Organisation (WHO) im Jahre 1964, ihn durch den Begriff „Abhängigkeit“ zu ersetzten. Gleichzeitig sollte zwischen physischer und psychischer Abhängigkeit unterschieden werden. Während physische Abhängigkeit durch ein Auftreten eines Entzugssyndroms nach Trinkpausen charakterisiert ist, zeigt sich psychische Abhängigkeit in dem zwingenden Verlangen nach weiterem Alkoholkonsum zur Stimmungsänderung. Bei Alkoholkranken stehen beide Abhängigkeitsformen in enger Beziehung.[5] Gleichzeitig wurde von der WHO ein Diagnoseklassifikationssystem entwickelt, um eine international einheitliche Diagnostik und Prognostik psychischer Störungen zu ermöglichen. Im „International Classification of Diseases and Related Health Problems“, (10. Revision ICD-10) werden im Kapitel V Abhängigkeiten beschrieben. Unter dem Titel F10.0-F19.0 „Psychische Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ sind die einzelne Symptomatiken genau abgegrenzt. Abhängigkeit wird dort definiert als: „Eine Gruppe von Verhaltens-, kognitiven und körperlichen Phänomenen, die sich nach wiederholtem Substanzgebrauch entwickeln. Typischerweise besteht ein starker Wunsch, die Substanz einzunehmen, Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren, und anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen. Dem Substanzgebrauch wird Vorrang vor anderen Aktivitäten und Verpflichtungen gegeben. Es entwickeln sich eine Toleranzerhöhung[6] und manchmal ein körperliches Entzugssyndrom.“[7]
Dabei kann sich die Abhängigkeit auf einen einzelnen Stoff oder auf eine Substanzgruppe beziehen.
Alkoholabhängigkeit im besonderen definiert die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) als psychiatrische Erkrankung, die vorliegt bei „einem oft starken, gelegentlich übermächtigem Wunsch, Alkohol zu konsumieren, bei einer Einengung des Denkens und der Interessen auf den Alkoholkonsum sowie einer verminderten Kontrolle über die getrunkene Menge.“[8] Diese Abhängigkeit ist subjektiv erlebbar und oft entsteht unmerklich.
Die genaue Diagnose „Abhängigkeit“ kann aber nur gestellt werden, wenn während des letzten Jahres drei oder mehr der von der ICD-10 entwickelten acht Kriterien für Alkoholabhängigkeit zutreffen:
(1) ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren
(2) verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Alkoholkonsums
(3) Alkoholkonsum mit dem Ziel, Entzugssyndrome zu mildern und eine entsprechende positive Erfahrung
(4) ein körperliches Entzugssyndrom
(5) Toleranzsteigerung
(6) eingeengtes Verhaltensmuster im Umgang mit Alkohol
(7) fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Alkohols
(8) anhaltender Alkoholkonsum trotz Nachweises schädlicher Folgen[9]
Heutzutage wird Alkoholabhängigkeit mit ihren Folgeerkrankungen als Krankheit anerkannt. Das Krankheitskonzept war aber lange Zeit sehr umstritten, obwohl bereits im Jahr 1780 der schottische Arzt Totter die „Begierde nach häufiger Trunkenheit [als] eine durch die chemische Natur der alkoholischen Getränke hervorgerufene Krankheit“[10] beschrieb. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde diese Definition von Jellinek wieder aufgegriffen und ist inzwischen allgemein üblich. Gesetzlich wurde die Frage nach der Anerkennung des Krankheitskonzeptes im Jahre 1968 geklärt. In diesem Jahr wurde mit einer Entscheidung des Bundessozialgerichts der Bundesrepublik Deutschland das Krankheitskonzept des Alkoholismus und dessen Folgeerkrankungen anerkannt.[11] Im Grundsatzurteil des Bundessozialgerichtes heißt es: „Trunksucht ist eine Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung RVO“ (§ 182, RVO).
Versuche, Alkoholabhängige nach Trinkmenge, Trinkmuster, Trinkmotivation, psychopathologischen Gesichtspunkten oder Folgeschäden zu klassifizieren, blieben lange Zeit unbefriedigend. Die von Prof. Jellinek (1960) erarbeitete Typologie hat aber allgemein große Akzeptanz und Bedeutung erlangt.[12]
Die Auswertung einer Befragung von 2000 anonymen Alkoholikern veranlasste ihn zur Aufstellung eines Phasenmodells. In diesem unterschied er zwischen Alpha-, Beta-, Gamma- und Delta-Alkoholikern. Später ergänzte er sein Modell durch den Epsiolon-Alkoholiker. Dabei bezeichnete er den Alpha- und Beta-Typus als Vorstufe der Alkoholkrankheit, den Delta- und Epsilon-Trinker als alkoholkrank. Im Folgenden werden die einzelnen Klassifikationen näher erläutert.
