Bachelorarbeit, 2006
107 Seiten, Note: gut
1. Einführung in die Thematik
2. Aspekte der Migration
2.1. Tendenz der demographischen Entwicklung der Migration am Beispiel der Spätaussiedler
2.2. Lebenssituation und Bedingungen der jugendlichen Menschen in der ehemaligen Sowjetunion
2.3. Motive und Hintergründe der Migration
2.4. Phasen der Migration und ihre Auswirkungen auf den Gesundheitszustand von jugendlichen russischsprachigen Migranten
2.5. Ökonomische und soziale Lage von jugendlichen Spätaussiedlern in Deutschland
3. Psychische Gesundheit in der Migration
3.1. Psychische Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. Allgemein
3.2. Psychischer Gesundheitszustand und psychische Belastungen bei den russischsprachigen Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund
3.3. Zusammenhang der Integration und der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund
3.4. Suche nach Identität und ihre Auswirkung auf die Psyche der Jugendlichen
3.5. Psychosoziale und psychiatrische Versorgung von Migrantenkindern
4. Stand der Migrationsforschung von psychischer Gesundheit bei Kindern
4.1. Analyse der Problematik über die Migrationsforschung von psychischer Gesundheit bei Kindern
4.2. Ein Überblick über Ergebnisse und Probleme migrationspezifischer Forschungsstudien am Beispiel der Migrantenkinder aus der ehemaligen Sowjetunion
4.3. Psychische Gesundheit bei Migrantenkindern im Fokus der internationalen Forschung
5. Empirische Untersuchung
5.1. Methodisches Vorgehen
5.1.1. Untersuchungsdesign
5.1.2. Auswahl von Expertengruppen
5.1.3. Formulierungen der Fragestellungen
5.2. Durchführung der Untersuchung
5.3. Rücklaufquote
5.4. Datenauswertung
5.5. Ergebnisse
5.6. Perspektiven und Vorschläge von Experten für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung für Migranten
6. Diskussion
7. Zusammenfassung und Ausblick
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Anhang
Anhang 1.: Leitfaden für Experteninterviews
Anhang 2: Qualitative Erhebung bei Experten für die Analyse: „Welche
Unterstützung benötigen Migranten?“. Interviewprotokolle
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1.: Zuzug von Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland von 1954 bis 2004
Tabelle 2.: Ausländische Bevölkerung nach Altersgruppen von 1970 bis 2004
„Ein Leben ohne Träume ist wie ein trockener Brunnen ohne Wasser
Ein Land ohne Fremde ist wie ein Baum ohne Früchte
Lass dein Leben mit Farben bereichern
Denn die Menschen sind prachtvolle Farben unserer Erde“
(Dr. Hidir E. Çelik, 2006, URL: www.bimev.de)
Migration ist Einwanderung in ein fremdes, unbekanntes Land, die verschiedene Erfahrungen, Schicksale und psychische Herausforderungen mit sich bringt (Frindte 2001). Jedes Jahr migrieren Millionen Menschen aus eigenem Entschluss oder infolge von Entscheidungen anderer, die ihr ganzes bewegliches Eigentum auf Lastwagen oder in Containern mit sich führen oder auch nur ein kleines Bündel mit Habseligkeiten (Sluzki 2004).
Mit zunehmender Tendenz sind im Jahr 2005 in der ganzen Welt circa 200 Millionen Menschen umgesiedelt (Bericht der Globalen Kommission 2006). Die Zahl der ausländischen Migranten ist in der Bundesrepublik Deutschland von 5,9 Millionen im Jahr 1991 auf 7,3 Millionen im Jahr 2004 gestiegen (Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2004), davon ist allein die Zahl der ausländischen Kinder und Jugendlichen unter 21 Jahren 1,6 Millionen (Statistisches Bundesamt 2006).
Viele Menschen, die ihre Heimat mit ihren Kindern verlassen, die sich aus ihrer politischen, sozialen und ökonomischen Not befreien wollen und nicht nur für sich, sondern für ihre Kinder bessere Chancen und sichere Lebensbedingungen schaffen wollen, suchen ihre Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland als eines der reichsten Länder der westlichen Welt (Müller 2004).
Für einige Kinder, die das Nest der Kindheit verlassen und den elterlichen Wunsch erfüllen sollen, kommt die Entscheidung ihrer Eltern völlig überraschend. Viele Kinder sind von dem Entschluss ihrer Eltern überrollt worden und haben entsprechende Gefühle der Trauer, der Ohnmacht und vielleicht des Zorns erlebt. Der Ausreiseprozess wird vom Kind zum Kind unterschiedlich wahrgenommen. Jüngere Kinder sind offener und bereiter, sich auf neue Situationen einzulassen, weil sie häufig noch nicht so intensive Freundschaften geschlossen haben und noch nicht feste Bindungen eingegangen sind. Für ältere Kinder hat die Ausreise größere Konsequenzen, weil sie Freunde, Verwandte und Bekannte zurückgelassen haben und damit Verlusterfahrungen hinnehmen müssen (Hurrelmann und Bründel 1996).
Obwohl die Entscheidung zur Auswanderung gut geplant ist und die Aufnahmebedingungen im Aufnahmeland optimal sind, wird die Migration der Jugendlichen von gesundheitlichen Risiken begleitet, so dass es negativ auf körperliche und psychosoziale Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auswirkt (Weiss 2003).
