Masterarbeit, 2020
56 Seiten, Note: 1,3
Tabellen
Abbildungen
1 Einleitung
2 Variabilität motorischer Bewegung
3 Gangvariabilität – theoretischer Hintergrund
3.1 Aktueller Forschungsstand
3.1.1 Altersabhängigkeit der Gangvariabilität
3.1.2 Zusammenhang von Gangvariabilität mit ausgewählten Krankheitsbildern
3.1.3 Zusammenhang von Gangvariabilität und Sturzrisiko
3.2 Interventionen bei erhöhter der Gangvariabilität
3.3 Maße zur Operationalisierung von Gangvariabilität
4 Untersuchung
4.1 Untersuchungsablauf
4.2 Probanden
4.3 Datenerfassung
4.3.1 Apparative Voraussetzungen
4.3.2 Vorgehen am Untersuchungstag
4.4 Datenverarbeitung
4.5 Statistik
4.6 Untersuchungsergebnisse
5 Diskussion
6 Zusammenfassung
Literatur
Eine erhöhte Gangvariabilität korreliert mit einer Instabilität und Unregelmäßigkeit des Gangmusters, was beispielsweise bei älteren Menschen zu folgeschweren Stürzen führen kann. Zahlreiche Untersuchungen versuchten bereits die Mechanismen der Entstehung von Schrittfluktuationen auf vielen Ebenen zu eruieren und Strategien zur Reduzierung von Gangvariabilität zu entwickeln.
Gangvariabilität gibt an, wie sich einzelne Schritte einer Person voneinander unterscheiden. Mit Hilfe von instrumentellen Ganguntersuchungsverfahren können vielfältige Parameter des Gangbildes aufgezeichnet und analysiert werden. Neben räumlich-zeitlichen ist es dank moderner Methoden möglich, u. a. kinetische und kinematische Informationen über die Lokomotion zu generieren. Gangparameter sind nie konstant, sondern fluktuieren im Rahmen des zyklischen Bewegungsablaufs. Das Ausmaß dieser Fluktuationen kann verschiedene Anhaltspunkte über die Gangfunktion einer Person liefern. Je nach Ursache, auf der eine erhöhte Variabilität von Gangparametern basiert, können Schrittfluktuationen einerseits Zeichen einer intakten Adaptationsfähigkeit des sensomotorischen Systems an externe Pertubationen beim Gehen sein. Andererseits können sie aber auch auf neurologische, cerebrale oder orthopädische Erkrankungen hindeuten. In diesen Fällen wird die Gangvariabilität genutzt, um Diagnoseverfahren zu unterstützen oder therapeutische Interventionen zu evaluieren.
Bislang wurde in der Forschung der Gangvariabilität überwiegend auf räumlich-zeitliche Parameter zurückgegriffen. Zwar wurden Gelenkwinkelverläufe beim Gehen in vielen Zusammenhängen thematisiert, jedoch wurde selten auf deren Fluktuationen eingegangen. Dabei erscheint es sinnvoll, Gangvariabilität auch aus dieser kinematischen Perspektive zu betrachten. Durch die Analyse der Veränderlichkeit von Gelenkwinkelverläufen von einem Schritt zum nächsten kann das Gangbild hinsichtlich Stabilität und Kontinuität bewertet werden.
Mit welchen Maßnahmen die Variabilität der Gelenkwinkel beim Gehen entscheidend verbessert werden kann, ist bislang wenig erforscht. Exergaming als eine moderne Trainingsmethode, bei der physische und kognitive Fähigkeiten mit Hilfe von spezifischen Videospielen gleichermaßen verbessert werden können, stellt einen Ansatz dar, die das aufgrund ihrer vielseitigen Einsatzbarkeit leisten kann.
In diesem Zusammenhang wurde eine Untersuchung konzipiert, welche die Effekte von Exergaming auf die Regelmäßigkeit der Gelenkwinkel beim Gang überprüfen sollte. Die Forschungsfrage lautete: Führt eine sechswöchige Exergame-Trainingsintervention zu einer Verbesserung der Gelenkwinkelvariabilität beim Gehen?
An der Untersuchung nahmen 28 Probanden im Alter über 60 Jahren teil, die zufällig einer jeweils identisch großen Kontroll- und Trainingsgruppe zugeordnet wurden. Die Testpersonen beider Gruppen absolvierten insgesamt jeweils zwei markerbasierte instrumentelle Ganguntersuchungen, bei denen die Gelenkwinkelverläufe der unteren Extremität (Becken, Hüfte, Knie, Fuß) aus jeweils zwei Ebenen aufgezeichnet wurden (Sagittal- und Frontal- bzw. Transversalebene). Die Datenerfassung fand im Ganglabor der Sportwissenschaftlichen Fakultät Leipzig statt, welches mit dem Ganganalysesystem der Firma Qualisys ausgestattet ist. Zunächst wurde bei beiden Gruppen eine Baselinemessung durchgeführt. Alle Probanden der Trainingsgruppe nahmen anschließend an einer sechswöchigen Exergame-Bewegungsintervention teil, die auf die Fähigkeitskomplexe Kraft, Ausdauer, Koordination und Kognition ausgerichtet war. Erst nach Beendigung der Intervention wurde bei den Probanden beider Gruppen die zweite Messung durchgeführt.
