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Bachelorarbeit, 2006
40 Seiten, Note: 2,7
1. Einleitung
2. Hintergrund
2.1 Die Tradition des Hexenglaubens und der Walpurgisnacht
2.2 Die griechische Mythologie
3. Die Walpurgisnacht in Goethes Faust I
3.1 Inhalt
3.2 Personen
3.3 Sprachliche Form
3.4 Der Walpurgisnachtstraum
4. Die klassische Walpurgisnacht in Goethes Faust II
4.1 Inhalt
4.2 Personen
4.3 Sprachliche Form
5. Vergleich der Walpurgisnachtszenen
5.1 Gemeinsamkeiten
5.2 Unterschiede
6. Die Funktion der Walpurgisnachtszenen für das komplette Werk
7. Abschlussbemerkung
8. Literaturverzeichnis
Die Faust-Dichtung, die Johann Wolfgang Goethe ein halbes Jahr vor seinem Tod abgeschlossen hat, ist als sein Lebenswerk nicht nur für die Literaturwissenschaft interessant. Es scheint, als sei „Faust“ zu einem „Allgemeingut“ geworden, das Kunst, Religion, Wissenschaft und Kultur untrennbar miteinander verbindet[1] und die „Faust-Figur“ zu einem allgemeingültigen Repräsentanten der Gesellschaft werden lässt.[2] Goethe lässt viele Erlebnisse in sein Lebenswerk einfließen, wie zum Beispiel das Miterleben der Entwicklung einer modernen, demokratischen und industriellen Gesellschaft, wodurch die Komplexität der Faust-Dichtung geprägt ist. Das umfangreiche Werk entfaltet sich durch die Fülle von Bildern, Figuren, Gestalten und Mythen, ebenso wie Inspirationen aus der Bibel, aus europäischem Glauben und verschiedenen Brauchtümern, die Goethe in das Faust-Werk integriert hat.[3]
Die wohl mythischsten und gestaltenreichsten Szenen der Faust-Dichtung sind die der Walpurgisnächte, mit welchen sich die vorliegende Arbeit im Weiteren beschäftigen wird. Sie spielen in Goethes Faust eine rätselhafte Rolle, die durch viele Interpretations-anstöße zu erklären versucht wurden.[4] Goethe führt in den beiden Szenen etwas vor, „was eigentlich nur vom Einschlafen bis zum Aufwachen erlebt werden kann“.[5]
Die Walpurgisnacht des ersten Faust-Teils ist durch das wüste und exzessive Treiben auf dem Blocksberg im Norden geprägt und stellt eine mitreißende, aber auch verwirrende „Traum- und Zaubersphäre“ (Vers 3871) dar. Sich dessen anschließend folgt der „Walpurgisnachtstraum“, der wie ein handlungsloses Zwischenspiel und Intermezzo des Dramas wirkt. Die „klassische Walpurgisnacht“ im zweiten Teil der Dichtung charakterisiert Goethe durch „griechische Begriffe“, die seines Erachtens passender sind, um seine Vorstellung einer „Walpurgisnacht“ auf griechischem Boden, in antiker Natur und mit mythischen Figuren verwirklichen zu können.[6]
Wie sind die beiden „Walpurgisnachtszenen“ inhaltlich aufgebaut, welche Personen spielen wichtige Rollen und wie sind die Szenen strukturiert? Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten weisen sie auf und vor allem: Welche Bedeutung haben die „nordische“ und die „klassische Walpurgisnacht“ für die gesamte Faust-Dichtung? Im Folgenden geht es um die Beantwortung dieser Fragestellungen, wobei ich in einem ersten Schritt den Hintergrund, auf dem die „Walpurgisnachtszenen“ in Goethes „Faust“ aufbauen, näher beleuchten werde.
Der Hintergrund der beiden „Walpurgisnachtszenen“ geht in zwei verschiedene Richtungen. In „Faust I“ steht die Tradition der „romantischen Walpurgisnacht“ im Mittelpunkt. Damit verbunden ist von Hexen die Rede, die sich in einer bestimmten Nacht versammeln und zusammen feiern. In der „klassischen Walpurgisnacht“ in Goethes „Faust II“ geht es dann mehr um Mythologie: Goethe gestaltet die Szene als einen großen Schauplatz antiker griechischer Figuren, die als Mythen bekannt sind und verwendet sie in freier Form, um seine Absichten mit ihnen zu verwirklichen. Was hat es aber mit dem Hexenglauben auf sich? Wann, wo und warum findet die Walpurgisnacht statt? Was genau ist ein Mythos und welche Figuren der „klassischen Walpurgisnacht“ sind in der griechischen Mythologie wieder zu finden? Diese Fragen leiten zu dem ersten Hintergrundabschnitt über, der sich mit der Tradition des Hexenglaubens und der Walpurgisnacht befasst.