Alpha-Typ
Alpha-Alkoholiker werden auch Konflikt-, Wirkungs- und Erleichterungstrinker genannt. Aufgrund psychischer Auffälligkeiten erfahren sie nach dem Konsum von Alkohol u.a. deutliche Entspannung, Entlastung, ein Gefühl von Sicherheit, Enthemmung und besseres Durchsetzungsvermögen. Diese positiven Alkoholerfahrungen veranlassen sie, in erneuten Belastungssituationen wiederholt auf Alkohol zurückzugreifen, wodurch sie mit der Zeit eine psychische Abhängigkeit entwickeln. Da diese jedoch nicht physischer Natur ist, haben sie die Möglichkeit, jederzeit mit dem Trinken aufzuhören.
Beta-Typ
Beta-Alkoholiker werden vielfach als Gelegenheitstrinker beschrieben. Dabei handelt es sich um Alkoholkonsumenten, die aufgrund von Trinkgewohnheiten übermäßig häufig Gelegenheiten suchen, Alkohol zu konsumieren. Sie entwickeln aber weder eine psychische noch eine körperliche Abhängigkeit. Allerdings zeigen sich bei ihnen gesundheitliche Folgen des Alkoholkonsums, wie z.B. Polyneuropathie, Gastritis, Leberzirrhose etc.
Gamma-Typ
Die Bezeichnungen „süchtiger Trinker“ oder „Rauschtrinker“ sind für den Gamma-Typ gebräuchlich. Bei ihm ist die psychische Abhängigkeit stärker ausgeprägt als die ebenfalls vorhandene körperliche Abhängigkeit. Typisch für Gamma-Alkoholiker ist, dass sie im Verlauf eines Trinkaktes ihren Konsum nicht mehr steuern können. Sie erleiden einen Kontrollverlust. Dieser Alkoholiker-Typ ist allerdings in der Lage, phasenweise abstinent zu bleiben.
Delta-Typ
Der Delta-Typ charakterisiert sich durch einen rauscharmen aber kontinuierlichen Alkoholkonsum. Die körperliche Abhängigkeit ist bei ihm stärker ausgeprägt als die ebenfalls vorhandene psychische Abhängigkeit. Es kommt beim Trinken zu keinem Kontrollverlust. Delta-Alkoholiker können sich des Alkoholkonsums jedoch nicht enthalten (Unfähigkeit zur Abstinenz), da sie sonst unter Entzugserscheinungen zu leiden hätten.
Epsilon-Typ
Epsilon-Alkoholiker können oft monatelang abstinent leben und dann in unregelmäßigen Abständen kurze Phasen exzessiven Alkoholkonsums erleben (episodischer Trinker). Bei ihnen ist, ebenso wie beim Gamma-Typ, die psychische Abhängigkeit wesentlich stärker ausgeprägt als die körperliche. Gleich dem Gamma-Typ sind auch für sie Kontrollverluste charakteristisch.[13]
Das Problem dieser Typologie, so die DHS, liegt darin, dass die Typen nicht zeitstabil sind, weshalb diese Einteilung in der Wissenschaft nicht mehr verwendet wird. Neuere Klassifikationen sind Typologien von Cloninger oder Babor. Cloninger und seine Mitarbeiter unterschieden 1987 aufgrund von genetischen Untersuchungen zwei Typen von Alkoholikern, welche sich auch klinisch identifizieren lassen. Sie kombinieren genetische Aspekte mit den drei Persönlichkeitsmerkmalen „Suche nach Neuigkeiten“, „Schadensvermeidung“ und „Belohnungsabhängigkeit“.
Die Basis der Typologie von Babor bilden klinisch-empirische Daten. Er und seine Mitarbeiter kamen mittels Analysen bei 312 männlichen und weiblichen Alkoholikern ebenfalls zur Aufstellung von zwei unterschiedlichen Typen.