Es wurde aus den je 14 Probanden für Kontroll- und Trainingsgruppe der Gruppenmittelwert der Gelenkwinkelvariabilität über den Gangzyklus (0% - 100%) berechnet. Die Gelenkwinkelvariabilität wurde operationalisiert als die Standardabweichung der Gelenkwinkel.
Folgende Hypothesen wurden formuliert:
1) Die Gelenkwinkelvariabilität der Kontroll- und Trainingsgruppe unterscheidet sich in der Baselinemessung nicht voneinander.
2) Die Gelenkwinkelvariabilität der Kontrollgruppe bleibt bei der zweiten Messung auf identischem Niveau wie zur Baselinemessung, da mit ihr kein spezifisches Trainingsprogramm durchgeführt wurde.
3) Durch die Exergame-Trainingsintervention kann die Trainingsgruppe ihre Gelenkwinkelvariabilität verbessern.
4) Die Gelenkwinkelvariabilität der Kontroll- und Trainingsgruppe unterscheidet sich in der zweiten Messung, in Folge der Verbesserung der Trainingsgruppe, signifikant voneinander.
Die Messdaten wurden in Microsoft Excel verarbeitet und anschließend mit deskriptiven und inferenzstatistischen Methoden in IBM SPSS Statistics ausgewertet. Um die Gelenkwinkelvariabilität der Gruppen untereinander zu vergleichen wurden F-Tests und Levene-Tests durchgeführt. Gepaarte t-Tests wurden angewandt, um die Gelenkwinkelfluktuationen einer Gruppe zwischen den Messungen zu vergleichen. Als Effektstärkemaß wurde jeweils Cohen’s d berechnet.
Es konnte festgestellt werden, dass sich die Gelenkwinkelvariabilität von Kontroll- und Trainingsgruppe bereits zur Baselinemessung signifikant unterscheiden. Die Trainingsgruppe verbesserte ihre Gelenkwinkelvariabilität beim Gehen nicht, sondern verschlechterte sich sogar in allen acht betrachteten Segmenten signifikant. Die Kontrollgruppe zeigte bei erster und zweiter Messung kein identisches Niveau in der Gelenkwinkelvariabilität. Jedoch ist nicht zu generalisieren, ob eine Verbesserung oder Verschlechterung zu verzeichnen war, da die Ergebnisse in den acht betrachteten Segmenten stark variierten. Aufgrund der deutlichen Erhöhung der Gelenkwinkelfluktuationen bei der Trainingsgruppe, konnte zur zweiten Messung nicht von einem signifikanten Unterschied zwischen den Gruppen in Folge eines positiven Trainingseffekts gesprochen werden.
Das Ergebnis der Studie muss kritisch betrachtet werden. Es ist nicht davon auszugehen, dass eine Exergame-Interventenion einen negativen Einfluss auf die Gelenkwinkelvariabilität über den Gangzyklus ausübt. Sowohl für Bewegungsinterventionen allgemein als auch für Exergaming speziell konnten empirisch bereits positive Effekte auf die Gangfunktion festgestellt werden. Im Rahmen zukünftiger Untersuchungen bezüglich dieser Thematik sollte die Interventionsdauer verlängert werden und eine andere Kohorte als Testpersonen ausgewählt werden.
Tab. 1: Zusammengefasste Ergebnisse der Studie von Beauchet
Tab. 2: Differenzierung der Verfahren zur Operationalisierung von Variabilität.