In diesem Zusammenhang steht im Mittelpunkt der Bachelorarbeit die Darstellung des psychischen Gesundheitszustands von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund am Beispiel der jugendlichen Spätaussiedler. Diese Bachelorarbeit ist auf sieben verschiedene Kapitel aufgeteilt, sodass der Leser nach der Einführung in die Thematik im zweiten Kapitel einen Überblick über grundsätzliche Nuancen der Migration mit Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen bekommt. Im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit wird auf psychische und psychosoziale Probleme und Versorgung von Kindern eingegangen. Der Leser bekommt eine Vorstellung, wie die Suche nach Identität und Integration auf die Psyche der Jugendlichen auswirkt und welche Folgen zu erkennen sind. Im vierten Kapitel wird ein umfassendes Bild der Migrationsforschung mit Erfahrungen und Problemen dargestellt. Um die Aktualität der Problematik zu zeigen, wird im fünften Kapitel eine empirische Untersuchung auf Basis der Experteninterviews vorgestellt. Die empirische Untersuchung ist Kern der Bachelorarbeit. Sie wird im Zentrum für Psychiatrie und psychosoziale Medizin und in anderen Institutionen (psychosoziale Beratungs- und Behandlungsstellen) mit verschiedenen Experten (Berater, Psychotherapeuten) in Bielefeld durchgeführt. Zum Schluss des fünften Kapitels werden die Konsequenzen aus den Ergebnissen der Experteninterviews gezogen und neue Ideen und Perspektiven für die Praxis vorgestellt. Im sechsten Kapitel wird ausführlich über Ergebnisse der Expertenbefragung diskutiert. Die Bachelorarbeit wird mit einer Zusammenfassung zu diesem Thema abgeschlossen. Im Anhang findet der Leser Interviewprotokolle der qualitativen Erhebung von Experten aus dem Bereich der Psychiatrie, die diese Bachelorarbeit unterstützt haben. Aufgrund des Datenschutzes bleiben die Daten von Experten anonym.
Der Themenkomplex Migration und Gesundheit ist eine Verbindung der zwei grundsätzlich unterschiedlichen Systeme, die im Grenzbereich von Medizin, Psychiatrie/Psychologie, Soziologie und Ethnologie angesiedelt sind (Weiss 2003).
Migration ist ein Phänomen der Menschheitsgeschichte und findet überall auf unserer Erde statt. Migrationsbewegungen werden aus verschiedenen Gründen ganz unterschiedlich erlebt, wobei für die Betroffenen Migration mehr oder weniger große innere und äußere Veränderungsanforderungen mit sich bringt, die Konsequenzen für die psychische Gesundheit hervorrufen (Hegemann und Salman 2001). Migration ist ein einschneidender Abschnitt des Lebens von Migranten und darf nicht als ein einzelnes Ereignis, sondern muss als Prozess der Eingliederung, der Anpassung und neuer Identitätsbildung verstanden werden (Keller 2004).
Der Begriff „Migration“ wird im Migrationsbericht 1999 von Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen folgend dargestellt:
„Migration steht für die räumliche Bewegung zur Veränderung des Lebensmittelpunktes von Individuen oder Gruppen über eine bedeutsame Entfernung. Die Verlagerung des Lebensmittelpunktes über die Grenzen eines Nationalstaates ist dabei kennzeichnend für internationale Migration…. Räumliche Bewegungen im Zusammenhang mit Freizeitbeschäftigung, Reisen, Sport, Tourismus und Pendeln sind nicht als Migration zu bezeichnen“
(Lederer et al. URL: www.integrationsbeauftragte.de).
Die allgemein anerkannte Definition beinhaltet einige Vorteile, sodass sie nicht nach Motiven, Zielen der Migration und nach dem Rechtsstatus unterscheidet. Aber aus dem psychologischen Winkel hat die Definition jedoch einen Nachteil. Dabei könnte die psychische Distanz bedeutsamer als die räumliche Entfernung sein. In der Wirklichkeit können die Menschen in vielen Fällen ihre räumliche Entfernung realisieren, obwohl ihr Denken und Fühlen noch ganz auf das Herkunftsland bezogen sein könnte (Brucks 2001). Migranten suchen ihren eigenen Weg und ihre persönliche Identität im fremden Land. Sie erleben dabei Erfolg oder Niederlage, Aufschwung oder Abstieg, Nostalgie und Heimweh, sodass große Belastungen auf die Psyche des Menschen ausgeübt werden.
Die deutsche Geschichte kennt zahlreiche Facetten und Vielfältigkeiten der Migration. Der große Bevölkerungswandel hat mit der Migration nach Ost- und Südeuropa im ausgehenden Mittelalter angefangen und wurde mit der Auswanderung von mehreren Millionen Deutschen nach Nord- und Südamerika im 19. Jahrhundert fortgesetzt. Er stellt auch im 20. Jahrhundert ein gesellschaftlich bedeutendes Phänomen dar (Lederer et al. URL: www.integrationsbeauftragte.de).
Flöthmann (2004) unterscheidet in Deutschland insgesamt fünf Wanderungsphasen:
- Die erste große Wanderungswelle, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der zweiten Hälfte der 50er Jahre einsetzte, erreichte im Jahr 1965 einen Höhepunkt mit einem jährlichen Wanderungsgewinn von ca. 300.000 Migranten. Diese Phase endete im Jahr 1967;
- Die zweite Wanderungswelle, die durch Gastarbeitermigration gekennzeichnet war, hat im Jahr 1970 einen Höhepunkt mit einem Wanderungsgewinn von ca. 550.000 Migranten erreicht. Diese Wanderungsphase endete durch die Ölkrise und den Anwerbestopp im Jahr 1975;
- Die dritte große Wanderungsphase, die durch Familiennachzüge gekennzeichnet war, war in der Zeit von 1973 bis 1984 mit einem Maximum von ca. 300.000 Migranten. Die Wanderungswelle endete durch finanzielle Remigrationsanreize im Jahr 1984;
- Die vierte und größte Wanderungswelle, die durch die politische Veränderung in Osteuropa ausgelöst wurde, wies im Jahr 1992 den höchsten jährlichen Wanderungsgewinn mit 782.000 Migranten auf. Diese bedeutende Wanderungsphase war im Jahr 1998 durch Änderungen des Asylrechts sowie geringe ökonomische Wachstumsraten und zunehmende Arbeitslosigkeit beendet;
- Die fünfte Wanderungsphase, die durch die EU-Osterweiterung beeinflusst wird, ist zurzeit noch offen.
Spätaussiedlerfamilien aus der ehemaligen Sowjetunion kommen seit den fünfziger Jahren nach Deutschland und stellen eine Migrationgruppe dar, die schon seit der ersten Wanderungsphase eine öffentliche Anerkennung erfahren hat. Auf Basis des Grundgesetzes haben sie das Anrecht auf die deutsche Staatsbürgerschaft sowie auf Eingliederungshilfen (Dietz und Holzapfel 1999). Sie gelten rechtlich als Deutsche im Sinne des Artikels 116 des Grundgesetzes und waren neben der Anwerbung von Arbeitskräften eine weitere bedeutende Quelle der Zuwanderung (ohne Autor, URL: www.de.wikipedia.org).