Die Übereinstimmung beider Typologien besteht darin, dass es Alkoholismus-Typen mit frühem und spätem Beginn gibt. Des Weiteren stimmen beide bezüglich ihrer Prognose überein: „Je früher der Alkoholismus auftritt, umso ungünstiger ist in der Regel der Verlauf“.[14]
Biologische Theorien
Die biologische Theorie geht davon aus, dass alle Substanzen mit Abhängigkeitspotential auf direktem oder indirektem Wege das Belohnungssystem des Menschen aktivieren. Eine wichtige Rolle in diesem Belohnungssystem spielen dabei die Verknüpfung von Angst, Schmerz und Sucht. Ausgangspunkt für die Annahme eines solchen Systems waren Tierversuche. Den Tieren wurde über einen langen Zeitraum hinweg die Möglichkeit gegeben, zwischen verschiedenen alkoholfreien und alkoholhaltigen Flüssigkeiten zu wählen. Es zeigte sich, dass sie Verhaltensweisen und Entwicklungsabläufe ausbildeten, die als Abhängigkeit charakterisiert werden können. Dabei wurden Parallelen zur Abhängigkeit beim Menschen entdeckt. In weiteren Tierversuchen konnte gezeigt werden, dass bestimmte Substanzen bei Tieren eine Alkoholpräsenz auslösen konnten, so dass die Annahme eines biologisch bedingten Suchtverhaltens nahe lag.
Auch dem Gedächtnis kommt bei der biologischen Theorie der Sucht ein entscheidender Stellenwert zu. Wenn erste Erfahrungen mit Drogen und deren Wirkungen gemacht wurden, dann wird angenommen, dass alle im assoziativen Gedächtnis verknüpften Informationen potentielle Auslöser einer erneuten Drogeneinnahme sein können.
Psychodynamische Theorieansätze
In psychoanalytischen Theorieansätzen wird Sucht als Symptom einer zugrundliegenden Persönlichkeitsstörung angesehen. Dabei steht die Abhängigkeit im direkten Zusammenhang mit Problemen des Selbstwertgefühls, die kompensatorisch mit Größenphantasien verbunden sind. Entscheidend für die Entstehung einer Sucht werden bei diesen Ansätzen die ich-psychologischen Defizite, wie die Wahrnehmung von Affekten und Impulskontrolle, das Urteilsvermögen, integrative und organische Fähigkeiten, sowie die Über-Ich Struktur, angesehen. Es wird weiterhin angenommen, dass es sich bei der Entwicklung einer Abhängigkeit hauptsächlich um eine frühe Störung handelt, wobei die Identitätsbildung, die Entwicklung von Autonomie und die Entwicklung von Über-Ich-Funktionen (Kontrollfähigkeit) gestört sind.
Persönlichkeitsorientierte Ansätze
Persönlichkeitsorientierte Ansätze gehen davon aus, dass Merkmale in der Persönlichkeit existieren, die relevant für die Entwicklung einer Abhängigkeit sein können. In empirischen Untersuchungen über Persönlichkeitsmerkmale hat sich gezeigt, dass „Impulsivität, Nonkonformität, Ablehnung sozialer Werte, antisoziales Verhalten und Hyperaktivität in Zusammenhang mit späterem Alkoholmißbrauch stehen“.[15] Ausgangspunkt dieser Ansätze ist, dass auch wenn es keine einheitliche Suchtpersönlichkeit gibt, einige der genannten Persönlichkeitsmerkmale für einen Teil der Abhängigen als charakteristisch angesehen werden können.
Verhaltenstheorien
Alkoholabhängigkeit wird bei diesen Ansätzen als erlerntes Verhalten betrachtet. Die erste Alkoholerfahrung erfolgt in diesem Sinne im sozialen Kontext der Familie oder in Gruppen von Gleichaltrigen. Durch den Konsum von Alkohol kommt es bei den Betroffenen allmählich zu einer Reihe von positiven Erfahrungen, die sie durch erneuten Konsum wieder erfahren wollen. Diese Theorien erklären die positive Wirkung des Alkohols nicht durch Konditionierung, sondern im Sinne einer Erfolgserwartung, wobei die erwartete Wirkung des Alkohols als entscheidend angesehen wird. Zentrale Bedeutung wird hierbei auch der Stressanfälligkeit als mangelnde soziale Kompetenz zugeschrieben. Stressanfälligkeit kann zu Stresssituationen verschiedenster Art beitragen, die wiederum durch Alkoholkonsum als Problemlöser besser bewältigt werden können.