Tab. 3: Tabellarischer Untersuchungsablauf für die Probanden der Kontroll- und Trainingsgruppe
Tab. 4: Gruppen- und Altersstruktur der Untersuchung
Tab. 5: Untersuchte Bewegungs- und Haltungsmuster bei der Ganguntersuchung
Tab. 6: Aus zehn Gangzyklen zusammengefasstes Gangbild von Proband
Tab. 7: Mittlere Gelenkwinkelvariabilität über den Gangzyklus der Kontroll- und Trainingsgruppe zu beiden Messstermin
Tab. 8: Vergleich der Gelenkwinkelvariabilität zwischen Kontroll- und Untersuchungsgruppe zum ersten Messtermin mittels F-Test, Levene-Test und Cohen‘s d
Tab. 9: Vergleich der Gelenkwinkelvariabilität der Kontrollgruppe zwischen erstem Und zweitem Messtermin
Tab. 10: Vergleich der Gelenkwinkelvariabilität der Trainingsgruppe zum ersten und zweitem Messtermin
Tab. 11: Vergleich der Gelenkwinkelvariabilität zwischen Kontroll- und Untersuchungsgruppe zum zweiten Messtermin mittels F-Test, Levene-Test und Cohen‘s d
Tab. 12: Mittlere Gelenkwinkelvariabilität der unteren Extremität
Abb. 1: Prävalenz von Sturzereignissen unterschiedlicher Altersgruppen innerhalb von zwei Jahren
Abb. 2: Schematischer Aufbau eines Messplatzes zur instrumentellen Ganguntersuchung
Abb. 3: Passiv reflektierender Marker der Firma Qualisys
Abb. 4: Markerapplikation und -zuordnung nach dem CAST-Unterkörpermodell
Abb. 5: Ablauf des Gangzyklus
Abb. 6: Phasen im Verlauf eines Gangzyklus
Aus heutiger Sicht ist die Herausbildung des aufrechten Gangs wohl eine der wichtigsten Leistungen der Evolution. Für den Menschen ist er die die natürliche und alltägliche Form der Fortbewegung. Für wie selbstverständlich diese Funktion gehalten wird, erkannt beispielsweise, wenn man in der Literatur nach einer einheitlichen Definition sucht. Nur sehr selten findet man eine präzise Angabe darüber, was Gehen exakt bedeutet.
Im Geleitwort von Götz-Neumanns (2003) Buch „Gehen verstehen“ beschreibt Jacquelin Perry, eine Pionierin der Ganganalyse, das Gehen als „ein komplexes Zusammenspiel von Bewegungen der Gelenke die es einem Menschen ermöglichen, sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit in eine von ihm gewählte Richtung zu bewegen“. Dabei werden die unteren Extremitäten abwechselt be- und entlastet. Ein Fuß schwingt nach vorne, während der andere zur posturalen Stabilisierung Bodenkontakt hält. Dieser Vorgang klingt banal, ist er doch im Erwachsenenalter weitestgehend automatisiert. Jedoch steckt dahinter der komplexe Prozess der Koordination verschiedener Systeme des Körpers. Neben muskuloskelettalem, zentralnervösem, kardiovaskulärem und sensomotorischem sind noch unzählige weitere Einheiten an der Realisierung der zyklischen Gangbewegung beteiligt (vgl. Socie & Sosnoff, 2013a).
Ein Erwachsener geht täglich ca. 5.000 bis 15.000 Schritte, abhängig u. a. von Alter, Gesundheitszustand, beruflicher Tätigkeit und Aktivitätslevel. Dies entspricht jährlich etwa zwei bis fünf Millionen Schritten (vgl. Kirtley, 2006). Hält man sich diese Zahlen vor Augen, zeigt sich die Relevanz eines gesunden Gangbildes. Häufig wird die Wichtigkeit dieser Körperfunktion erst dann deutlich, wenn der Gang beeinträchtigt ist. Bei zahlreichen Erkrankungen versuchen Menschen durch verschiedenste Mechanismen, wie beispielsweise Humpeln oder Hinken, Einschränkungen zu kompensieren und die Gangfunktion so lange wie nur möglich aufrechtzuerhalten. Dafür nehmen sie auch aus Ausweichbewegungen oder Schonhaltungen resultierende Schmerzen bzw. sogar langfristige Schäden in Kauf.
Um ausfindig zu machen, wie ein gesundes Gangmuster aussieht, wird in der Wissenschaft versucht den normgerechten Gang vom pathologischen Gang durch quantitative und qualitative Merkmale zu unterscheiden. Da jedoch das Gangbild des Menschen in seiner Erscheinung sehr individuell und abhängig von körperlichen Dispositionen, Verhaltensweisen, Umwelt und Sozialisation ist, fällt diese Differenzierung schwer.
