Magisterarbeit, 2007
65 Seiten, Note: 1,0
Einleitung
1. Was versteht man unter Aphasie?
1.1 Definition
1.2 Ursachen
1.3 Abgrenzung von anderen Störungen
1.4 Symptome
1.4.1 Wie kommt es zu den Symptomen? – Neurologischer Exkurs
1.5 Begleiterscheinungen
1.6 Klassifikationen
1.6.1 Die Standardsyndrome
1.7 Hemisphärenspezialisierung
1.8 Verlauf und Prognose
1.9 Funktionelle Reorganisation
2. Aphasie bei Kindern
2.1 Definition kindlicher Aphasie
2.2 Ursachen kindlicher Aphasie
2.3 Abgrenzung von kindlichen Sprachentwicklungsstörungen und Erwachsenenaphasie
2.4 Symptome kindlicher Aphasie
2.5 Begleiterscheinungen und Folgen kindlicher Aphasie
3 Verlauf und Prognose kindlicher Aphasie
3.1 Prognosefaktor Alter
3.1.1 Altersbezogene Beobachtungen
3.1.2 Lateralisierung des Gehirns
3.1.3 Plastizität des Gehirns bei Kindern
3.2 Weitere Prognosefaktoren und ihre Wechselwirkung
3.3 Restsymptome und Langzeitfolgen
4 Diagnostik und Therapie bei Aphasie
Schluss
Literaturverzeichnis
„Verschlungen sitze ich
neben der Sprache.
Stumm ist mein Mund.
Verworren lächle ich,
bleib von dem Sprechen getrennt.
Die Augen – aufmerksam,
aber ich kann
das Sprechen
nicht finden.
O grauenhafte Welt!
Aus dieser Sackgasse,
aus dieser Sprachstraße
verbissen kratze ich
mir das Gehirn. Ach,
und während ich
noch mit den Worten kämpfe,
öffnet sich der Schlund
und aus spuckt er
die Verständnislosigkeit der anderen.
Hanne V.
(Aphasikerin)“
(Lutz 1992: 14)
Man stelle sich einmal vor, von heute auf morgen nicht mehr imstande zu sein, seine Gedanken, Bedürfnisse, Gefühle, Fragen, u.s.w. sprachlich ausdrücken zu können oder die Äußerungen anderer zu verstehen. Das ist nur sehr schwer vorstellbar, weil wir Sprache tagtäglich völlig unbewusst und selbstverständlich benutzen.
„Die Sprache ist unser treuer Vasall, der erst etwas von seinen Geheimnissen preisgibt, wenn er (...) nicht mehr gut funktioniert.“ (Levelt 1989, zitiert bei Loew & Böhringer 2002: 7)
Sprache ist eine wichtige soziale Funktion, unsere Verbindung zur Welt und zu den Mitmenschen. Ihr Wert wird uns erst dann bewusst, wenn Sprache zum Problem wird (Loew & Böhringer 2002: 8, 9). Das heißt, wenn man sich auf einmal selbst in der hilflosen Lage befindet, nicht mehr mit Sprache umgehen zu können oder einem Menschen in unserem Umfeld ein solches Schicksal widerfährt. Aber auch, wenn man sich als Arzt, Therapeut oder auf wissenschaftlicher Ebene intensiv mit diesem Thema auseinandersetzt.