Die soziale Lerntheorie, die ihren Schwerpunkt in der Interaktion mit sozialen Umweltfaktoren hat, stellt einen umfassenden Ansatz innerhalb der Verhaltenstheorien dar. „Sie bezieht Familien- und Peer-groups, Modellernen, Alkoholerwartungen, unterschiedliche Kompetenzen, Sozialisationsdefiziente, situative Faktoren und biologische Faktoren der Alkoholwirkung mit ein.“[16]
Soziologische Theorien
Aus soziologischer Sicht wird Sucht als abweichendes Verhalten verstanden, dessen Entwicklung wesentlich von den jeweiligen sozialen Normen und Regeln der Gesellschaft abhängig ist. Das Ziel dieser Theorieansätze ist nicht die Erklärung der Suchtentwicklung im Einzelfall, sondern Erklärungen für den Alkoholkonsum in einer Population oder in sozialen Gruppen. Die Rollentheorie von Winick (1983) geht davon aus, dass Suchtmittelabhängigkeit gehäuft auftritt, wenn „Suchtmittel verfügbar sind, soziale Normen und Konventionen bezüglich ihres Konsums nicht anerkannt werden und es zu Rollenüberforderung oder zu einer Trennung von sozialen Rollen kommt.“[17] Außerdem wird angenommen, dass allgemeine soziale Stressauslöser zu einem verstärkten Alkoholkonsum beitragen können.
Systemische Theorien
Bei dem systemischen Ansatz steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit durch die Auseinandersetzung mit dem Suchtverhalten und dessen Folgen die verschiedensten Familieninteraktionen beeinflusst werden. Dabei stellt das Suchtmittel ein zentrales, organisierendes Prinzip für die Interaktionen in der Familie dar. Damit die Familie als Ganzes ihre Aufgaben weiterhin erfüllen kann, muss sie auf das Suchtverhalten des Abhängigen reagieren. Das bedeutet, dass die einzelnen Familienmitglieder zunächst versuchen, das süchtige Verhalten zu kontrollieren, um die negativen Folgen so gering wie möglich zu halten. Wenn dies fehlschlägt, bemühen sie sich, den Süchtigen aus der Familie auszugrenzen.
Dabei erfolgt das Verhalten der einzelnen Familienmitglieder nach den gleichen starren Grundsätzen wie das des Süchtigen. Es wird allerdings nicht angenommen, dass es die typische Alkoholiker- oder Suchtfamilie gibt.
Sucht stellt somit in diesen Theorien keinen eigenständigen Prozess mit speziellen Regeln dar.
Nach diesen Charakteristiken des systemischen Ansatzes entstanden die systemisch-familientherapeutische Vorgehensweisen.[18]
Da die systemische Sichtweise als Grundlage dieser Arbeit dienen soll, wird sie im folgenden Kapitel näher erläutert.
Bei Systemtheorien handelt es sich um Konzepte des Erkennens und Begreifens von Zusammenhängen einzelner Systeme. Sie beschreiben eine Gesamtheit, deren Elemente in einem Netzwerk von Wechselbeziehungen miteinander verbunden sind, in dem jedes die Bedingungen aller anderen beeinflusst. Als Hauptmerkmal des Systemmodells gilt, dass sich die Aufmerksamkeit nicht auf das einzelne Objekt, sondern auf die Beziehungen, die zwischen den Objekten existieren, konzentriert. Dabei gelten die einzelnen Objekte als Teile eines Systems. Diese Teile sind in einer gesetzmäßigen Form aufeinander bezogen und können nicht isoliert voneinander verstanden werden, wobei das Ganze mehr als die Summe seiner Teile darstellt.[19] Im Rahmen dieser Sichtweise werden Beobachtungen und Beschreibungen auf Muster, Form und Organisation gelenkt.[20]
Die Systemtheorie kann als Rahmentheorie gesehen werden, die mit dem Ziel entwickelt wurde, sie in verschiedenste Wissensgebiete zu integrieren. Böse und Schiepek weisen jedoch darauf hin, dass die Systemtheorie weit davon entfernt ist, eine einheitliche Wissenschaft mit klar abgegrenzten Begrifflichkeiten zu sein.[21]
Als vielleicht wichtigster Gründungsvater dessen, was heute mit der Systemtheorie in Verbindung gebracht wird, ist der österreichische Biologe Ludwig von Bertalanffy zu sehen. Von ihm wurden bereits 1928 die ersten Ansätze systemischen Denkens formuliert und bis in die 40er Jahre des 20. Jahrhunderts zu der so genannten „Allgemeinen Systemtheorie“ weiterentwickelt. Bertalanffy sah Systeme jeder Art als geordnete Gebilde an, zwischen denen Wechselbeziehungen bestehen. Diese erzeugen eine bestimmte Ordnung, wobei die Elemente sich jeweils zu einer höheren Einheit im System verbinden. Neben der Allgemeinen Systemtheorie von Bertalanffy existieren weitere Wurzeln systemischen Denkens, die sich bis heute in den verschiedensten Fachgebieten herausgebildet haben. Dazu gehört unter anderem die Kybernetik, welche als Steuerungslehre technischer Systeme nach dem zweiten Weltkrieg der Systemtheorie zu einem ersten Durchbruch verhalf.