Der Hexenglaube und der Glaube an Zauberei ist so alt wie die Menschheit selbst. Bereits in der Antike wird ein Gesetz festgelegt, welches Hexen, die Feldfrüchte mit Zauberei verderben, mit schweren Strafen droht. Dabei glaubt man gibt es „holde“ und „unholde“ Geister und Hexen, die dem Menschen Heil und Unheil bescheren können. Der Zauberglaube ist nicht isoliert zu sehen, sondern muss in Verbindung mit der Kirchengeschichte, mit der Medizin, der Naturforschung und der Geschichte des Strafrechts betrachtet werden.[7] Während der Magier als Gelehrter und Hilfeleistender gilt, gibt es Menschen, besonders Frauen, die für Ketzerei auf dem Scheiterhaufen sterben sollen. Dazu gehören die „Maleficae“, die Übeltäterinnen. Von ihnen wird angenommen, dass sie von bösen Geistern die Macht bekommen, der Natur, den Tieren und den Menschen Unheil zu bescheren. Ein weiterer Glaube kommt der so genannten „Striga“ zu. Diese Weibspersonen sind angeblich in der Lage, mit Hilfe einer speziellen Hexensalbe, womit sie einen Gegenstand bestreichen, diesen als Flugobjekt nutzen zu können. Vorstellbar ist auch die Annahme, es gäbe Menschen, die sich in Tiere verwandeln können, um so den Menschen Böses zu tun.[8] Die Tradition der „Pakt-Formel“ in Goethes Faust kommt im 13. Jahrhundert auf. Die Idee, man könnte mit dem Teufel einen Pakt eingehen um somit Hexenprozesse zu vollziehen, führt dazu, dass die Mitwirkenden dieser Hexenprozesse vernichtet werden dürfen, da sie sich gegen die Kirche und demnach gegen Gott stellen.[9] Jemanden als Hexe auf dem Scheiterhaufen hinrichten zu dürfen, muss natürlich begründet werden. So werden verschiedene Hexenproben und Foltermaßnahmen vollzogen, um die angeblichen Hexen zu entlarven oder zu einem Geständnis zu bewegen.[10]
In der „romantischen Walpurgisnacht“ wird die Nacht zum 1. Mai gefeiert, was als bekannteste Tradition der Hexen und Geister gilt. In dieser Nacht treffen sich die Hexen und Teufelsgestalten auf dem Blocksberg, dem Brocken im Harz, auf dem sie ein wildes und euphorisches Fest feiern. Es wird fröhlich gegessen, getrunken und ungehemmt getanzt. Dabei entwickeln sich Orgien, die völlig ungezügelt, pervertiert und sexuell geprägt sind.[11] Der Brocken ist die höchste Erhebung des Harzes, hat eine Kuppe aus Granit und ist von zahlreichen Windböen und Niederschlägen gekennzeichnet. Eine besondere Erscheinung auf dem Brocken ist das so genannte „Brockengespenst“. Es entsteht, wenn die Sonne untergeht und Schattenbilder dabei auf eine östliche Nebelwand geworfen werden.[12] Benannt ist die Walpurgisnacht nach der heiligen Walpurga (* 770 in England, † 25.02.779 in Heidenheim). Die Benediktinerin wirkt als Äbtissin[13] im Doppelkloster Heidenheim.[14] Auf diesen Hintergrund bezieht sich Goethe vor allem in seinem „Faust I“ und dessen „Walpurgisnachtszene“. Soll die „klassische Walpurgisnacht“ genauer betrachtet werden, wird der historische Hintergrund der Mythologie benötigt.