Bei einem plötzlichen Verlust der normalen Sprachfähigkeit, der für die Betroffenen eine schmerzliche Einschränkung in allen Lebensbereichen bedeutet, spricht man von Aphasie. Es handelt sich um eine erworbene, multimodale Störung der Sprachverarbeitung in Folge einer Erkrankung des Gehirns. Die Erforschung der Aphasie ist ein gemeinsames Feld der Neurologie, Neuropsychologie, Neurolinguistik und Neurobiologie. Vielen Menschen ist diese Krankheit immer noch unbekannt. Das ist bedauerlich und erschreckend zugleich, wenn man bedenkt, dass „...in Deutschland zu jedem gegebenen Zeitpunkt rund 85000 Menschen von einer Aphasie betroffen [sind].“ (Huber, Poeck & Weniger 2006: 98)
Die Mehrzahl aller Aphasiker sind Erwachsene. Obwohl die ersten Beschreibungen kindlicher Aphasien bereits aus dem 19. Jahrhundert stammen, wurde ihrer Erforschung weniger nachgegangen als Sprachentwicklungsstörungen und Aphasien im Erwachsenenalter, was sicherlich mit daran liegt, dass es sich bei diesem Störungsbild um ein Unikum handelt. Nur etwa 2 % aller Kinder in klinischen Institutionen für Sprech- und Sprachgestörte haben eine Aphasie (Rothenberger 1986: 92). Lees (1993) spricht von ungefähr 4% bis 7% aller Fälle kindlicher Sprachstörungen, bei denen es sich um Aphasie handelt. Der „Bundesverband für die Rehabilitation der Aphasiker“ geht davon aus, dass jährlich circa 3000 Kinder bis zum 15. Lebensjahr eine Aphasie erleiden (www.aphasiker-kinder.de).
Es ist beklagenswert, dass im deutsprachigen Raum zwar viele Arbeiten über Aphasie bei Erwachsenen existieren, aber kaum etwas zu Aphasie bei Kindern vorliegt, so dass selbst viele Ärzte, Sprachtherapeuten und Pädagogen nicht mit dieser kindlichen Sprachstörung vertraut sind. In der Fachliteratur wird dieses Gebiet wenn, dann meist nur als Randthema behandelt. Aufgrund dessen bekommen viele Kinder nicht die richtige Diagnose gestellt und wenn doch, dann erfahren sie häufig keine oder keine angemessene Behandlung (Birkenbeil 1995: 405, 406).
Die vorliegende Magisterarbeit beschäftigt sich speziell mit Aphasie bei Kindern. Meine Intention, diese Arbeit zu verfassen, war zum Einen die Tatsache, dass mich dieses Thema sehr gefesselt hat, ich mir also gut vorstellen konnte, mich über einen längeren Zeitraum hinweg damit zu beschäftigen, und zum Anderen das Anliegen, auf diese spezielle Sprachstörung aufmerksam machen und über sie aufklären zu wollen. Es ist dringend erforderlich, kindliche Aphasie verstärkt zu thematisieren und weiter zu erforschen, damit den betroffenen Kindern entsprechend geholfen werden kann und sie nicht nur von Ärzten und Therapeuten, sondern auch von ihrem Umfeld adäquat behandelt werden.
Mit dieser Arbeit möchte ich ein - so weit es in diesem Rahmen möglich ist - ganzheitliches Bild der Aphasie bei Kindern zeichnen. Dafür ist es notwendig, im 1. Teil zunächst ausführlich das Krankheitsbild der Aphasie bei Erwachsenen zu veranschaulichen, um so die Grundlagen zum Verständnis der Fragestellungen und Problematiken kindlicher Aphasie zu schaffen. Weil es sich bei Aphasie um eine Sprachstörung handelt, die durch eine Beeinträchtigung von Nervengewebe im Gehirn zustande kommt, ist es außerdem unumgänglich, Wesentliches über den Aufbau des Gehirns und über neuronale Vorgänge zu vermitteln. Im 2. Kapitel wird das Krankheitsbild der kindlichen Aphasie, das sich deutlich von dem bei Erwachsenen unterscheidet, eingehend erläutert. In der dürftig zur Verfügung stehenden Literatur ist die meist diskutierte Frage, ob Aphasien bei Kindern aufgrund des jüngeren Alters eine generell günstigere Prognose haben als Aphasien im Erwachsenenalter. Diese Frage stellt den Kernpunkt dieser Arbeit dar und wird im 3. Teil behandelt. Das 4. Kapitel beschäftigt sich mit der Diagnostik und Therapie von Aphasien bei Erwachsenen und Kindern. Am Schluss werden die wesentlichen Punkte in einem Fazit zusammengefasst. Ich werde meine eigene Meinung mit einfließen lassen und denkbare zukünftige Ziele formulieren sowie damit verbundene erforderliche Forschungsschwerpunkte.