Die Geschichte der Ausreisebewegung in der ehemaligen Sowjetunion weist unterschiedliche jährliche Schwankungen von Migrantenzahlen auf, die man nicht einfach erklären kann. Viele in der Sowjetunion lebende Deutsche hatten bereits Mitte der fünfziger Jahre den Ausreiseantrag gestellt, jedoch wurde es nur in wenigen Fällen gestattet, in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen zu dürfen (Siehe Tab.1). Der erste Höhepunkt wurde im Jahr 1959 mit 5.563 ausgereisten Spätaussiedlern erreicht (Siehe Abb. 1). Im Jahr 1971 begann die Veränderung der sowjetischen Ausreisepolitik und führte dazu, dass die Anzahl von Spätaussiedlern im Jahr 1976 einen Höchststand erreichte. Das ist die dritte große Wanderwelle, in der 9.704 Spätaussiedler in Deutschland registriert worden sind. Die Zahl der Spätaussiedler ist bis 1985 von Jahr bis Jahr zurückgegangen. Im Jahr 1987 verbesserte die Politik der Perestroika die Bestimmungen im Passgesetz in der Sowjetunion, so dass die Ausreise grundsätzlich erleichtert worden ist. Die Zahl der Spätaussiedler erreichte in dem Jahr 14488 Menschen (Dietz 1992). Die Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion gehören seit dem Ende der achtziger Jahre zu den größten Zuwanderungsgruppen in der Bundesrepublik Deutschland (Dietz 1995). Das Kriegfolgenbereinigungsgesetz, das am 1.Januar 1993 in Deutschland in Kraft trat, hat die Bewertungsgrundlagen für die Aufnahme von Spätaussiedlern aus Osteuropa verändert und beschränkte zudem die Zuwanderung von Spätaussiedlern auf höchstens 225.000 Menschen pro Jahr (Dietz 1998).
„Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern. Sie gelten als nicht ausgebürgert, sofern sie nach dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben und nicht einen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht haben“ (ohne Autor, URL: www.aufenthaltstitel.de).
Abbildung 1. Zuwanderung der Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1959 1966 1976 1989 1994 2004
Quelle: Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2004, Dietz 1992 (Eigene Darstellung)
Als Ergebnis davon stieg die Zahl der Spätaussiedler von 47.572 Menschen im Jahr 1988 auf 195.576 im Jahr 1992 und im Jahr 1994 wurde der Höhepunkt mit 213.214 Personen erreicht (Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2004). Das jährlich festgelegte Kontingent der Spätaussiedlerzuwanderung wurde bis zum Ende des Jahres 1995 ausgeschöpft. Die Zahl der Spätaussiedler ging im Jahr 1996 im Vergleich zum Vorjahr um 18 % zurück und verringerte sich im Jahr 1997 um 22 % im Vergleich zum Jahr 1996. Der Rückgang der Zuwanderungszahlen lässt sich erklären, dass im Mai 1996 die Prüfung der deutschen Sprachkenntnisse der Ausreisewilligen im Herkunftsland eingeführt worden ist. Nach Informationen des Bundesverwaltungsamtes bestehen ca. 30 % der Ausreisewilligen den Sprachtest nicht (Dietz 1998). Heute setzt sich der kontinuierliche Rückgang beim Zuzug von Spätaussiedlern von vergangenen Jahren fort. Im Jahr 2004 sind 59.093 Spätaussiedler nach Deutschland eingereist. Der Zuzug hat sich im Vergleich zum Höhepunkt der Spätaussiedlerzuwanderung der 90er Jahre auf ein Viertel reduziert (ohne Autor, URL: www.migration-info.de ). Zwischen 1954 und 2004 belief die Zahl der Spätaussiedler auf drei Millionen (ohne Autor, URL: www.de.wikipedia.org ).
In den letzten Jahren hat sich die Alterstruktur deutlich verändert. Die Tendenz der Zuwanderungsentwicklung zeigt, dass die Anzahl von Kindern und Jugendlichen unter 21 Jahre in den Jahren zwischen 1970 bis 2004 mit 762,3 auf 1628,1 (in 1000) Personen gestiegen ist (Siehe Tab.2) (Statistisches Bundesamt 2005). Die Daten vom Statistischen Bundesamt werden dabei nicht für eine bestimmte Migrantengruppe zum Beispiel „Kinder und Jugendliche aus der ehemaligen Sowjetunion“ dargestellt. Obwohl das Statistische Bundesamt keine genau Zahl der Kinder und Jugendlichen aus der ehemaligen Sowjetunion darstellt, wurde es aus anderen Literaturquellen festgestellt, dass in der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig 500.000 jugendliche Spätaussiedler leben (Herwartz und Westphal, URL: www.philso.uni-augsburg.de).
Die zugewanderten Spätaussiedler sind eine bedeutend jüngere Population mit einem hohen Anteil an Kindern und Jugendlichen im Vergleich zur deutschen Bevölkerung (Siehe Abb. 2).
Abbildung 2. Altersstruktur der bundesdeutschen Bevölkerung und der zugewanderten Spätaussiedler im Jahr 2004.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Statistisches Bundesamt 2005
Der Teil an jugendlichen Spätaussiedlern unter 21 Jahre betrug 22,4 % im Jahr 2004. Dieser Anteil ergab bei der bundesdeutschen Bevölkerung 21,5 % im Jahr 2004. Die größere Anzahl der Jugendlichen traut sich zu, einen neuen Lebensabschnitt mit verschiedenen Facetten in der Bundesrepublik Deutschland anzufangen. Dies hat den positiven Effekt der Verjüngung der erwerbstätigen Bevölkerung (Dietz 1998, Statistisches Bundesamt 2005). Aus der Altersstruktur der deutschen Bevölkerung kann man die größere Gruppe der zuwanderten Spätaussiedler zwischen 20 bis 40 Jahren erkennen, die im Jahr 2004 40,3% betrug. Diese Zahl der Spätaussiedler zeigt, dass kinderreiche Familien ihre Zukunft in der Bundesrepublik Deutschland suchen.