Die Mythologie besteht aus der Gesamtheit der verschiedenen Mythen. Das Wort „Mythos“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie „Erzählung“. In Mythen werden die Zusammenhänge der Welt aufgegriffen. Dabei treten oft göttliche Mächte auf, es wird von besonderen Taten und Ereignissen berichtet, das Paradies und der Sündenfall werden definiert oder es treten naturhafte Erscheinungen in den Mittelpunkt der Erzählungen. Mythen sind häufig in Dichtungen zu erkennen, die Allegorien und Fabelwesen beinhalten.[15] Mythen sind aber keine Produkte menschlicher Phantasie, sondern ein Erzeugnis der griechischen Natur.[16] Genau diese Produkte werden als „unsterblich“ angesehen, da sie „die vitalen Grunderfahrungen des Menschen, die [...] damals wie heute ihre Gültigkeit haben, in Worten und Bildern eindringlich zum Ausdruck“[17] bringen. So werden auch für Goethes Dichtungen die Gestalten und Motive der Mythologie zu einem nutzbaren Aspekt. Goethe erlaubt sich verschiedene Mythen sehr frei für seine Werke zu verwenden und sie durch seine dichterische Phantasie umzugestalten. Das heißt, dass er Verwandtschaftszweige zwischen Figuren verändert, einzelne Erzählungen modernisiert oder verschiedene Mythenstränge miteinander kombiniert.[18] Goethe versucht so die alten Bilder „auf neue Weise literarisch nutzbar“[19] zu machen, wodurch Faust in der „klassischen Walpurgisnacht“ nicht auf den wiederbelebten antiken Mythos, sondern auf das aus den antiken Relikten geschaffene neuzeitliche Konstrukt trifft.[20] Die traditionellen Erzählungen, wie zum Beispiel der schönen Helena, Orpheus oder Oidipus, gehören zum Bildungserbe. Der Mythos wird von Generation zu Generation weitergegeben, ohne dass klar ist, wer den Mythos zum ersten Mal erzählt hat. Dass die Generationen Mythen nicht als „veraltert“ ansehen, liegt daran, dass Mythen zeitlos das berichten, was die menschliche Existenz betrifft.[21] Die Mythologie wird im Laufe der Jahre vor allem durch die griechische Kultur verändert und den gesellschaftlichen Umständen angepasst. Durch diese Anpassung „leben“ die Mythen weiter. Auch die Dichter arbeiten an der der Veränderung der Mythen.[22] Griechische Mythen sind immer in Verbindung mit Göttern zu sehen, da sie die wirkenden Mächte in antiken Erzählungen sind und somit die griechische Mythologie prägen.[23] Das Finale der „klassischen Walpurgisnacht“, das Meeresfest, wird auch von griechischen Göttern geleitet. Nereus und Proteus sind Meeresgottheiten, die als „alte Männer des Meeres“ bezeichnet werden, und als weise, freundlich und gerecht gelten.[24] Die Göttin der Unterwelt wird im zweiten Akt Goethes „Faust II“ nur indirekt eingeführt. Der Gang in die Unterwelt führt Faust zu Persephone, die Tochter von Zeus. Sie wird laut den mythischen Erzählungen im Einverständnis ihres Vaters von Hades entführt und lebt ein drittel ihres Lebens bei ihm im dunklen Palast der Unterwelt. Danach kehrt sie auf die Erde zurück und lebt bei ihrer Mutter.[25] Andere mythische Figuren, die in der „klassischen Walpurgisnacht“ vorkommen, sind zum Beispiel Helena (die nur indirekt in die Szene eingeführt wird), Galatea, oder die Sirenen, die Sphinxe und Chiron, die ich in Abschnitt 4.2 näher erläutere.