Grundlegend für die neuere soziale Systemtheorie sind Beiträge von Luhmann und Maturana. Bei dem biologischen Ansatz von Maturana bestehen soziale Systeme aus konkreten Menschen und ihrer Vernetzung durch Strukturkoppelung.[22] Er versucht die Beziehung zwischen einer „strukturdeterminierten Einheit“ (z.B. dem Individuum) und dem Medium, in dem diese existiert (z.B. Familie) zu beschreiben. Für ihn handelt es sich bei sozialen Systemen um eine komplementäre Beziehung zwischen der Einheit (Individuum) und dem Medium (Familie).[23] Nach dem Verständnis von Maturana werden soziale Systeme von Menschen gebildet, weil sie aufgrund ihrer biologischen Struktur dazu bestimmt sind.[24]
Die im engeren sozialwissenschaftlichen Sinne bezeichnete Systemtheorie geht im wesentlichen von Luhmann aus, der Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts seinen Forschungsansatz entwickelte. Was Maturana auf lebende, individuelle Systeme einschränkte, weitet Luhmann zu einer allgemeinen, umfassenden Beschreibungskategorie für Systeme auf allen möglichen Ebenen aus.[25] Im Gegensatz zu Parsons[26], an dessen theoretische Arbeiten er anschließt, sieht er in einem sozialen System ein reales System, d.h. die konstituierenden Elemente werden durch das beobachtete soziale System selbst bestimmt. In seiner Theorie steht nicht der Mensch im Zentrum der Gesellschaft, sondern er gehört zu deren Umwelt. Die Elemente sozialer Systeme stellen für Luhmann keine Menschen, sondern kommunikative Akte dar. Diese Sichtweise ist angelehnt an den sozialen Konstruktionismus, der davon ausgeht, dass wir die Welt miteinander im Dialog konstruieren.
Um dem Entweder-Oder zu entgehen entwickelte Ludewig ein Gesamtkonzept, welches sowohl den biologischen Standpunkt Manturanas als auch den soziologischen von Luhmann einbezieht. Für Ludewig können Systeme als Konstrukte menschlicher Erkenntnis, als Folge der zirkulären Bewegung von Beobachten und Denken betrachtet werden. Um eine Brücke zwischen Menschen und Kommunikation zu schlagen, beschrieb er die Elemente sozialer Systeme als Mitglieder. Diese stiften als kommunikative Einheiten Sinn und reduzieren so die Komplexität, indem sie sich Themen zuordnen, Kontinuität herstellen und überschaubare Einheiten gestallten.[27]
Soziale Systeme sind im Unterschied zu biologischen Systemen auf der Sinnebene angepasst. Ein soziales System bringt einen „Kontext von Bedeutungen, Werten und Normen hervor, die sinnhaft aufeinander bezogen sind und den Bezugsrahmen für die Handlungen und Gedanken der Personen abgeben, deren direkte und indirekte Interaktion das System reproduzieren und transformieren.“[28] Somit kann Familie in systemischer Sichtweise als etwas definiert werden, was zusammensteht und was ein Beobachter auch als zusammenstehend deutet. Es ist die Bezeichnung für einen Sinnzusammenhang von Elementen, die als Einheit begriffen und so von anderen Elementen unterschieden werden können. Die Aufmerksamkeit ist dabei nicht auf das einzelne Objekt, sondern auf die Beziehungen zwischen den einzelnen Familienmitgliedern gerichtet. Dabei ist die Beziehung der Mitglieder untereinander quantitativ intensiver und qualitativ produktiver als ihre Beziehungen zu ihrer Umwelt. Verbunden sind die einzelnen Mitglieder des Systems Familie durch einen intensiven wechselseitigen Austausch von Gefühlen, Verhaltensweisen und Informationen. Durch die Sprache einigen sie sich auf bestimmte Themen, die einen gemeinsamen Sinn konstruieren. Die Familie wird in der Systemtheorie als eine sich ständig verändernde Beziehung verschiedener Einzelsysteme verstanden. Dabei werden die Einzelsysteme, die kleiner als die Kernfamilie sind, als Subsysteme bezeichnet. Die bedeutendsten familiären Subsysteme lassen sich unterscheiden in:
(1) das eheliche Subsystem mit der Funktion der gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung und Unterstützung der Partner,
(2) das elterliche Subsystem mit der Funktion der Ernährung und Sozialisation der Kinder,
(3) das Geschwistersubsystem mit der Funktion der Ausbildung von gleichaltrigen Beziehungen,
(4) das Geschlechtersubsystem (z.B. Mutter-Tochter) mit der Funktion der Ausbildung der geschlechtlichen Identität.[29]
Die Subsysteme regeln ihre Beziehungen und Interaktionen durch innere Grenzen. Diese regulieren innerhalb des größeren Systems Familie ihre Beziehungen und Interaktionen, wobei die Unterschiedlichkeit der Beziehungen eine Systemgrenze festsetzt, die das System von der Umwelt trennt. Die einzelnen Subsysteme stehen dabei untereinander in einer Hierarchie, wodurch z.B. das elterliche Subsystem „ranghöher“ als das kindliche Subsystem ist.