Nichtsdestotrotz konnten durch die Forschung bereits wichtige Erkenntnisse bezüglich des gesunden und pathologischen Gehens geliefert werden. Vor allem mit dem Einzug von computergestützten Ganguntersuchungen konnte die Lokomotion noch detaillierter analysiert werden. Dabei stellten sich verschiedene, allen voran klinisch relevante, Parameter heraus. Zu denen zählt auch die Gangvariabilität, welche die Unterschiedlichkeit zwischen einzelnen Schritten innerhalb eines Gangbildes beschreibt. Man kann elektromyographische, räumlich-zeitliche, kinetische und kinematische Daten des Gangs hinsichtlich ihrer Variabilität untersuchen. Diese verschiedenen Teilgebiete sind jedoch nicht unabhängig voneinander, sondern stehen beim Gehen in einem direkten Beziehungsgefüge. Beispielsweise korreliert die räumliche Variabilität der Lokomotion, welche mit Fluktuationen in der Fußsetzung gleichgesetzt werden kann, immer mit einer Adjustierung der Gelenkwinkel (vgl. Qiao, 2009). Gelenkwinkel und deren Fluktuationen gehört zum Teilgebiet der Kinematik. Durch ihre Betrachtung kann das Gangbild auf Stabilität und Effizienz untersucht werden.
Zahlreiche Krankheiten sind mit einer Erhöhung der Gangvariabilität assoziiert. Gangvariabilität ist ein Marker für die Regelmäßigkeit, Balance und Kontinuität des Gangs. Die gesellschaftliche Relevanz besteht durch die Korrelation mit dem Sturzrisiko. Fluktuieren Gangparameter stark, so sind Stürze wahrscheinlicher. Diese können insbesondere bei alten Personen schwerwiegende Folgen nach sich ziehen. Stürze sind u. a mit folgender Immobilität assoziiert. Mobilität, also die Funktion eigenständig, zumindest kleine Strecken, gehen zu können ist die Grundlage eines autonomen Lebens mit sozialer Teilhabe. Kann dieses nicht mehr gewährleistet werden, können Komorbiditäten wie psychische Leiden sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und körperliche Beschwerden in Folge der Inaktivität daraus resultieren (vgl. Sliwka, 2017). Schlussfolgernd sollten bei Anzeichen einer erhöhten Gangvariabilität Maßnahmen ergriffen werden, die dazu beitragen das Gangbild zu stabilisieren und rhythmisieren. Methoden, die diese Ziele erreichen wollen, sind zahlreich erforscht worden. Zumeist handelt es sich um bewegungstherapeutische Inhalte. Eine moderne Form davon sind Exergames. Dies sind Videospiele, in denen kognitive und körperliche Attribute gleichermaßen trainiert werden. Während der Trend der Technologisierung und Medialisierung in medizinischem Kontext aufgrund der dadurch weiter sinkenden Alltagsaktivität eher negativ konnotiert ist, können damit auch positive Aspekte in diesen Entwicklungen gefunden werden.
Im Rahmen dieser Arbeit wurde eine Untersuchung durchgeführt, die den Einfluss einer Exergame-Bewegungsintervention auf die Gelenkwinkelvariabilität während des Gangzyklus bei Personen im Alter über 60 Jahren evaluieren sollte. Die vorliegende Arbeit folgt folgender inhaltlicher Struktur:
Zunächst werden theoretische Grundlagen zur Entstehung von Variabilität in motorischen Systemen erörtert. Anschließend soll das Konstrukt Gangvariabilität erschlossen werden. Dabei werden eine Begriffsabgrenzung, Entstehungsursachen und Formen von Schrittfluktuationen dargelegt. Danach wird der aktuelle Forschungsstand beleuchtet, insbesondere die Korrelation von Gangvariabilität mit steigendem Alter und einer erhöhten Sturzgefahr sowie der Zusammenhang zu spezifischen Erkrankungen. Auch Interventionsmöglichkeiten, um die individuelle Gangvariabilität zu verbessern, werden thematisiert. Abgeschlossen wird die theoretische Themenerschließung mit den statistischen Grundlagen, wie Schrittfluktuationen messbar und auswertbar gemacht werden können. Nachfolgend wird die Untersuchungsmethodik erörtert. Dabei werden zunächst der Ablauf und die Struktur der Probandengruppen skizziert, ehe sich die detaillierte Beschreibung von Datenerhebung, Datenverarbeitung, statistischer Analyse und Datenauswertung sowie die Darlegung der Ergebnisse anschließen. Anschließend sollen die Ergebnisse kritisch betrachtet und eingeordnet werden. Abschließend soll die Arbeit zusammengefasst und ein Ausblick auf zukünftige Forschungen der Thematik geliefert werden.
„Variability is inherent within and between all biological systems.” (Newell & Corcos, 1993, S. 1).