Helena gilt in der griechischen Mythologie als die Königin von Sparta und ist ebenfalls wie Persephone die Tochter von Zeus. Bereits mit zwölf Jahren wird sie entführt, kann aber von ihren Brüdern befreit werden. Aufgrund ihrer außergewöhnlichen Schönheit wird sie von jedem Mann ihrer Zeit umworben. Helena entscheidet sich für Menelaos, dem Prinzen von Mykene, wird aber von dem jungen trojanischen Fürstensohn Paris nach Troja entführt. Daraufhin setzt Menelaos alles in Bewegung, um sie zurück-zugewinnen, was zu den Geschehnissen des Trojanischen Krieges beiträgt. Über Helenas Schicksal besteht keine Einstimmigkeit. Eine der Versionen erzählt davon, wie sie getötet wird und dem Himmel emporsteigt, während eine andere Erzählung berichtet, dass sie mit Menelaos nach Sparta zurückkehrt, länger lebt als ihr Mann und von ihren Söhnen vertrieben wird. Eine andere Sage behauptet, dass Helena nie in Troja angekommen ist, da sie auf halber Strecke in Ägypten zurückgeblieben sei.[26]
Galatea, Nereus Tochter, ist in der Mythologie als hübsche Meeresnymphe bekannt. Polyphemos, der Sohn Poseidons, verliebt sich in sie, doch sie verachtet seine hässliche Erscheinung. Polyphemos bringt Galateas Liebhaber um, wodurch ihr Hass ihm gegenüber noch mehr entbrennt.[27]
Sicherlich sind nicht alle Einzelheiten eines Mythos traditionell verwurzelt. Es werden Aspekte ausgelassen oder hinzugedichtet. Aber der Ausgangspunkt, das Hauptbild, worum es geht, ist traditionell verfestigt und davon leiten sich die zahlreichen Erweiterungen ab.[28]
Kurz bevor der erste Teil der Faust-Dramaturgie zu Ende ist, lässt Goethe in der Walpurgisnacht die Konzeption des Bösen noch einmal aufleben. Mephisto hofft, Faust in dem orgiastischen Fest der Hexen und anderen höllenabkömmlichen Figuren in seinen Bann zu ziehen. Die Walpurgisnacht ist eine weitere Station der Weltfahrt Fausts und soll seinen Drang nach Erkenntnis endlich befriedigen. Sie ist eine Wandelszene, in der Faust und Mephisto durch die Landschaft um den Blocksberg herumstreifen und eine traum- und zauberhafte Szenerie erleben. In der „Walpurgisnachtszene“ ist nicht klar, ob es sich um Realität handelt, oder ob nur der Seelenzustand Faust widergespiegelt werden soll.[29]
Entstanden ist die erste „Walpurgisnachtszene“ des Faust-Dramas erst in der dritten Arbeitsphase Goethes. Es gibt Anzeichen, dass Goethes Konzeption für die Walpurgisnacht im Jahr 1799 entsteht. Von Ende 1800 bis Februar 1801 wird die Szene wohl geschrieben, da Goethe sich zu dieser Zeit stark mit Hexenliteratur beschäftigt. Die Walpurgisnacht kann als eine Art „Epilog in der Hölle“ angesehen werden, da sich die Szene auf dem Blocksberg, dem Höllenberg, abspielt und so die Sphäre der Hölle ankündigt.[30]
Nachdem Faust, von Mephisto geleitet, Gretchens Bruder Valentin mit einer Klinge tödlich verletzt, fliehen die beiden in die Walpurgisnacht. Jedes Jahr feiern die Hexen in der Nacht zum ersten Mai auf dem Brocken im Harz ein euphorisches Fest mit viel Feuer, wilden, hemmungslosen Tänzen und sexuellen Exzessen. Das soll Faust von den Geschehnissen und von Gretchens Schicksal ablenken.[31]
Faust und Mephisto wandern durch das Harzgebirge. Mephisto zwingt ein Irrlicht, ihnen aufgrund der Finsternis den Weg zu weisen. An ihnen zieht ein Sturm aus besenreitenden Hexen vorbei, die sich auf den Brocken begeben. Sie singen im Chor und machen Faust neugierig auf das, was sich ganz oben auf dem Blocksberg befindet. Er möchte hinter das Geheimnis des Bösen gelangen,[32] was sich in den Versen 4039/4040 zeigt, wenn Faust sagt: „Dort strömt die Menge zu dem Bösen; / Da muß sich manches Rätsel lösen“. Faust und Mephisto treffen auf verschiedene Geister und auf einen um ein Feuer sitzend plaudernden General, einen Minister, einen Höfling und einen Schriftsteller, an denen Mephisto Faust aber schnell vorbeileitet. Sie begegnen einer Trödelhexe, die ihnen ihre blutgezeichnete Ware anbietet und treffen auf Lilith, Adams erste Frau. Doch Faust und Mephisto lassen sich nicht länger aufhalten, mischen sich in das euphorische Treiben und tanzen mit zwei Hexen. Faust mit einer jungen, Mephisto mit einer alten Hexe. Von den Hexen als sehr störend empfunden, versucht ein Proktophantasmist als Aufklärer zu animieren, das gesamte Geistertreiben zu unterlassen. Er erklärt getreu der Regel, dass nichts sein kann, was nicht sein darf: „Verschwindet doch! Wir haben ja aufgeklärt!“ (Vers 414159). Es wird dennoch weiter-getanzt, wobei Faust dann aus seinem Tanz austritt und Mephisto berichtet, dass der jungen Hexe bei ihrem Tanz ein kleines rotes Mäuschen aus dem Mund gesprungen sei. Faust hat plötzlich die Vision von einem blassen schönen Mädchen. Mephisto versucht diese Vision als ein Zauberbild der Walpurgisnacht dastehen zu lassen, doch Faust lässt sich nicht täuschen. Er sieht deutlich Gretchen vor sich, die aber Augen einer Toten hat und eine feine rote Schnur um den Hals trägt. Dadurch besinnt er sich und Mephistos Plan, Faust abzulenken und in Verführung mit der jungen Hexe zu führen, misslingt (Vers 3835-4222).