Das Wort „Aphasie“ kommt aus dem Griechischen und heißt soviel wie „Sprachlosigkeit“ (Tesak 1997: 1).
Verwendet wurde dieser Begriff erstmals 1864 vom französischen Neurologen Armand Trousseau für eine „Sprachstörung nach Hirnschädigung“ (Tesak 1997: 1). Über die zwei Gesichtspunkte dieser Definition herrscht heute weitestgehend Einvernehmen: Zum einen, dass der Grund für eine Aphasie eine Hirnschädigung ist und zum andern, dass dabei die Sprachleistung des Erkrankten betroffen ist (Tesak 1997: 1). Über alle weiterführenden Begriffsbestimmungen wird von den Autoren und Forschern, die sich mit dem Thema Aphasie beschäftigen, diskutiert. Eine universelle Definition, über die international Einigkeit besteht, gibt es bislang nicht. Bei den nachfolgenden Beschreibungen von Aphasie bei Erwachsenen handelt es sich um Hypothesen, von denen üblicherweise im deutschsprachigen Raum ausgegangen wird (Tesak 1997: 1). In unserem Sprachraum ist die Aphasie als eine Störung definiert, die nach abgeschlossenem Spracherwerb auftritt. Die Aphasie-Definition, von der in dieser Arbeit - zumindest vorläufig - ausgegangen wird, soll deshalb wie folgt lauten: Eine Aphasie ist eine erworbene Sprachstörung nach abgeschlossenem Spracherwerb infolge einer zentralen Schädigung des Gehirns.
Wie sich zeigen wird, muss diese Bestimmung im Verlauf der Arbeit noch erweitert werden, da Aphasien auch während des Spracherwerbs auftreten können.
Bei einer Aphasie handelt es sich um ein Problem der Sprachverarbeitung. Dabei sind die verschiedenen linguistischen Ebenen Phonologie, Morphologie, Syntax und Semantik betroffen. Es kann sowohl zu Störungen der expressiven als auch der rezeptiven Sprachleistungen kommen. Das heißt, in individueller Kombination sind alle vier Sprachmodalitäten beeinträchtigt: das Sprechen, das Verstehen, das Schreiben und das Lesen (Tesak 1997: 3). Ein Aphasiker ist nicht mehr oder nur eingeschränkt in der Lage, Ausdrücke und Schriftbilder umzusetzen oder Gesprochenes und Geschriebenes begrifflich aufzunehmen (gestörte Enkodierung und Dekodierung von Sprache, Loew & Böhringer 2002: 13). Aphasiker verfügen noch über Sprachwissen; ihnen ist zum Beispiel bewusst, dass eine bestimmte Anordnung von Wörtern eine bestimmte Bedeutung ergibt und dass ein Grammatiksystem existiert. Sie können jedoch nicht mehr damit umgehen. Die dafür notwendigen im Gedächtnis gelagerten Regeln und Abläufe zur Sprachverarbeitung sind nicht abrufbar (Lutz 1992: 37).