Führt man eine zielgerichtete Bewegung wieder und wieder aus, so tut man dies immer auf eine andere Art und Weise. Schon für das Führen einer Tasse zum Mund gibt es zahlreiche realisierbare Bewegungskombination. Um die, an der Lösung von motorischen Aufgaben beteiligten sensomotorischen Einheiten in eine Synergie zu bringen, gibt es vielfältige Möglichkeiten. Wird die Tasse beispielsweise bei mehreren Versuchen in verschiedenen Armpositionen nach oben geführt, so ist es leicht zu erkennen, dass sich die Bewegungsausführungen unterscheiden. Sind die Bewegungen für den Beobachter jedoch per se identisch, so ist es nötig, die Aktion aus einer Mikroperspektive zu beleuchten, um zu erkennen, dass sich Komponenten der Bewegung dennoch unterscheiden. Hier müssen endogene physiologische Prozesse und externe Einflüsse untersucht werden, um Erkenntnisse über Prozesse des Bewegungsablaufs zu sammeln (vgl. Newell & Corcos, 1993).
Der Physiologe und Biomechaniker Nikolai Alexandrowitsch Bernstein prägte das Konzept der Freiheitsgrade von Bewegungen, welches in engem Zusammenhang mit dem theoretischen Konstrukt der motorischen Redundanz steht. Das von ihm aufgezeigte Problem besteht darin, dass der menschliche Bewegungsapparat eine viel größere Anzahl von Gelenken und sie bewegende Muskeln besitzt, als es für das Bewältigen von bestimmten Bewegungsaufgaben notwendig ist. Bernstein führt dabei kinematische Freiheitsgrade (Gelenkstellungen) der vielschichtig miteinander verbundenen kinematischen Ketten, sowie elastische Freiheitsgrade (Muskeln) an, die durch fehlende Beziehungen zwischen dem Ausmaß an Muskelaktivität, ihrer Spannung, ihrer Länge und der Geschwindigkeit ihrer Längenänderung zustande kommen. Darüber hinaus bestehen zusätzliche Freiheitsgrade in neuronalen und molekularen Prozessen des Organismus (vgl. Bernstein, 1996; vgl. Semmler, 1999).
Freiheitsgrade stehen in diesem Zusammenhang dafür, dass es für eine spezifische motorische Aufgabe eine Vielzahl an Konfigurationen für die beteiligten Einheiten, die für die Bewegung verantwortlich sind, gibt. Es liegen demnach keine einheitlichen Mechanismen vor, in welcher exakten Zusammensetzung diese jeweils interagieren müssen, um eine motorische Aufgabe zu lösen. Freiheitsgrade ermöglichen dem sensomotorischen System daher eine teils freie Auswahl der Einheiten, die eine Bewegungen realisieren. Dies ist hilfreich, um Bewegungsaufgaben auch beim Vorliegen von internen oder externen Pertubationen lösen zu können (z. B. funktionelle Schädigung eines spezifischen Körpergelenks). Doch diese Freiheit besitzt der Körper auch dann, wenn keine Störeinflüsse vorliegen. Dann liegt die Aufgabe des sensomotorischen Systems in der Koordination und Kontrolle der Freiheitsgrade bei der Auswahl bestimmter Konfigurationen der beteiligten Einheiten. Zu beachten ist nämlich, dass nicht jede Konfiguration von Einheiten für eine Bewegung auch effizient ist. Die Aufgabe besteht dann darin, überflüssige Freiheitsgrade zu eliminieren, um motorische Handlungen ökonomisch zu gestalten, d.h. eine biomechanische Leistung mit geringstmöglichem biochemischen, physiologischen und mechanischem Energieaufwand zu erzielen (vgl. Birklbauer, 2006.; vgl. Schubert, 2013).
Variabilität kann also Folge der bestehenden Fülle an Freiheitsgraden interpretiert werden Der Begriff Variabilität wird sowohl als theoretisches Konstrukt, als auch für die Operationalisierung der dem Phänomen innewohnenden Größe benutzt (vgl. Newell et al., 1993).
Unter wissenschaftlicher Perspektive gleicht bei der aufrechten Fortbewegung des Menschen kein Schritt dem vorherigen. Dies ist ein immanentes Charakteristikum der Lokomotion und wird im Falle des Gehens als Gangvariabilität beschrieben (vgl. Socie et al., 2013a). Variabilität kann in diesem Zusammenhang als die dauerhafte Veränderung eines sich ständig wiederholenden Bewegungsmusters definiert werden (vgl. Antonellis, Galle, De Clercq & Malcolm, 2018). Folglich bezeichnet die Gangvariabilität also die Veränderungen beim zyklischen Bewegungsmusters des Gehens von Schritt zu Schritt. Die messbaren Parameter, die dabei fluktuieren können, sind sehr vielfältig. Zumeist werden räumlich-zeitliche, kinematische, kinetische und elektromyografische Daten herangezogen.