Die Spätaussiedler werden innerhalb Deutschlands auf einzelne Bundesländer möglichst gleichmäßig verteilt. Der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung NRW lag im Jahr 1999 bei 11,2 %, sodass es deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 9,0 % liegt (Gesundheitsbericht NRW 2000). Im Jahr 2003 sind 93 % Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion nach Nordrhein-Westfalen gekommen, davon 53 % aus Russland und 40 % aus Kasachstan. 28 % der Spätaussiedler waren jünger als 18 Jahre (4.545). Der überwiegende Teil war zwischen 18 und 45 Jahre (7.660, 47 %) (Untersuchungsbericht NRW 2004).
In Bielefeld existiert ein relativ großer Anteil von Spätaussiedlern wie in anderen Großstädten, der sich zu dem in seiner Zusammensetzung in den letzten 17 Jahren deutlich verändert hat und größer geworden ist (Bielefelder Gesundheitsberichterstattung 2004). Von 1987 bis 2003 sind insgesamt 8071 Spätaussiedler nach Bielefeld gekommen. Im Jahr 2002 waren es 479 und im Jahr 2003 422 Personen. Der Anteil der unter 18-järigen lag Bezogen auf die letzten Jahre regelmäßig bei etwa 30 %. Die vielen jungen Spätaussiedler mildern die demografische Entwicklung unserer alternden Gesellschaft ab (ohne Autor, URL: www.bielefeld.de ).
Im Herkunftsland waren jugendliche Spätaussiedler vor ihrer Ausreise in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld sozial integriert. Die ethnische Identitätsfindung der Deutschen wurde auf der politischen Ebene in der ehemaligen Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg als ein historisches Ereignis akzeptiert, sodass die nationale Herkunft bei den Jugendlichen keine wichtige Rolle spielte (Branik 1982). Die Jüngeren seien manchmal in der Schule, zum Teil noch bis in die späten achtziger Jahre hinein, als „Fritzen und Faschisten“ beschimpft worden, weil damals die entsprechenden Kinofilme existierten, die einen klar diskriminierenden Charakter und ein faschistoides Bild von den Deutschen gezeigt haben. Obwohl die Erzählungen der Älteren über Erlebnisse aus ihrer Kindheit und Jugend mit Szenen und Episoden von Hunger, Kälte, ökonomischer Armut, Vertreibung und Gewalterfahrungen verbunden sind, wurde von den Jüngeren an eine schöne und problemlose Kindheit erinnert (Ingenhorst 1997).
Starker familiärer Zusammenhalt und gelegentliches geselliges Beisammensein lässt beschreiben, dass die Familie für die Russlanddeutschen im Mittelpunkt des Lebens steht. Es bedeutet, dass die Erziehung der Kinder im Großeltern-Eltern-Kind-Verhältnis gekennzeichnet worden ist. Für die Bewältigung des Lebensalltags wandten Kinder und Jugendliche sich in der alten Heimat hauptsächlich an ihre Eltern, Verwandte, Freunde, weil man Hilfe von außen oder von Behörden selten bekommen konnte (Ingenhorst 1997).
Ökonomische Verhältnisse der Familie von Spätaussiedlern in der ehemaligen Sowjetunion waren auf einem relativ niedrigen Niveau, aber ohne Gefahr eines sozialen Absturzes. Es gibt ein Stichwort dazu, das die Spätaussiedler zum Ausdruck des Familienlebens und des Wohnumfeldes bringen: „Arm aber glücklich“. Viele Russlanddeutsche lebten im eigenen Haus und dies überwiegend auf dem Land, sodass sie durch die private Bewirtschaftung einer kleinen Ackerfläche und der Viehhaltung in Mangelzeiten immer gut versorgt waren (Ingenhorst 1997). Für die Deutschen in der Sowjetunion war die private Landwirtschaft, ob es sich um eine Datscha, ein Hofgrundstück oder einen Gemüsegarten handelte, eine bedeutende Quelle der familiären Versorgung, sodass sie etwa ein Viertel von den landwirtschaftlichen Produkten verkauften (Dietz 1995).
Die schweren Zeiten haben besonders für die Bevölkerung nach der Auflösung des Unionsverbandes begonnen. Die Nachfolgestaaten der UdSSR versuchten Elemente einer marktwirtschaftlichen Ordnung einzuführen, die in Form von der Privatisierung, der Konversion (Umwandlung militärische in zivile Produktion) und der Orientierung der Produktion an Rentabilitätskriterien umgesetzt wurden. Zahlreiche Betriebe gerieten an den Rand der Zahlungsunfähigkeit, so dass viele Familien zusätzlich zum Hauptverdienst auf Nebenerwerbsquellen zurückgreifen mussten, um den Lebensunterhalt zu finanzieren. Eine Verschlechterung der materiellen Situation mussten sie in Kauf nehmen. Der Lohn wurde häufig jedoch erst nach Monaten oder in Form von Waren (Mehl, Fleisch, Zucker) ausbezahlt (Dietz 1997).
Das bisherige Bildungssystem wurde in verschiedenen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu Beginn der neunziger Jahre inhaltlich durch neue Bildungsgesetze reformiert. Die Einführung des kasachischen als Staatssprache in Kasachstan erschwerte das Lernen für Kinder und Jugendliche in der Schule und an der Universität, sodass sich ihre Ausbildungs- und Karrierechancen verschlechtert haben. Mit der Veränderung des Bildungsbereichs in Russland wurden Bildungseinrichtungen durch nichtstaatliche Trägerschaft (Privatschulen) übernommen, die eine Ausbildung auf hohem Niveau gewährleisten und nur wenigen Schülern mit zahlungskräftigen Eltern offen stehen. Viele Jugendliche messen ihre Ziele inzwischen vorrangig an den Verdienstmöglichkeiten, darum vollzieht sich der Einstieg ins Arbeitsleben immer schneller, ohne eine entsprechende Ausbildung abgeschlossen zu haben. Es kommt häufig vor, dass eine abgeschlossene Ausbildung nicht umgesetzt wird, sodass die Hälfte der Absolventen von Hochschulen und Universitäten in der ehemaligen Sowjetunion fachfremd arbeitet. Die Spätaussiedlerjugendlichen, die in den letzten Jahren in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind, haben ihre schulische und berufliche Ausbildung in der russischen Sprache absolviert und dabei geringere Deutschkenntnisse erworben. Auf Grund dessen, das das Privatleben für die junge Generation in der ehemaligen Sowjetunion große Bedeutung hatte, interessierten sie sich wenig für Politik oder ein gesellschaftliches Engagement (Dietz 1997).