Eine Aphasie ist die Folge einer Beeinträchtigung des zentralen Nervensystems. Es sind ganz bestimmte, begrenzte Bereiche des Gehirns betroffen, weshalb man von einer zentral bedingten beziehungsweise „umschriebenen“ Hirnschädigung spricht. Typischerweise handelt es sich um eine abrupte Läsion der linken Großhirnhälfte (Tesak 1997: 43), die bei der Mehrzahl aller Menschen vorherrschend für die Sprachsteuerung zuständig ist. Beim Großteil aller Fälle (65-80%, Tesak 1997: 43) ist die Aphasie vaskulär bedingt, was bedeutet, dass Blutgefäße betroffen sind. Die Sprachregionen der linken Hemisphäre (Hirnhälfte) werden mit Blut aus den Ästen der mittleren Hirnschlagader versorgt (Tesak 1997: 41, 43). Durch einen Schlaganfall kommt es zu einer Nährstoff- und Sauerstoffunterversorgung dieser Arterien (Steiner 2001: 209) und infolge dessen zum Absterben von Nervengewebe (Huber, Poeck & Weniger 2006: 97). Ein solcher auch sogenannter Hirninfarkt entsteht durch Gefäßverschlüsse und -missbildungen oder durch eine akute Hirnblutung, zum Beispiel infolge von Bluthochdruck (Lutz 1992: 33, Steiner 2001: 209). Andere Auslöser für defektes Nervengewebe in den sprachrelevanten Arealen können Schädel-Hirn-Traumata (Verletzungen durch äußere Gewalteinwirkung) sein, Hirntumore, Hirnentzündungen und Hirnschwund (Tesak 1997: 43). Bei den drei letztgenannten ist allerdings diskutabel, inwieweit sie der Bestimmung der plötzlichen und umschriebenen Störung gerecht werden.
Aphasien sind abzugrenzen von angeborenen Sprachstörungen, von Sprechstörungen, Denkstörungen und degenerativen Hinerkrankungen. Diese Unterscheidungen spielen bei der Differentialdiagnose und Therapie (auf die in Kapitel 4 eingegangen wird), eine wichtige Rolle. Bei einer angeborenen Sprachstörung können Komponenten des sprachlichen Wissens nicht erworben werden, etwa die Lautprogramme und Satzmelodien bei Taubstummen. Auf das, was trotz der angeborenen Einschränkung an Sprachwissen erworben wurde, kann jedoch zugegriffen werden. Im Gegensatz zu angeborenen Sprachstörungen tritt eine Aphasie plötzlich auf. Ein Aphasiker war in der Regel bis zu diesem einschneidenden Ereignis voll sprachfähig. Er hat als Kind ein umfassendes Sprachwissen erworben und kann nun völlig unvermittelt nicht mehr darauf zugreifen. Verglichen mit erworbenen Sprechstörungen, wobei es sich um organische und motorische Störungen der ausführenden Sprechorgane handelt, betrifft Aphasie die verschiedenen Ebenen des Sprachsystems (Phonologie, Morphologie, u.s.w.). Zu den Sprechstörungen, die durch eine Hirnschädigung entstehen, gehören die Dysarthrie und die Sprechapraxie. Bei einer Dysarthrie können aufgrund von Muskellähmung die Bewegungen der Sprechwerkzeuge nicht mehr gesteuert werden, was sich sowohl auf Atmung als auch auf Phonation und Artikulation niederschlägt und zu großer Sprechanstrengung führt. Bei einer Aphasie hingegen sind die Sprechwerkzeuge intakt; das heißt, das Ausführen von Sprechbewegungen ist nicht gestört (Loew & Böhringer 2002: 17). Bei einer Sprechapraxie ist die Planung der Sprechmotorik gestört. Organisch gesehen ist hierbei der Sprechbewegungsapparat intakt, aber der Betroffene ist nicht in der Lage diese Bewegungen in zweckmäßiger Weise auszuführen (Loew & Böhringer 2002: 17). Diese Sprechstörungen treten oft in Kombination mit einer Aphasie auf, sind jedoch ein für sich eigenes Störungsbild. Diese Abgrenzung ist deshalb so wichtig, um nicht den Fehler zu machen, bei einem Aphasieerkrankten, weil er zusätzlich an einer Sprechstörung leidet, „nur“ eine Störung der Sprechorgane zu diagnostizieren, so dass die Aphasie unerkannt bliebe. Die beiden Störungen bedürfen unterschiedlicher Behandlungen.