Das Studium der Gangvariabilität zielt, wie alle ganganalytischen Verfahren, grundsätzlich darauf ab, „das menschliche Gangbild und eventuell pathologische Abweichungen zu untersuchen und zu quantifizieren“ (Klöpfer-Krämer & Augat, 2015, S. 10). Schrittfluktuationen im Speziellen sind allen voran ein Marker von Stabilität und Regelmäßigkeit der Lokomotion. Ist die Gangvariabilität einer Person im Vergleich zu Referenzgruppen besonders hoch, können sich daraus einerseits Informationen über mögliche sensomotorische Defizite bzw. neurologische oder muskuloskelettale Erkrankungen des menschlichen Organismus ergeben. Andererseits kann sie aber auch darüber Aufschluss darüber geben, inwiefern und wie gut der Mensch dazu in der Lage ist, sein Gangverhalten an externe Umwelteinflüsse anzupassen. Somit dient die Analyse der Gangvariabilität der Evaluation einer intakten Gangfunktion, kann aber gleichzeitig auch genutzt werden, um die sensomotorische Adaptationsfähigkeit eines Menschen beim Gehen zu bewerten. Entscheidend ist die Klärung der Kausalität, wie eine erhöhte Variabilität im Einzelfall zustande kommt (vgl. Socie et al., 2013a). Blickt man undifferenziert auf die Daten eines Gangbildes, bei dem die Variabilität eines oder mehrerer Einzelparameter erhöht ist bzw. sind, so wird häufig unmittelbar ein voreiliger Zusammenhang mit dem Vorliegen von Erkrankungen und Einschränkungen hergestellt. Eine erhöhte Gangvariabilität ist jedoch nicht zwingend gleichbedeutend mit dem Vorliegen eines pathologischen Zustands. Daher scheint es notwendig, das Phänomen der Gangvariabilität aus verschiedenen Perspektiven zu erschließen.
Es ist zu konstatieren, dass es zwei Hauptursachen für das Zustandekommen einer gesteigerten Gangvariabilität geben kann. Man unterscheidet zwischen
a) pathologischer Gangvariabilität und
b) funktioneller Gangvariabilität.
Zweiteres kann synonym auch als situationsbedingte Adaptabilität der Lokomotion bezeichnet werden und ist im Gegensatz zur krankheits- oder altersassoziierten Gangvariabilität positiv konnotiert (vgl. Hamacher, Hamacher, Müller, Schega & Zech, 2017; vgl. Bootsma & van Wieringen, 1990).
Dass im Gang des Menschen gewisse Fluktuationen vollkommen normal und physiologisch sind, ist empirisch vielfach belegt (vgl. u. a. Antonellis et al., 2018). Sowohl räumlich-zeitliche als auch kinematische und kinetische Gangparameter sind nie konstant, sondern unterliegen im Gangverlauf einer ständigen Variabilität. Entscheidende Faktoren zur Beurteilung, welche Form der Variabilität vorliegt, sind immer das Ausmaß, mit welchem sich einzelne Schritte voneinander unterscheiden und unter welchen Bedingungen die Lokomotion stattfindet. Nur durch diese Differenzierungen lässt sich entscheiden, auf welcher Basis und aus welchem Grund erhöhte Fluktuationen zustande kommen.
Im Normalfall ist der Gang eines gesunden Menschen auf ebenem Untergrund rhythmisch und gleichmäßig. Trifft dies auf die Lokomotion einer Person zu, weist er sehr wahrscheinlich eine geringe Gangvariabilität auf. Diese ist dann physiologisch und deutet nicht auf pathologische Erscheinungen hin, weshalb sie als kaum relevant betrachtet werden kann (vgl. Antonellis et al., 2018; vgl. Hausdorff, 2005). Ändern sich jedoch externe Bedingungen, also geht der Mensch beispielweise auf unebenem Boden oder bei veränderten Lichtverhältnissen, so ist es zwingend notwendig den Gang an solche Pertubationen anzupassen. Er reduziert beispielweise kurzfristig seine Schrittlänge an offensichtliche Schlaglöcher auf dem Weg oder passt seine Gehgeschwindigkeit beim Übergang von Tageslicht in die Abenddämmerung nach unten hin an. Solche Anpassungen können für vielfältige Veränderungen von Gangparametern verantwortlich sein, und gehen unweigerlich mit einer Steigerung der Variabilität einher. Jedoch sind solche Fälle keineswegs als kritisch zu betrachten. Man kann hier im Gegenteil sogar von einer erfolgreichen Interaktion von sensoriellen und motorischen bzw. lokomotorischen Funktionssystemen sprechen, welche, durch notwendige Adaptation an extrinsische Einflüsse, Stürzen oder Verletzungen vorbeugt. Daher spricht man hier von funktioneller Gangvariabilität (vgl. Keloth et al., 2019; vgl. Schwarz, Trost & Wervey, 2004).