Die Hauptfiguren in dieser Szene sind Faust und Mephisto. Sie wollen aus unterschiedlichen Gründen den Blocksberg besteigen. Faust erhofft in dieser Station seiner Weltfahrt endlich das zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (Vers 382/383). Mephisto möchte hingegen Faust ablenken und ihn mit der jungen Hexe im Tanz in Verführung führen, um somit die abgeschlossene Wette zu gewinnen.
Mephisto ist in der Walpurgisnacht genau in seinem Element. Auf höllengezeichnetem Boden fühlt er sich wohl und genießt das Spektakel. Faust ist zu Beginn noch etwas skeptisch, lässt sich aber dann von dem Treiben und den Verlockungen anstecken. Jedoch vergisst er sich bei dem verführerischen Tanz mit der jungen Hexe nicht ganz und verliert dadurch die Wette nicht. Die verschiedenen Hexen und Geister sind die Akteure des Walpurgisnachtstreibens. Sie werden als feiernde Gestalten gezeigt, die das Böse als Element haben. Sie lassen bei ihrem Besenritt nach oben auf den Brocken eine Halbhexe zurück, die vergebens versucht den Blocksberg zu besteigen. Die daraufhin erscheinende Trödelhexe bietet ihre mit Blut gezeichnete Ware zum Verkauf an und die schöne Lilith, der die Wanderer dann begegnen ist Adams erste Frau. Mephisto warnt Faust vor ihr, da sie eine gnadenlose Verführerin ist. Die junge Hexe, mit der Faust in der Szene tanzt, ist für Mephisto Mittel zum Zweck. Er hofft, dass Faust der Versuchung mit ihr nicht widerstehen kann. Die Tanzszene wird allerdings von dem Proktophantasmist gestört. Er ist der Bekämpfer der Walpurgisnacht, der sich wünscht, dass die Geister und Hexen ihr Treiben unterlassen und verschwinden. Seine Anwesenheit gründet auf der Figur des Altaufklärers Friedrich Nicolai (1733-1811), der zu seiner Zeit den Gespensterglauben zu bekämpfen versuchte. Er litt an Halluzinationen und kurierte sich durch Blutegel, die sich an seinem Steiß vollzogen, um damit die Gespenster zu vertreiben.[33] Dem Proktophantasmist gelingt es, die Tanzhandlung zu unterbrechen und Faust entfernt sich von der jungen Hexe.
In der „Walpurgisnachtszene“ sind überwiegend Kombinationen von Vier- und Fünfhebern zu erkennen, die einen Auftakt haben und sich in Hebung und Senkung regelmäßig abwechseln. Durch den Madrigalvers wirkt sie Szene plaudernd und lässig.[34] Der Wechselgesang Mephistos, Faust und des Irrlichtes ist regelmäßiger. Er setzt sich aus fünf Strophen zusammen, die jeweils in vierhebigen Jamben ohne Auftakt geschrieben sind. Auch der Chor der Hexen ist vierhebig, wobei dort die unregelmäßige Taktfüllung auffällt. Der Hexenchor ist demnach im Knittelvers geschrieben, was etwas altertümlich und holperig wirkt.[35]
Die Reimstellungen in dieser Szene variieren. Es sind Kreuzreime zu sehen, wie „Der Frühling webt schon in den Birken / Und selbst die Fichte fühlt ihn schon; / Sollt’ er nicht auch auf unsre Glieder wirken? / Fürwahr ich spüre nichts davon!“ (Vers 3845-3848), die die Sprechakte der einzelnen Personen verbinden. Goethe verwendet ebenso Paarreime: „Wie sie schnarchen, wie sie blasen! / Durch die die Steine, durch den Rasen / eilet Bach und Bächlein nieder. / Hör ich Rauschen? Hör ich Lieder?“(Vers 3880-3883) und umarmende Reime „Ihr Herren geht nicht so vorbei! / Lasst die Gelegenheit nicht fahren! / Aufmerksam blickt nach meinen Waren; / Es steht dahier gar mancherlei“ (Vers 4096-4099). Neben den definierten Reimformen verwendet Goethe aber auch andere Kombinationen, die eher willkürlich erscheinen. Die Verse 3835-3839 weisen zum Beispiel das Schema a-b-a-c-b auf, was somit ein Kreuzreim mit einer zusätzlich eingefügten Zeile c ist.