Bei Aphasie ist die Funktion sprachlicher Abläufe gestört. Andere höhere Hirnleistungen, sofern sie nicht in Zusammenhang mit der Sprachverarbeitung stehen, sind nicht betroffen. Deshalb müssen Aphasien von Denkstörungen und geistigen Behinderungen differenziert werden. Aphasiker haben Probleme, sprachlich auszudrücken, was sie denken, und/oder Äußerungen anderer zu verstehen, wodurch die Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt ist. Denken, Wahrnehmung und Intellekt sind bei einer Aphasie nicht beeinträchtigt. Dies wird aber leider immer noch häufig angenommen, da Sprache und Denken oft gleichgesetzt werden. Der Grund dafür ist, dass wir Sprache verwenden, um unsere Gedanken nach außen zu tragen beziehungsweise etwas über die Gedanken anderer zu erfahren. Das Denken für sich genommen ist abstrakter als Sprache und ist zudem einer separaten Hirnregion zuzuweisen. Aphasiker haben „nur“ Schwierigkeiten damit, ihre Gedanken und ihr Wissen in Worte zu fassen oder eben die sprachlich formulierten Gedanken eines anderen zu verstehen (Lutz 1992: 211, 213, Loew & Böhringer 2002: 19).
Lutz (1992) gibt ein Beispiel dafür, wie ein 27-jähriger Aphasiker diesen Zustand beschreibt:
(1) „Ingo: Hier im Kopf ... alles da, aber ... raus ... geht nicht!
L.L.: Du willst sagen: Die Gedanken sind da –
aber der Weg vom Denken zum Sprechen –
Ingo: ... ist weit!“ (Lutz 1992: 63)
Wenn man davon ausgeht, dass eine Aphasie plötzlich auftritt, muss man auch degenerative Erkrankungen, wie zum Beispiel Alzheimer, definitorisch von der Aphasie abgrenzen (Tesak 1997: 2), da sich diese durch einen über längere Zeit fortschreitenden Zellverfall auszeichnen. Hierbei handelt es sich auch nicht um eine umschriebene Schädigung wie nach einem Schlaganfall, sondern um einen diffuse Hirnerkrankung (Lutz 1992: 33). Dabei kann es zwar auch zu einer Sprachabweichung kommen, jedoch nicht aufgrund eines beeinträchtigten Sprachsystems wie bei Aphasie, sondern infolge von Gedächtnisstörungen, Kognitionsverlusten, Verwirrtheit und Persönlichkeitsveränderung (Lutz 1992: 33). Ein weiterer Unterschied ist, dass eine Veränderung des Krankheitsbildes bei degenerativen Erkrankungen stets mit einer Verschlechterung einhergeht während sich Aphasien in der Regel (wenn auch langsam) verbessern. Aufgrund dessen werden Aphasien als stabil bezeichnet (Tesak 1997: 4). Die Abgrenzungen zu den verschiedenen Störungen sind nicht nur wichtig, um das Bild der Aphasie herauszukristallisieren, sondern vor allem auch hinsichtlich der Differentialdiagnostik und Therapie, da jede dieser Störungen eine jeweils andere Behandlung erfordert.
Das Krankheitsbild Aphasie umfasst ein großes Spektrum verschiedener Symptome, die in ihrer Kombination und ihrer Gewichtung individuell variieren. Betrachten wir zunächst die expressiven Fehler, da sich die meisten aphasischen Symptome in der freien Rede wiederfinden. In diesem Bereich kommt es zu Störungen der Wortfindung und -bildung und zu Problemen mit der Satzbildung. Wenn Wörter nicht mehr genannt werden können, kann sich dies zum einen in Abweichungen der Lautstruktur zeigen, zum andern in inhaltlichen Fehlern. Werden Laute ersetzt, ausgelassen, hinzugefügt oder umgestellt, so dass das Wort nur leicht verändert wirkt, nennt man dies phonematische Paraphasien (Tesak 1997: 7). Beispiele:
(2) „Dann hat meine Schester gesagt, ich soll ins Trankenhaus.“
„Letzte Nacht hab ich einen schrecklichen Hasten gehubt.“
(Schöler & Grötzbach 2004: 22)
Bei einer Lautabweichung, die so schwer verständlich ist, dass keine Verbindung zum Zielwort hergestellt werden kann, spricht man von phonematischen Neologismen (Neubildungen) (Schöler & Grötzbach 2004: 23). Beispiel:
(3) „...und zwo zwei äh Uksenstein...“ (Schöler & Grötzbach 2004: 23)
Eine Verknüpfung mehrerer phonematischer Paraphasien und Neologismen bezeichnet man als phonematischen Jargon (Schöler & Grötzbach 2004: 24). Selten kommt es auch vor, dass nur einige wenige Phoneme überhaupt erzeugt werden können (Tesak 1997: 7).