Fluktuieren Gangparamater jedoch sehr stark, obwohl externe Einflüsse unberücksichtigt bleiben können, beispielsweise beim Gehen im Labor unter konstanten Bedingungen, so liegen zumeist intrinsische Gründe vor (vgl. Callisaya et al, 2011). Diese deuten in der Regel auf neurologische, metabolische oder muskuloskelettale Einschränkungen hin und beziehen sich daher auf die pathologische Gangvariabilität. Diesbezügliche Zusammenhänge sollen in den nachfolgenden Abschnitten näher thematisiert werden.
Loosch (1999) führte noch einen weiteren, in der Literatur jedoch vergleichsweise selten behandelten, Grund an, der für eine gesteigerte Variabilität des Gangbilds sorgen kann: Zufällige und unbeabsichtigte Fehler bei der Realisation eines Bewegungsablaufs müssen durch Ausgleichmechanismen in nachfolgenden Bewegungen aufgefangen werden. Unweigerlich führen solche Kompensationen zu überdurchschnittlichen und signifikanten Veränderungen von Gangparametern. Daher wird diese Form auch als kompensatorische Gangvariabilität bezeichnet. Wie man diese wiederum bewertet, ist abhängig von der Häufigkeit, mit der solche Korrekturmechanismen im Gangverlauf greifen müssen. Kommen sie überdurchschnittlich häufig vor, können physiologische oder physische Defizite als Auslöser gelten. Dann könnte diese Form mit der pathologisch bedingten Gangvariabilität in Verbindung assoziiert werden. Allerdings sind etwaige, selten vorkommende Fehler in motorischen Abläufen auch bei Gesunden regelmäßig zu beobachten. Dementsprechend ist bei der Bewertung, wie auch bei den beiden anderen Hauptformen der Gangvariabilität, das Ausmaß und die Kausalität der Entstehung der Fluktuationen ausschlaggebend.
Betrachtet man die aktuelle Studienlage zur Thematik der Gangvariabilität, so fallen verschiedene bestehende Tendenzen auf.
Die Kohorten, die vorrangig hinsichtlich ihrer Gangvariabilität untersucht wurden, sind abhängig vom Alter und vom Gesundheitszustand. Der Schwerpunkt liegt auf der pathologischen Gangvariabilität. Schrittfluktuationen werden zur Evaluation von Interventionen sowie als Marker und zur Diagnoseunterstützung verschiedener Erkrankungen herangezogen. Darunter ist auch die Korrelation von gesteigerter Gangvariabilität mit erhöhtem Sturzrisiko einzuordnen, welche häufig erforscht wird. Auch die altersbedinge Plastizität der Gangvariabilität steht vielfach im Vordergrund. Diese Themen sollen im folgenden Kontext näher anhand einer durchgeführten Literaturrecherche beleuchtet werden. Dafür wurden vor allem die Recherchedatenbanken PubMed , Google Scholar sowie das Bibliotheksnetzwerk der Universität Leipzig genutzt.
Die Bedeutung der Gangvariabilität als aussagekräftiger Kennwert nahm erst im Laufe des aktuellen Jahrtausends zu. Da annährend alle biologischen Systeme in gewisser Form eine natürliche Variabilität aufweisen, wurden Schrittfluktuationen in der Vergangenheit als wenig Informationen liefernde Größen betrachtet. Heute ist die Gangvariabilität sowohl von großer wissenschaftlicher als auch praktischer Bedeutung (vgl. Hausdorff, 2005; vgl. Socie et al., 2013a).
Dafür ist vor allem auch die Implementierung und Etablierung moderner, computergestützter Ganganalyseverfahren in Medizin und Forschung verantwortlich. Waren früher Gangbilder nicht eindeutig von krankheitsbedingten Charakteristika gekennzeichnet, wie es z. B. bei Morbus Parkinson der Fall ist, so waren lokomotorische Auffälligkeiten sowie Unterschiede zwischen einzelnen Schritten kaum mit bloßem Auge wahrnehmbar, oder sie konnten nur von besonders erfahrenen Experten evaluiert werden. Verbindet man heute die subjektive Einschätzung des Gangbildes durch einen Fachmann mit der nun technisch ausgereiften instrumentellen Ganguntersuchungsmethodik, so kann eine vielschichtige Einschätzung der Gangfunktion vorgenommen werden (vgl. Fink & Resch, 2006). Durch markerbasierte Verfahren, die die Gelenkwinkel und -belastungen registrieren, sowie Kraft- und Druckmessplatten, die in zahlreichen Ganglaboren vorzufinden sind, ist es möglich ein sehr detailliertes Bild der Lokomotion zu quantifizieren und statistisch zu analysieren (vgl. Klöpfer-Krämer et al., 2015). Die Parameter, die daher hinsichtlich ihrer Variabilität untersucht werden können, sind von großem Umfang. Auffällig im Literaturstudium war, dass der größte Anteil bisheriger Untersuchungen bezüglich Schrittfluktuationen sich auf räumlich-zeitliche Gangvariablen fokussierte (u. a. Schrittlänge, Schrittdauer, Spurbreite, Gehgeschwindigkeit, Doppelstandphasendauer), während vergleichsweise seltener auf kinetische und kinematische Kenngrößen (z. B. Gelenkwinkelvariabilität) zurückgegriffen wurde.