„Verlangst du nicht nach einem Besenstiele?
Ich wünschte mir den allerderbsten Bock.
Auf diesem Weg sind wir noch weit vom Ziele.
So lang ich mich noch frisch auf meinen Beinen fühle,
Genügt mir dieser Knotenstock.“
Die Verse 3096-3911 zeigen das Kombinationsschema a-a-a-b-b-a:
„Aber sag mir ob wir stehen,
Oder ob wir weiter gehen?
Alles, alles scheint zu drehen,
Fels und Bäume, die Gesichter
Schneiden, und die irren Lichter,
Die sich mehren, die sich blähen.“
Die Uneinheitlichkeit der Reimschemata verdeutlicht das exzessive, stimmungsvolle und impulsive Treiben in der Walpurgisnacht. Es wird in einem Durcheinander wild getanzt, wodurch die Handlungen der Hexen und Geister ebenso abwechslungsreich wie die sprachliche Form der Szene ist.
Die erste „Walpurgisnachtszene“ wird als „Hexenoper“[36] bezeichnet. Die schrille Musik, das „verflucht Geschnarr“ (Vers 4051), zu der die Figuren auf dem Blocksberg ihre Tänze vollziehen, lässt sich ebenso zu der „Hexenoper“ hinzuzählen wie der Wechselgesang (Vers 3871-3911) von Mephisto, Faust und dem Irrlicht. Sie besingen ihre Wanderung durch das Harzgebirge und drücken ihre Wahrnehmungen und Eindrücke in dem Gesang aus. Auch die besenreitenden Hexen, die sich auf den Brocken bewegen, singen ab Vers 3956 immer wieder im Chor. Damit stimmen sie sich wohl auf das weitere musikalische Geschehen auf dem Blocksberg ein. Die Musik spielt auch bei dem Versuch Mephistos, Faust in Versuchung zu führen eine wichtige Rolle. Faust tanzt mit der jungen schönen Hexe, mit der er einen erotisierenden Moment verbringen soll. Die Musik wird in der Walpurgisnacht als sprachliches Mittel genutzt, um das hemmungslose und euphorische Treiben auf dem Brocken auszudrücken. Goethe bedient sich des Musiktheaters, was das Szenario revueartig erscheinen lässt. Das Medium des Chores erscheint als völlig wertneutral und repräsentiert eine ästhetische Vielschichtigkeit der Walpurgisnacht.[37] „Nur die Musik vermag daher die tiefen und wahren Hintergründe des gesprochenen Kunstwerkes aufleuchten zu machen; [...] die Faust-Musik gleitet ab ins [...] Aussermenschliche“[38] und zeigt so die geheimnisvolle Vielschichtigkeit der Walpurgisnacht.
[...]
[1] Vgl.: Greiner-Vogel, Hedwig: Goethes Faust. Das Menschheits-Drama der Gegenwart. Dornach/Schweiz: Philosophisch-Antroposophischer Verlag, 1982. S. 13.
[2] Vgl.: Ebd. S. 17.
[3] Vgl.: Hermes, Eberhard: Lektürenhilfen. Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Erster und Zweiter Teil. Stuttgart: Ernst Klett Verlag, 1988. S. 5.
[4] Vgl.: Greiner-Vogel, Hedwig: S. 96.