Die Lebensqualität der Bevölkerung in einigen Gebieten Russlands und Kasachstans ist durch die gesundheitsgefährdende Umweltsituation und das mangelhafte Gesundheitswesen, in starkem Maße bei den Kindern, sehr niedrig. Heute gilt zum Beispiel Russland als das am stärksten von Umweltzerstörungen betroffene Land, das durch Atomversuche, die Lagerung radiaktiver Abfälle in ungeeigneten Deponien und durch hochgiftige Industrieabfallprodukte gebietsweise stark verseucht ist. Für die Bevölkerung in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion stellen Wasserverschmutzung, Bodenzerstörung und Luftverunreinigung ein erhebliches Gesundheitsrisiko dar (Dietz und Holzapfel 1999).
Auf Grund der unstabilen sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Lage, die die Lebensbedingungen in der ehemaligen Sowjetunion erschwerten, suchen die Spätaussiedler ihre Zukunftsperspektiven in der Bundesrepublik Deutschland, obwohl die Ausreisemotive und Hintergründe bei den Erwachsenen und Kindern unterschiedlich sind.
Gefühle von Unsicherheit, Frustration, Unzufriedenheit, die durch verschiedene Beschränkungen in eigenem Land hervorgerufen sind, sind überwiegende Auslöser zum Auswandern. Aufgrund dessen entstehen bei Spätaussiedlern bestimmte Erwartungen und Hoffnungen im Aufnahmeland (Kornischka 1992).
Man unterscheidet in der Migrationstheorie ausgehende Push-Faktoren des Herkunftslandes und ausgehende Pull-Faktoren des Zuwanderungslandes, die für die Wanderungsbewegung zuständig sind. Unter Push-Faktoren versteht man, Formen existentieller Bedrohungen im Herkunftsland zum Beispiel Kriege, ökologische Katastrophen, wirtschaftliche Verelendung oder religiöse und ethnische Diskriminierung. Pull-Faktoren stellen eine Kosten-Nutzen-Einschätzung dar. Es heißt, dass im Zuwanderungsland bessere Überlebensbedingungen und Aufnahmegarantien erwartet werden (Dietz 1997).
Die Spätaussiedler, die am Ende der achtziger Jahre in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind, haben sich in erster Linie Wünsche erfüllt, um als „Deutsche unter Deutschen“ zu leben oder zu bereits ausgereisten Familienmitgliedern ziehen zu wollen. Wirtschaftliche und politische Ausreisemotive hatten zur damaligen Zeit nur einen untergeordneten Stellenwert, obwohl diese Gründe für die jüngeren Spätaussiedler ein größeres Gewicht als für die ältere Generation hatte. Die Ausreisemotive haben sich in den neunziger Jahren grundlegend geändert. Wirtschaftliche Gründe und die Furcht vor ethnischen Konflikten, die gerade in Kasachstan und Mittelasien stark zugenommen hatten, haben sich inzwischen in den Vordergrund geschoben. Einen Einblick in die Ausreisemotive junger Spätaussiedler gibt eine Umfrage, die im Jahr 1996 von Osteuropa-Institut in München durchgeführt worden ist (Siehe Abb. 3) (Dietz 1997).
Abbildung 3. Ausreisemotive jugendlicher Spätaussiedler (N=253)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 – Hoffnung auf materielle Besserstellung (40,0 %)
2 – Familienzusammenführung (26,9 %)
3 – Wunsch in einem deutschen Umfeld zu leben (19,8 %)
4 – Suche nach einer besseren Nationalitätensituation (19,7 %)
5 – Rückkehr in das Abstammungsland der Familie (17,4 %)
6 – Anderes (10,3 %)
7 – weiß nicht (5,1 %)
8 – wollte nicht ausreisen (1,2 %).
Quelle: Dietz nach Angaben der Befragung des Osteuropa-Instituts 1997, S. 32
Nach Angaben des Osteuropa-Instituts machen junge Spätaussiedler sich Hoffnung auf bessere materielle Lage im Aufnahmeland. Dieses Ausreisemotiv wurde von Kindern und Jugendlichen am häufigsten genannt. Die Familienzusammenführung und die Rückkehr in das Abstammungsland hatten bei den Ausreisewünschen eine hohe Priorität. Mit der Auflösung der ethnischen Konflikte im Herkunftsland sucht die Mehrzahl der jugendlichen Spätaussiedler eine bessere Nationalitätensituation (Dietz 1997).
Die Ausreisemotive haben sich in den letzten Jahren bei den Kindern und Jugendlichen nicht geändert, sodass das Hauptgewicht auf die Verbesserung der sozialen und ökonomischen Situationen gesetzt ist. Ingenhorst (1997) weißt darauf hin, dass das zentrale Motiv für die Aussiedlung in den sich verschlechternden Verhältnissen in der alten Heimat und in den eher diffusen Erwartungen auf ein besseres Leben in der neuen Heimat zu finden ist.
Mit den russischsprachigen Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund als auch mit den Erwachsenen geschehen verschiedene Ereignisse im Verlauf des Migrationsprozesses, sodass die Anfälligkeit für psychische Störungen sehr stark erhöht ist (Baune 2004). Ein Migrationsprozess mit seinen kurzfristigen aber auch langfristigen Auswirkungen scheint einen wichtigen Einfluss auf das psychische Wohlergehen sowie auf die Entwicklung psychischer Erkrankungen unter jugendlichen Spätaussiedlern auszuüben (Baune zitiert nach Machleidt 2004, S. 124). Die Gestaltung der neuen Lebenswelt im Migrationsprozess wird von verschiedenen Faktoren belastet (Weiss 2003). Baune (2004) behauptet, dass die Dauer des Migrationsprozesses sehr unterschiedlich sein kann und von der Geschwindigkeit der beruflichen, sozialen und sprachlichen Integration von Kindern und Jugendlichen abhängig ist.
Sluzki (2001) unterteilt den Verlauf eines Migrationsprozesses in folgende sechs Stadien, die unterschiedlich auf den psychischen Gesundheitszustand bei Kindern und Jugendlichen einwirken (Siehe Abb.4):
Die Vorbereitungsphase.