Die Dynamik der familiären Interaktionen entsteht durch die Einigung auf gemeinsame Sinndeutungen und eine gemeinsame Geschichte, die in der Regel den Zeitverlauf mehrerer Generationen umfasst. In der Familie ist jede Verhaltensweise eines Mitgliedes systemrelevant. Veränderungen einzelner werden oft sehr schnell wahrgenommen und können Irritationen auslösen. Die Beziehungen zwischen den Objekten im System, hier die einzelnen Familienmitglieder, sind in einer Weise geregelt, dass sie bestimmte Grenzwerte nicht über- oder unterschreiten. Diesen Zustand bezeichnet man als Gleichgewichtzustand (Familienhomöostase). Dabei durchläuft jede Familie unterschiedliche Entwicklungsstadien, in denen sich die Beziehungen laufend ändern, d.h. auf einem immer neuen Gleichgewichtszustand einpendeln.[30]
Boszormenyi ist der Ansicht, dass Gesundheit wie Krankheit im Familienverband bestimmt wird. Dies geschieht erstens durch Gesetze, welche die Beziehungen in einem Mehrpersonen-System beherrschen, zweitens durch psychische Merkmale der einzelnen Mitglieder der Systems und drittens durch das Ineinanderwirken dieser beiden systemgestaltenden Bereiche.[31] Je mehr Flexibilität jeder Einzelne bei seinem Bemühen, sich in das familiäre System einzuordnen, zeigt, umso günstiger ist dies für die Bildung eines „gesunden“ Systems. Hingegen kann ein starres Festhalten an überzogenen Systemmustern zur Erkrankung des Individuums führen. Das Beziehungsgefüge zwischen den Elementen eines Systems lässt sich als Struktur verstehen. Dabei lassen sich die Beziehungsstrukturen in Generations- und Geschlechterbeziehungen differenzieren.
Der Mensch ist auf Grund seiner biologischen Bedingungen ein soziales Wesen. Um Überleben zu können, ist er auf soziale Systeme, vor allem auf die Familie, angewiesen. Der Familie kommt für die Entwicklung des Menschen eine zentrale Bedeutung zu, da in der Kindheit die in den Familien anzutreffenden Sozialisationsbedingungen unmittelbar auf die körperlichen, psychischen und sozialen Entwicklungsprozesse einwirken.
Familiäre Grenzen und Regeln stellen einen wichtigen Bestandteil dar, um die Funktionalität des Gesamtsystems Familie zu gewährleisten und das System nach außen zu differenzieren.
„Jedes Familienmitglied hat eigene persönliche Ziele, aber eine funktionierende Familie entwickelt - eher bewußt als unbewußt - Vorstellungen über sich, die von mehr oder weniger allen geteilt werden.“[32] Solche in jeder Familie vorhandenen allgemeinen Vorstellungen beinhalten auch bestimmte Regeln des Umgangs miteinander, sowie der Übernahme von Pflichten. Während viele Regeln bewusst vereinbart werden, gibt es auch andere, über die nicht gesprochen wird, die sich z.B. aus Traditionen ergeben. Insofern zeichnet sich jede Familie durch eine unbewusste Regelstruktur aus. Familiäre Regeln tragen zur Identitätsfindung der Familienmitglieder und der Beziehungsdefinition bei. Außerdem dienen sie zur Abstimmung der Mitglieder im Interesse gemeinsamer Zielrichtungen.[33]
Nach Wegschneider können vier Funktionen familiärer Regeln unterschieden werden.