[5] Steiner, Rudolf: Das Faust-Problem: Die romantische und die klassische Walpurgisnacht. Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes „Faust“. Band II. Zwölf Vorträge, gehalten in Dornach vom 30. September 1916 bis 19. Januar 1919. Dornach/Schweiz: Rudolf Steiner Verlag, 1974. S. 137.
[6] Vgl.: Ebd.: S. 137.
[7] Vgl.: Neeb, Reinhold: Hexen, Folter, Scheiterhaufen. Hexenverfolgung und Hexenglauben im alten Oberhessen. Gießen: Brühlscher Verlag, 1991. S. 11.
[8] Vgl.: Neeb, Reinhold: S. 13.
[9] Vgl.: Ebd.
[10] Vgl.: Ebd.: S. 24.
[11] Vgl.: Jeßing, Benedikt (Hrsg.): Metzler-Goethe-Lexikon : Personen - Sachen – Begriffe. 2., verbesserte Auflage. Stuttgart [u.a.] : Metzler, 2004. S. 459.
[12] Vgl.: Der neue Brockhaus: Lexikon und Wörterbuch in fünf Bänden und einem Atlas. Sechste, völlig neubearbeitete Auflage. Wiesbaden: F.A. Brockhaus, 1979. Band 1. S. 374.
[13] Die Vorsteherin eines Frauenklosters mit Benediktinerregeln (Forderung des Verweilens im Heimatkloster, Gehorsam unter dem Abt, Abkehr vom weltlichen Leben und Streben nach Vollkommenheit). Vgl.: Der neue Brockhaus: Band 1. S. 18/259.
[14] Vgl.: Der neue Brockhaus: Band 5. S. 498.
[15] Vgl.: Der neue Brockhaus: Band 3. S. 649/650.
[16] Vgl.: Lohmeyer, Dorothea: Faust und die Welt. Der zweite Teil der Dichtung. Eine Anleitung zum Lesen des Textes. München: Verlag C.H. Beck, 1975. S. 236.
[17] Lücke, Susanne und Hans-K.: Antike Mythologie. Ein Handbuch. Der Mythos und seine Überlieferung in Literatur und bildender Kunst. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1999. S. 7.
[18] Vgl.: Jeßing, Benedikt: Metzler-Goethe-Lexikon. S. 307.
[19] Hesse-Belasi, Gabriele: Signifikationsprozesse in Goethes ‚Faust’, zweiter Teil. Mythologische Figur und poetisches Verfahren. Frankfurt am Main (u.a.): Lang, 1992. S. 119.
[20] Vgl.: Ebd.
[21] Vgl.: Graf, Fritz: Griechische Mythologie. Eine Einführung. Düsseldorf/Zürich: Artemis und Winkler, 1999. S. 7-9.
[22] Vgl.: Ebd.: S. 17.
[23] Vgl.: Ebd.: S 98.
[24] Vgl.: Tripp, Edward (dt. Übersetzung von Rauthe, Rainer): Reclams Lexikon der antiken Mythologie. 7. Auflage. Stuttgart: Reclam, 2001. S. 362/457.
[25] Vgl.: Ebd.: S. 204/422.
[26] Vgl.: Ebd.: S. 210-213.
[27] Vgl.: Ebd.: S. 444/445.
[28] Vgl.: Graf, Fritz: S. 135.
[29] Vgl.: Hermes, Eberhard: S. 77.
[30] Vgl.: Gaier, Ulrich: Kommentar zu Goethes Faust. Stuttgart: Reclam, 2002. S. 110.
[31] Vgl.: Komp, Andrea: Mentor Lektüre. Faust I. Johann Wolfgang Goethe. Inhalt, Hintergrund, Interpretation. München: Mentor Verlag, 1996. S. 21.
[32] Vgl.: Hermes, Eberhard: S. 78.
[33] Vgl.: Gaier, Ulrich: S. 117.
[34] Vgl.: Komp, Andrea: S. 30/31.
[35] Vgl.: Ebd.
[36] Schöne, Albrecht: Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult: Neue Einblicke in alte Goethetexte. 3., ergänzte Auflage. München: Beck, 1993. S. 342.
[37] Vgl.: Hartmann, Tina: Goethes Musiktheater. Singspiele, Opern, Festspiele, ‘Faust’. Tübingen: Niemeyer Verlag, 2004. S. 383-385.
[38] Cotti, Jürg: Die Musik in Gothes “Faust”. Winterthur: Verlag P.G. Keller, 1957. S. 64.