Wird anstelle des Zielwortes ein inhaltlich fehlerhaftes, jedoch semantisch ähnliches Wort gebraucht, spricht man von semantischer Paraphasie (Tesak 1997: 11). Beispiel:
(4) Messer > schneiden (Tesak 1997: 12)
Auf der Bedeutungsebene kann es ebenfalls zu sprachlichen Neubildungen kommen, den sogenannten semantischen Neologismen. Dabei handelt es sich um Wortzusammensetzungen, die zwar generell möglich sind, aber regulär nicht vorkommen (Schöler & Grötzbach 2004: 23). Beispiel:
(5) „Dauerbesen“ für „Staubsauger“ (Lutz 1992: 77)
Auch hier ist bei einer Verknüpfung von semantischen Paraphasien und Neologismen von semantischem Jargon die Rede.
Morphologische Paraphasie bedeutet, dass Flexions- oder Derivationsmorpheme hervorgebracht werden, die das Zielwort nicht aufweist. Oder die Aphasiker benutzen bei Wörtern, die morphologisch sehr vielschichtig sind, eine einfachere Form, indem sie beispielsweise bei Komposita nur den Kopf nennen. Beispiele:
(5) grün > grünes
Taschenlampe > Lampe (Tesak 1997: 14)
Wortfindungsstörungen führen zu einem verlangsamten Redefluss, zu Pausen und Satzabbrüchen, was man, wenn die Wortproduktion bei unter 90 in der Minute liegt, zusammenfassend als nicht-flüssige Sprachproduktion bezeichnet (Tesak 1997: 22).
Die genannten Störungen bedeuten für den Aphasiker, nicht mehr problemlos formulieren zu können, was er denkt. Man spricht hierbei von Sprachanstrengung (Schöler & Grötzbach 2004: 24, 26).
Zur Umgehung dieser Unannehmlichkeit nutzen Aphasiker Floskeln, Interjektionen, Wortwiederholungen, Umschreibungen, Gebärden und Korrekturversuche (Huber, Poeck & Weniger 2006: 122, 125, Schöler & Grötzbach 2004: 24). Innerhalb eines Korrekturversuches kann es entweder zum „Conduite d´approche“ oder zum „Conduite d´écart“ kommen: Dem gelungenen beziehungsweise erfolglosen Bemühen, sich an das Zielwort heranzutasten (Tesak 1997: 21). Beispiel für einen Conduite d´approche:
(6) „Das mit dem Salt äs Schalk äh nein nicht Schag äh Schlag genau, das war ja schon in langer Zeit.“ (Schöler & Grötzbach 2004: 23)
Symptome, die die Problematik des Satzbaus betreffen, werden unter den Begriffen Agrammatismus und Paragrammatismus zusammengefasst. Agrammatismus ist gekennzeichnet durch kurze und syntaktisch einfache Sätze (oftmals nur bestehend aus Subjekt und Prädikat beziehungsweise aneinandergereihten Inhaltswörtern) und durch das Weglassen von Funktionswörtern und Flexionsformen. Beispiel:
(7) „Lehrerin ... schreiben“ (Tesak 1997: 16)
Von Paragrammatismus spricht man, wenn lange, vielschichtige Sätze zu beobachten sind und wenn Sätze verdoppelt, verschränkt und abgebrochen werden. Dies führt zu verworrenen und inhaltlich unverständlichen Äußerungen. Dabei werden kaum Inhaltswörter, aber viele falsche Funktionswörter und Flexionsformen benutzt.