(1) Festsetzung von Handlungen, Werten, Erwartungen und Zielen für die Familie
(2) Verteilung von Macht und Autorität und der Umgang der einzelnen Familienmitglieder damit
(3) Umgang mit Veränderungen
(4) Festlegung von Kommunikationsmustern[34]
Gesunde Regeln werden zum Wohle der gesamten Familie aufgestellt, sie nehmen jeden einzelnen mit seinen Gefühlen ernst und achten seinen Wert. In gesunden Familien stehen den Mitgliedern verschiedene Verhaltensweisen zur Verfügung, welche den Umgang mit Konflikten oder Krisen ermöglicht. Familieregeln können sich so dem individuellen und familiären Familienzyklus anpassen. Im Laufe des familiären Lebens verändern sich die Regeln, wodurch sich auch die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander ändern.
Die Durchsetzung von Regeln, Normen und Werten benötigt soziale Kontrolle. Mittels dieser wird versucht, Personen zu Verhaltensweisen zu bringen, die im Rahmen der jeweiligen Gesellschaft positiv bewertet werden.
Damit ein System klar definiert werden kann, muss deutlich sein, wie weit das System reicht, und wo die Umwelt anfängt. Grenzen legen die Trennlinie zwischen System und Umwelt fest und sorgen dafür, dass bestimmte Dinge von außen in das System gelangen oder vom System nach außen dringen, während der Austausch anderer Dinge unterbunden bleibt.
Durch Familiengrenzen wird bestimmt, wer zu einem System gehört und wie er dazugehört. Familiäre Systeme regeln mit dem Merkmal der „Grenze“ ihre Offenheit und Geschlossenheit. Dabei lassen sich innere und äußere Grenzen unterscheiden. Die innerfamiliären Grenzen kennzeichnen die Nähe- und Distanzregelung der Familienmitglieder und der Subsysteme untereinander. Die äußeren Grenzen regeln die Qualität und Quantität des Austausches der Familie mit ihrer sozialen Umwelt.
Innerhalb des Familiensystems und der Subsysteme füllen die Familienmitglieder unterschiedliche Rollen aus. In diesen Rollen manifestieren sich Erwartungen und Normen, die in einem System in Bezug auf die Position, Handlungen und Aufgaben einer Person gerichtet sind. Sie dienen zur Verfestigung von bestimmten Verhaltenskomplexen und beruhen auf Verhaltensregelmäßigkeiten, die auf gemeinsam geltende Werte und Normen zurückgehen.
Im unmittelbaren Interaktionsgeschehen äußern sich Rollen durch bestimmte Handlungen und Verhaltensweisen. Die Rollenerfüllung wird durch Regeln bestimmt, die einen unterschiedlich hohen Grad der Verbindlichkeit haben. Jedes soziale System verfügt über Möglichkeiten gegen Individuen, die nicht rollenkonformes Verhalten zeigen, mit Sanktionen vorzugehen. Je besser die Rollen innerhalb eines Systems aufeinander abgestimmt sind, desto eher werden Störungen des Zusammenlebens und der Sozialisation vermieden. Mit der Zeit werden sie vom einzelnen Individuum verinnerlicht und so zu eigenen Verhaltensmaßstäben.
Es lassen sich informelle Rollen, die durch eine Rollenzuschreibung zustande kommen, von formal bestimmten Familienrollen, wie z.B. Geschlechts-, Eltern-, Kind- oder Ehepartnerrollen, unterscheiden. Widerspricht die Rolleneinnahme den vorgegebenen Erwartungen oder sind die Rollen in sich widersprüchlich, kann es zu Konflikten und in deren Folge zu Krankheiten kommen. Zu pathologischen Wirkungen kommt es besonders dann, wenn inhaltliche Rollenfestlegungen angesichts fälliger Entwicklungen erstarren oder es zu Generationsgrenzstörungen, wie z.B. Parentifizierungen[35] kommt.
[...]