Der Verlauf der Migration fängt an, wenn ein Familienmitglied sich mit der Auswanderung intensiv beschäftigt. Dabei wird das Bemühen gegeben, um eine Auswanderung zu konkretisieren. Die Dauer dieser Phase hängt vom Lebensstil und Zeitrhythmus der Familie ab. Die Vorbereitungsphase wird mit den ersten „Höhen“ und „Tiefen“ begleitet, sodass es einerseits in kurzen freudigen Euphorien und anderseits in kurzen Perioden von Angst, Enttäuschung und Überlastung äußern kann (Sluzki 2001). Die Neugier zur fremden Kultur beseitigt meistens negative Gefühle, weil man die eigene Erfahrung im Aufnahmeland sammeln und erleben möchte und nicht nur dieses Bild von Erzählungen der Bekannten vor sich haben will. Kindern und Jugendlichen wird viel versprochen, um ihre psychische Stabilität zu erhalten.
Abbildung 4. Phasen der Migration
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
I – Kurve der funktionellen Anpassung
II - Vorbereitungsphase
III - Migrationsakt
IV - Phase der Überkompensation
V - Phase der Dekompensation
VI - Phase der generationsübergreifenden Anpassungsprozesse
Quelle: modifiziert nach Sluzki, 2001, S.103
Den Migrationsakt.
Migration ist ein Prozess, für den keine Rituale vorgeschrieben sind. Migranten müssen aus ihrer Sichtweise für diesen schmerzhaften Akt persönliche Rituale aussuchen. Ablauf und Stil des Migrationsaktes ist in jeder Familie unterschiedlich. Einige Familien wollen alle Brücken abbrechen und sehen den Migrationsakt als etwas Endgültiges und Unwiderrufliches an. Andere wollen nur für eine gewisse Zeit migrieren und in dem Fall, wenn die Lebensbedingungen sich verschlechtern, kehren sie zurück (Sluzki 2001). Der Anfang der erheblichen psychischen Probleme beginnt in dieser Phase, wo der Wechsel des politischen und kulturellen Bezugsrahmens deutlich wird, und damit die Erschütterung des gewohnten Werte- und Normensystems, das Verlassen der gewohnten Umgebung, das Zurücklassen von Verwandten und Freunden, der Statusverlust und meistens Sprachschwierigkeiten vorhanden sind (Branik 1982). Der Migrationsakt ist für Jugendliche ein Übergangsprozess vom Heimatland in eine neue Umgebung. Während dieser Zeit sind jugendliche Spätaussiedler besonders verletzlich, weil sie die Welt der Kindheit verlassen und in die neue Welt eintreten müssen, wo die Pflichten zunehmen (Colijn 2001).
Phase der Überkompensierung.
Die Belastungen der Migration sind nach Ankunft am größten. Sie äußern sich nach den ersten Wochen und Monaten als massive Krisen infolge der Umstrukturierung einer Familie. In der Anfangszeit unmittelbar nach der Migration werden die Probleme verdrängt, um Unstimmigkeiten zwischen den Erwartungen und der Realität nicht wahrzunehmen (Sluzki 2001). Stress wird in der Phase der Überkompensierung sehr oft vertuscht, um die mühsamen Anpassungsmöglichkeiten in die fremde Kultur zu realisieren. Die Familien verstärken häufig zur Konfliktabwehr die alten Familientraditionen und Familienbewältigungsstile (Leyer 1991).
Althammer und Kossolapow (1992) haben diese Phase als „Einstiegsphase“ gekennzeichnet, in der bei Kindern und Jugendlichen psychosoziale Irritationen aufgrund mangelnder Angepasstheit entstehen. Sie leben eher retrospektiv als prospektiv und die Grenze zwischen Wunsch und Wirklichkeit verschwimmt.
Die positive Einstellung, die in den ersten inhaltlichen und persönlichen Begegnungen mit dem Aufnahmeland und dessen Kultur stattfindet, besteht aus persönlichen Vorstellungen und Wünschen der jugendlichen Spätaussiedler. Die Stimmung kann von Neugier, Euphorie und Überidealisierung beeinflusst sein, obwohl es mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Dabei ist aber die Erreichung eigener Ziele zum Beispiel Übersiedlung am wichtigsten (Baune 2004).
Die Ankunft bedeutet für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene eine gewaltige Umstellung auf „die neue Zukunft“. Es heißt, dass sie Ordnungen und Gesetzen folgen sollen, die sie nicht kennen. Die Gesellschaft reagiert auf russischsprachige Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund meist ablehnend oder teilnahmslos, so dass für sie diese Haltung der Gesellschaft eine physische und psychische Belastung ist. Es gibt irgendwann eine Entladung, weil kein Mensch sich ständig in seiner Ehre oder in seinem Persönlichkeitsbild angreifen lassen kann (Funke 1986). Kinder und Jugendliche erleben in dieser Phase den Zustand des so genannten „Kulturschocks“, der mit dem Verlust alter Bindungen und mit dem Nichtbescheidwissen in der neuen Welt verbunden ist und krankhafte, psychosomatische Erscheinungen mit Misstrauen, Angst und Depression auslösen kann (Branik 1982).
Phase der Dekompensation.
Eine stürmische Periode erleben die jugendlichen russischsprachigen Migranten in der Phase der Dekompensation (Leyer 1991). Diese bewegte Phase ist mit Konflikten, Symptomen und Problemen besonders belastet, weil migrierte Kinder und Jugendliche aus der ehemaligen Sowjetunion eine neue Realität gestalten sowohl wie auch die Anpassungsfähigkeiten an die neue Umwelt erhalten müssen (Sluzki 2001). Baune (2004) bezeichnet diese Phase als einen psychologischen Migrationsprozess, in dem die Anpassung an neue kulturelle Werte gleichzeitig eine kritische Auseinandersetzung mit kulturellen Werten der eigenen Kultur bewirkt. Die Aufgabe von Kindern und Jugendlichen in dieser Phase besteht darin, sich an neue Lebensverhältnisse anzupassen, ohne ihre eigene Identität völlig zu verlieren. Leyer (1991) erwähnt ein weises Zitat von dem französischen Philosoph Diderot. Er schrieb: „Man ziehe den Rock des Landes an, das man besucht, und bewahre den Rock des Landes, aus dem man stammt“ (Leyer 1991).
Die Auswirkung auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wird durch Krisen in der Familie, Unsicherheit in der Gesellschaft, erste Enttäuschungen und Frustrationen in dieser Phase verschärft.