Beispiel für eine Satzverschränkung (Überlappung zweier Sätze):
(8) „Ich wollte ja eigentlich am Abend hat meine Frau angerufen.“
(Schöler & Grötzbach 2004: 22)
Paragrammatismus geht einher mit einer flüssigen Redeweise. Das bedeutet, die Sprachgeschwindigkeit ist normal (es werden über 90 Wörter pro Minute produziert) bis übersteigert (es werden über 120 Wörter pro Minute erzeugt). Diese „ungehemmte, überschießende Sprachproduktion“ nennt man fachsprachlich Logorrhö (Schöler & Grötzbach 2004: 22).
Weitere Symptome der Spontansprache von Aphasikern sind Wiederholungen. Dazu zählen Sprachautomatismen, Stereotypien, Perseverationen und Echolalien. Sprachautomatismus bedeutet ständiges Wiederauftauchen von Silben (zum Beispiel „dododo“, Huber, Poeck & Weniger 2006: 140), Wörtern und Floskeln, die nicht in den Sinnzusammenhang gehören (Tesak 1997: 23, Schöler & Grötzbach 2004: 20). Beispiel:
(9) U: „Wo sind Sie operiert worden?“
P: „Ja... es passt schon es ist keine Ahnung es ist passt schon.“
U: „Und was haben die Ärzte gemacht?“
P: „I weiß net... des passt schon und dann... ist wurscht.“
(Schöler & Grötzbach 2004: 20)
Stereotypien beziehen sich auf wiederkehrende Wörter oder Floskeln, die zwar in die Situation passen, aber in ihrer Form unflexibel und oftmals relativ inhaltslos sind. Beispiel:
(10) „Ach, das kann ich nicht. Also ich bin ... nein ich wollte schon äh ... das kann ich nicht... ich wollte zuerst nach Hause und dann äh ... zu Hause äh ... ach ... das kann ich doch nicht.“ (Schöler & Grötzbach 2004: 20)
Wenn schon zuvor Gesagtes ungewollt repetitiv auftaucht, ist von Perseveration die Rede. Beispiel:
(11) „Vor zwanzig Jahren hab ich meine Frau geheiratet, und dann kam auch schon bald meine älteste Frau auf die Welt.“
(Schöler & Grötzbach 2004: 20)
Wird etwas, das vom Gegenüber geäußert wurde, wörtlich oder ein wenig abgewandelt wiederholt, nennt man dies Echolalie. Beispiel:
(12) U: „Wie hat das angefangen mit Ihrer Krankheit?“
P: „Ja, wie das angefangen hat mit Ihrer Krankheit, das war ganz schnell und vorbei.“ (Schöler & Grötzbach 2004: 20)
Neben den Symptomen, die sich in der freien Rede von Aphasikern finden lassen, treten auch Probleme im rezeptiven Sprachbereich auf. Das bedeutet, dass das Verständnis gesprochener Sprache verschieden stark eingeschränkt sein kann, wobei sich die Störungen sowohl auf die Lautstruktur als auch auf den Bedeutungsinhalt der Sprache erstrecken. Sie stehen nicht in Zusammenhang mit Hör- oder Gedächtnisdefiziten. Phoneme können nicht mehr unterschieden werden, so dass ähnlich klingende Wörter verwechselt werden. Auch ist unter Umständen die Bedeutung bestimmter Morpheme und Wörter nicht mehr abrufbar. Verständnisstörungen sind relativ schwer zu untersuchen, da sie nicht so unmittelbar wahrzunehmen sind wie die Störungen der Spontansprache (Tesak 1997: 25). Zu den expressiven und rezeptiven Symptomen kommen außerdem Ausfälle in der Schriftsprache. Ist jemand nicht in der Lage, Buchstaben oder zusammenhängende Wörter richtig zu schreiben, so wird dies als Agraphie bezeichnet. Beim Verwechseln oder Weglassen von Buchstaben