[1] Paracelsus, Philippus Aureolus (1493-1541): deutscher Arzt und Chemiker, der die medizinischen Glaubenssätze seiner Zeit angriff und behauptete, Krankheiten würden durch körperfremde Substanzen verursacht und ließen sich durch chemische Substanzen bekämpfen
[2] Rausch: Zustand, in dem der Mensch die Kontrolle über sich und seine Handlungen verliert
[3] Vgl. Schmidt, Lothar: „Alkoholkrankheit und Alkoholmißbrauch“ 1997, S. 21-25
[4] Alkoholismus wurde definiert „als Laster, als Strafe für Alkoholkonsum, als Verstoß gegen mäßiges Trinken, als erlerntes Fehlverhalten, als schlechte Gewohnheit, als Reaktionsvariante auf soziale und psychische Belastungen, als Symptom einer zugrunde liegenden psychischen Störung und als primäre Krankheit“. (Schmidt, Lothar: „Alkoholkrankheit und Alkohol mißbrauch“ 1997, S. 26)
[5] Vgl. Schmidt, Lothar: „Alkoholkrankheit und Alkoholmißbrauch“ 1997, S. 26/27
[6] Toleranzerhöhung: gesteigerte Drogenaufnahme bei gleicher Wirkung
[7] Das Deutsche Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI): Herausgeber der deutschsprachigen Ausgabe der internationalen Klassifikation (ICD-9, ICD-10)
[8] Wissenschaftliches Kuratorium der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (Hrsg.): „Alkoholabhängigkeit - Suchtmedizinische Reihe“ 2001, S.8
[9] Schmidt, Lothar: „Alkoholkrankheit und Alkoholmißbrauch“ 1997, S. 29
[10] Feuerlein, Wilhelm: „Alkoholismus - Mißbrauch und Abhängigkeit“ 1998, S. 3
[11] Vgl. ebd., S. 12
[12] Vgl. Schmidt, Lothar: „Alkoholkrankheit und Alkoholmißbrauch“ 1997, S. 30
[13] Vgl. ebd., S. 28-33
[14] Wissenschaftliches Kuratorium der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (Hrsg.): „Alkohol- abhängigkeit - Suchtmedizinische Reihe“ 2001, S.41
[15] Cox (1987) In: Feuerlein, Wilhelm: „Alkoholismus - Mißbrauch und Abhängigkeit“ 1998, S. 95
[16] Abrams und Niaura (1987) In: Feuerlein, Wilhelm: „Alkoholismus - Mißbrauch und Abhängigkeit“ 1998, S. 99
[17] Feuerlein, Wilhelm: „Alkoholismus - Mißbrauch und Abhängigkeit“ 1998, S. 99/100
[18] Vgl. ebd., S. 92-103
[19] Vgl. Goldbrunner, Hans: „Arbeit mit Problemfamilien“ 1996, S. 18
[20] Vgl. Reichelt-Nauseef, Sabine: „Einfluß von Alkoholismus auf die Familiestruktur und deren
Veränderung aus Sicht ihrer Mitglieder“ 1991, S. 23
[21] Vgl. Böse, Reimund: „Systemische Theorie und Therapie“ 1994, S. 218
[22] Dabei geht er bei dem Begriff der strukturellen Koppelung davon aus, dass die Struktur eines Objektes sein Verhalten bestimmt und nicht die Umwelt.
[23] Vgl. Böse, Reimund: „Systemische Theorie und Therapie“ 1994, S. 172-177
[24] Vgl. Ludewig, Kurt: „Systemische Therapie“ 1995, S. 92
[25] Vgl. Böse, Reimund: „Systemische Theorie und Therapie“ 1994, S. 150
[26] Parsons, Talcott (1902-1979): Nach der strukturell-funktionalen Theorie Parsons erscheint die Gesellschaft als ein Organismus, in dem jedes Glied einen bestimmten Zweck erfüllt und alles Tun auf ein Ziel hin ausgerichtet ist.
[27] Vgl. Reichelt-Nauseef, Sabine: „Einfluß von Alkoholismus auf die Familiestruktur und deren Veränderung aus Sicht ihrer Mitglieder“ 1991, S. 33-35
[28] Levold (1984) In: Reichelt-Nauseef, Sabine: „Einfluß von Alkoholismus auf die Familiestruktur und deren Veränderung aus Sicht ihrer Mitglieder“ 1991, S. 33
[29] Goldbrunner, Hans: „Arbeit mit Problemfamilien“ 1996, S. 22/23
[30] Vgl. ebd., S. 19/20
[31] Vgl. Boszormenyi-Nagy, Ivan: „Unsichtbare Bindungen“ 2001, S. 19-28
[32] Petzold, Matthias: „Familienentwicklungspsychologie“ 1992, S.94
[33] Vgl. Simon, Fritz B.: „Unterschiede, die Unterschiede machen“ 1995, S. 215-221
[34] Wegschneider, Sharon: „Es gibt doch eine Chance“ 1988, S. 52
[35] unter Parentifizierung wird die Übernahme bzw. Zuweisung der elterlichen Rolle an ein oder mehrere Kinder verstanden
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