Phase der generationsübergreifenden Anpassungsprozesse.
Die Phase wird nach Sluzkis Modell in Form eines Generationskonflikts dargestellt. Obwohl Erwachsene den Anpassungsprozess verzögern, pflegen Kinder und Jugendliche aktiv ihre Kontakte zur Außenwelt im Aufnahmeland. Aus diesem Grund entstehen heftige Konflikte mit den Eltern, die alte Werte, Sitten und Normen in Zweifeln stellen (Sluzki 2001). Die psychische Belastung wird in dieser Phase bei den Kindern und Jugendlichen besonders erhöht, weil sie unter dem gesellschaftlichen und familiären Druck stehen.
Die Mehrzahl jugendlicher Spätaussiedler lebt in Deutschland unter schlechten sozioökonomischen Bedingungen. Sie befinden sich häufiger in „schlechten“ Stadtvierteln und Wohnungen (Colijn 2001). Manchmal müssen sie über ein Jahr zu viert oder zu sechst in einem Zimmer des Übergangswohnheims leben und die Küche und die sanitären Anlagen mit anderen zwei Familien teilen. Die Kinder haben keine adäquaten Bedingungen, sich positiv auf neue Gesellschaft einzurichten. Es wird dabei mehr Frustration und Aggression erzeugt (Branik 1982).
Es gibt für Kinder und Jugendliche kaum noch Betreuungsmöglichkeiten. Viele kleine Kinder sind sich selbst überlassen, wenn die Eltern Sprachkurse besuchen oder einer Arbeitstätigkeit nachgehen (Dietz und Holzapfel 1999).
Wenn Kinder zu früh Verantwortung übernehmen und nicht die mütterliche oder väterliche Hilfe und Unterstützung erhalten, dann kann es zu einer Überforderung des psychischen Gesundheitszustands führen. In den Spätaussiedlerfamilien erwarten die Eltern von den Kindern höchste Anstrengungsbereitschaft, weil die Eltern sich die Mühe geben, die finanzielle Lage der Familie zu verbessern und neu aufzubauen (Hurrelmann und Bründel 1996). Die Eltern sind dabei überlastet, weil sie die Erwartungen an ein traditionelles Familienleben und die Erfüllung der primären Migrationsmotivation (finanzielle Besserstellung der Familie) nicht in Einklang bringen können (Wiederkehr 1986).Die angespannte familiäre Finanzlage von Spätaussiedlerfamilie führt dazu, dass sie sich zahlreiche Konsumgüter nur durch Billigangebote oder Kreditfinanzierung leisten können. Für die Kinder ist dabei besonders enttäuschend, wenn sie am Konsumparadies Deutschland (Markenkleidung, Spielzeuge) nur wenig teilhaben können, obwohl nicht wenige Eltern und Großeltern diese Anreize für die Ausreise in Aussicht gestellt haben (Dietz und Holzapfel 1999). Jugendliche Spätaussiedler und ihre Familien sind sehr häufig von Sozialhilfeleistungen abhängig, sie aber ihre finanzielle familiäre Situation jedoch eher als gut oder als weder gut noch schlecht einschätzen (Herwatz-Emdem und Westphal, URL: www.philso.uni-augsburg.de). Weil die Eltern in der Regel einen geringen Zugang zu ökonomischen Erfolgen haben, ist die ganze Familie sozial häufig marginalisiert. Kinder und Jugendliche leben oft in instabilen Familienverhältnissen. Die schlechte finanzielle Lage führt dazu, dass sie sich nicht gesund ernähren (Weiss 2003). Sie verbringen ihre Kindheit in einem unteren Sozialniveau der Gesellschaft, in dem sie sich nicht unbedingt befinden wollen.
Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist entscheidend für den Aufbau und den Erhalt einer stabilen Gesellschaft. Migration, geänderte Beschäftigungsaussichten, geänderte Familienmuster und eine Belastung durch familiäre Konflikte sind die kritischen Lebensereignisse, die sich auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auswirken. Wenn es in der Gesellschaft die Anwesenheit „gefährdeter“ oder manifest gestörter Kinder und Jugendlicher gibt, führt es zu destabilisierenden Bedingungen für die Gesellschaft insgesamt (ohne Autor, URL: www.euro.who.int).
In dem Modell über die wichtigsten Einflüsse auf die Gesundheit im Jugendalter (Siehe Abb. 5) kann man erkennen, dass man Lebensereignisse und Dauerbelastungen als normativ und non-normativ unterscheidet. Unter normativen Belastungen, die sich aus gesellschaftlichen Anforderungen und Normen oder aus allgemeinen Entwicklungsbedingungen ergeben, lebt der überwiegende Teil der Jugendlichen. Um sich positiv im Jugendalter zu entwickeln, muss ein Individuum folgende Entwicklungsaufgaben bewältigen:
- „Akzeptieren der eigenen körperlichen Veränderungen,
- Übernahme der männlichen/weiblichen Geschlechtsrolle,
- Emotionale Unabhängigkeit und Ablösung von den Eltern,
- Aufbau und Gestaltung von Peer-Beziehungen,
- Umgang mit sexuellen Bedürfnissen,
- Entwicklung eigener Werte und eines persönlichen ethischen Systems,
- Vorbereitung zum Beruf,
- Vorbereitung auf Ehe und Familienleben“ (Faltermeier zitiert nach Oerter et al. 2005, S.249).
Identität ist für Jugendliche das zentrale Entwicklungsthema, weil sie für sich herausfinden müssen, wer sie sind und wie sie sein wollen. Eine Reihe von psychischen Belastungen ergibt sich aus den Entwicklungsaufgaben. Da die körperlichen Veränderungen wie zum Beispiel körperliche Reifung, Körperwachstum, sexuelle Reife in der Pubertät bei den Jugendlichen deutlicher sind, werden sie ohne Erfahrung dadurch verunsichert, so dass es zu psychischen Belastungen führt (Faltermeier 2005).
Abbildung 5. Die wichtigsten Einflüsse auf die Gesundheit im Jugendalter
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: modifiziert nach Faltermeier 2005, S.248.