spricht man von graphematischer Paragraphie und beim Schreiben inhaltlich ähnlicher Wörter von semantischer Paragraphie. Wortneuschöpfungen im Bereich des Schreibens werden Neographien genannt (Tesak 1997: 28). Eine Schwäche des Lesens bezeichnet man als Alexie. Phonologische oder visuelle Paralexien liegen vor, wenn Laute oder Wörter vorgelesen werden, die dem Zielwort im Klang oder Aussehen ähneln. Werden inhaltlich oder morphologisch verwandte Wörter erzeugt, ist die Rede von semantischen oder morphologischen Paralexien. Außerdem kommen Umschreibungen eines vorzulesenden Wortes vor, was syntagmatische Paralexie genannt wird. Ferner können die gleichen Probleme wie in der Spontansprache und beim Verstehen auftauchen (Tesak 1997: 31). Die Fehler beim Schreiben und Lesen sind ähnlich: Einzelne Laute können nicht in Schriftzeichen umgesetzt werden und umgekehrt oder das Zielwort wird mit einem anderen Wort verwechselt (phonologisch, visuell oder semantisch). Manche Aphasiker können gut schreiben oder lesen, ohne jedoch den Sinn zu erfassen.
Wie oben erwähnt, wird Aphasie durch neurologische Erkrankungen verursacht. Um eine annähernde Vorstellung davon geben zu können, warum Aphasikern Sprachverarbeitungsprozesse nicht zur Verfügung stehen und dadurch die genannten Symptome zeigen, ist es notwendig, kurz darzustellen wie die Nerven-Netzwerke im Gehirn arbeiten.
Das zentrale Nervensystem umfasst das Rückenmark und das Gehirn. Für unsere Zwecke ist das Gehirn ausschlaggebend. Dort ist das zentrale Nervensystem aufgeteilt in Nervenzellen („graue Substanz“) , die sich in der 1,5-5 mm dicken Großhirnrinde befinden und in Nervenfasern („weiße Substanz“), die darunter im Innern des Großhirns liegen und dieses mit anderen Teilen des Nervensystems verbinden. Bei einer Aphasie handelt es sich meist um eine kortikale Läsion, das bedeutet eine unmittelbare Schädigung der Sprachzentren in der Großhirnrinde oder seltener um eine subkortikale Läsion unterhalb der Großhirnrinde, bei der die Verbindungen zwischen den Sprachzentren unterbrochen werden (Tesak 1997: 38, 48, Huber, Poeck & Weniger 2006: 94, Roche Lexikon Medizin 2003).
Die phonologische, morphologische, semantische und syntaktische Sprachverarbeitung basiert auf chemischen und elektrischen Signalen neuronaler Netzwerke. Die grundlegenden Mechanismen dabei sind, wie bei allen Nerventätigkeiten, Erregung und Hemmung. Sprachliche Informationen werden im Gehirn von Nervenzelle zu Nervenzelle weitergeleitet. Entlang der Nervenfasern geschieht dies durch elektrische Impulse und an den Kontaktstellen zwischen den Zellen, den sogenannten Synapsen, durch chemische Trägerstoffe. Diese Neurotransmitter können abhängig von ihrer Zusammensetzung entweder eine Stimulierung oder eine Hemmung der Information bewirken. Vermutlich sind bei Aphasikern Störungen dieser Kontrollprozesse aufgrund geschädigter Neuronen im Bereich der Sprachregionen ein grundlegender Faktor (Lutz 1992: 29). Offenbar werden fehlerhafte Sprachprozesse durch eine gestörte Informationsübertragung verursacht.
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