Durch die Zufriedenheit mit dem eigenen Körper und die wahrgenommene körperliche Attraktivität für andere verändert sich das Körperkonzept für Jugendliche, vor allem für Mädchen. Wenn weibliche Jugendliche mit ihrem Körper unzufrieden sind und ein negatives Körperselbstbild haben, dann können sich ein geringes Selbstwertgefühl und depressive Symptome ergeben. Die zunehmende Orientierung von Jugendlichen an Gleichaltrigen („Peers“) bringt einen sozialen Druck, in dem sie ihre Werte und Einstellungen, Verhaltensweise, Kleidungsstile, sprachliche Ausdrücke und Redewendungen vergleichen, messen und übernehmen. Wenn Jugendliche den sozialen Erwartungen nicht gerecht werden und bei sozialen Abweichungen Sanktionen z.B. Ausgrenzungen erfolgen, dann kann dieser soziale Einfluss zu psychischen Belastungen führen. Aus dem Erproben von Partnerschaften, aus den ersten sexuellen Erfahrungen und dem Sich- Einlassen auf ein tiefes emotionales Erleben, die wichtige und notwendige Beiträge zu Entwicklung von Jugendlichen darstellen, können psychische Belastungen entstehen (Faltermeier 2005).
Eine andere Quelle von Stress im Jugendalter, die sich aus den Anforderungen in den zentralen Lebensbereichen Schule, Familie und Ausbildung/Beruf ergeben, stellen psychische Belastungen dar. Für die meisten Jugendlichen müssen Anforderungen in der Schule oder beruflichen Ausbildung nicht als belastend erlebt werden. Der andauernde Leistungsdruck und häufige Prüfungssituationen im schulischen Bereich, die sich aber unter bestimmten Bedingungen deutlich verschärfen, können eher als normative psychische Belastungen verstanden werden. Für Jugendliche, wenn sie außergewöhnliche Lebensereignisse oder Dauerkonflikte in der Familie erleben, entstehen non-normative Belastungen, obwohl die Probleme bei der Ablösung von den Eltern und daraus resultierende soziale Konflikte in gewissem Maße als normativ gewertet werden müssen. Da viele Belastungssituationen für Jugendlichen noch so neu sind, sind angemessene Bewältigungskompetenzen und notwendige personale Ressourcen vielfach noch nicht verfügbar. Aufgrund mangelnder Bewältigungskompetenz neigen viele Jugendliche zur Flucht in Drogen, Alkohol, Medikamenten und zum Schwänzen der Schule, die kurzfristig einen Spannungsabbau ermöglichen, aber zu keiner Lösung führen (Faltermeier 2005).
Wenn man die Frage stellt, ob Kinder und Jugendliche heute in Deutschland psychisch kränker oder verhaltensauffälliger sind als vor 10 oder 20 Jahren, kann diese Frage nicht beantwortet werden, weil keine methodisch vergleichbaren Studien zur Verfügung stehen. Aber eine Vorstellung über psychische Erkrankungen und Symptome bei Kindern und Jugendlichen kann man durch mehrere Untersuchungen bekommen, die in dem Bereich durchgeführt worden sind (Schubert et al. 2004). Experten gehen davon aus, dass 8 bis 15 % der Kinder und Jugendlichen mit Arztkontakt eine Diagnose aus dem Spektrum der psychischen Störungen erhielten (Schubert et al. zitiert nach Remschmidt 2004, 124). Angststörungen, Depressionen, Zwänge, posttraumatische Belastungssymptome zählen zu den häufigsten emotionalen Störungen bei Kindern und Jugendlichen, obwohl diese Symptome im Kindesalter sehr schwer zu diagnostizieren und zu klassifizieren sind (Schubert et al. 2004). Eine PAK-KID Untersuchung zeigt eine Prävalenz der Angst/Depression von 12 % bei den 4 bis 10 Jahre alten Jungen, und von 8,6 % bei den Mädchen in dieser Altersklasse, und von 13 % bis 13,6 % bei den Mädchen und Jungen im Alter von 11 bis 18 Jahren (Schubert et al. zitiert nach Plück 2004, S. 131). Nach Aussage der Eltern in der PAK-KID Untersuchung haben 0,6 % der Jungen und Mädchen Selbstmordversuche unternommen (Schubert et al. zitiert nach Lehmkuhl 2004, S. 131). In der Altersgruppe der 15 bis 24 Jährigen sind Suizide nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache (Schubert et al. 2004). Im Urteil der Eltern werden in der PAK-KID Studie die Symptome Unruhe, Aufmerksamkeitsstörung und Impulsivität bei 3 % bis 10 % der Kinder im Alter von 4 bis 10 Jahren als deutlich vorhanden eingeschätzt (Schubert et al. zitiert nach Döpfner, S. 134).
Prävention von psychischen Störungen ist ein Schlüsselelement, das nicht nur Kosten spart, sondern auch im Interesse des Kindes, der Familie und der Gesellschaft liegt. Wenn die finanzielle und gesetzgeberische Unterstützung von Präventionsprogrammen für Kinder und Jugendlichen nicht geschieht, dann wird die Gesellschaft von den Konsequenzen der unbehandelten psychischen Störungen getroffen. Es passiert so bald, wenn sie das Erwachsenenalter erreicht haben (ohne Autor, URL: www.euro.who.int).
Verschiedene Aussagen aus Literaturquellen lassen feststellen, dass die Anfälligkeit und das Erkrankungsrisiko für psychische Krankheiten bei russischsprachigen Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund generell größer sind als bei deutschen Kindern. Baune (2004) behauptet, dass Zahlen zur Inzidenz psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen mit der Dauer des Aufenthaltes im Verlauf erfolgter Migration nicht abnimmt, sondern zunimmt. Es heißt, dass nach dem ersten Jahr der Migration die Inzidenz 13 % und nach 2-5 Jahren die Inzidenz 25 % der psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen ist. Nach über 10 Jahren des Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland steigt die Inzidenz psychischer Störungen auf 37 % (Baune 2004). Es bedeutet, je länger Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland wohnen, desto größer ist die Auffälligkeit zu den psychischen Erkrankungen, die durch permanente Stress- und Belastungssituationen im Migrationsprozess entstehen. Morten (1986) bestätigt, dass der Großteil der psychosomatischen Symptome, der offenbar von sozioökonomischen und kulturellen Faktoren beeinflusst wird, nach einem Jahr des Aufenthaltes im Aufnahmeland deutlich ist.
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