Die Evolution des Gangbildes über den Lebenslauf ist ein vielfach thematisierter Untersuchungsgegenstand. Dementsprechend erscheint es auch angebracht, die altersabhängige Entwicklung der Gangvariabilität als wichtigem Balance- und Stabilitätsparameter der Lokomotion näher zu beleuchten. Ein Großteil der bisher durchgeführten Forschung zur Gangvariabilität wurde bei spezifischen Alterskohorten durchgeführt. Die überwiegende Mehrheit beschäftigte sich mit Personen im letzten Lebensdrittel. Während man auch für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene noch einige Beiträge finden kann, so liegen insbesondere für die Alterskohorte zwischen 30 und 60 Jahren weniger empirische Ergebnisse vor (vgl. Herssens et al., 2018; vgl. Agner, Bernet, Brülhart, Radlinger & Rogan, 2015).
Die Entwicklung und Reifung eines stabilen Gangmusters in der Kindheit und Jugend ist ein progressiver Prozess. Dieser hält bis in die adoleszente Lebensphase an. Kung, Fink, Legg, Alli & Shultz (2019) schlussfolgern in ihrer Vergleichsstudie, dass es mindestens bis zum 13. Lebensjahr andauert, ehe der Mensch ein ausgereiftes Gangbild etabliert, welches danach im Regelfall nur noch von insignifikanter Variabilität geprägt ist. In den ersten zehn Lebensjahren hingegen ist das Gangbild von stark fluktuierenden Gangparameter gekennzeichnet. Posturale Kontrollmechanismen sind in diesem Alter noch nicht genügend ausgeprägt, was beispielsweise in einer hohen Anzahl von Stürzen bei Kindern resultiert (vgl. Hussain & Hussain, 2017). Manicolo, Brotzmann, Hagmann von Arx, Grob & Weber (2019) berichten von ähnlichen Ergebnissen und unterstützen diese Annahmen. Zwar verbessern sich räumlich-zeitliche Parameter des Gangs im Kindesalter sukzessive (z. B. Erhöhung der Gehgeschwindigkeit und Verlängerung der Schrittlänge), die Variabilität bleibt aber bis zur Pubertät erhöht. Erst danach setzt eine zunehmende Automatisierung des Gangbildes ein, einhergehend mit einer Stabilisierung der Lokomotion und abnehmenden Schrittfluktuationen.
Mit Beginn der Pubertät und weiterführend im Erwachsenenalter erscheint der Gang insgesamt weitaus regelmäßiger als in der Kindheit und frühen Jugend. Das Gangbild ist im mittleren Lebensabschnitt weitestgehend automatisiert und wird vom Unterbewusstsein und somit von subkortikalen Hirnregionen gesteuert. Die für das Gehen benötigten Aufmerksamkeitsressourcen sind gering, womit die Konzentration weniger auf die individuelle posturale Kontrolle gelegt werden muss und sich daher auf die Wahrnehmung und Verarbeitung von Umwelteinflüssen verlagert. (vgl. Kressig & Beauchet, 2004).
Wie sich der Gang mit weiter zunehmendem Alter verändert, ist ein weitläufig erforschtes Phänomen. Da sich das muskuloskelettale System sowie das vegetative und zentrale Nervensystem und über die Lebensspanne verändern, unterliegt auch das Gangbild einer Transformation (vgl. Agner et al., 2015). Dass sich räumlich-zeitliche Gangparameter im Alter verändern, ist vielfach validiert. Statistisch gesehen nimmt die Gehgeschwindigkeit ab 60 Jahren in jeder Dekade um zwölf bis 16% ab (vgl. Gschwind & Bridenbaugh, 2011). Neben der Gehgeschwindigkeit verringert sich auch die Schrittlänge, die Schrittkadenz bleibt jedoch mit ca. 108 - 120 Schritten pro Minute konstant (vgl. Kressig et al., 2004; vgl. Perry, 2003).
Zum Thema, wie sich Gangvariabilitätsparameter über die Lebensspanne entwickeln, gibt es allerdings keine übereinstimmenden Ergebnisse. Herssens et al. (2018) bestätigen in ihrer Übersichtsarbeit zu räumlich-zeitlichen Gangparametern zwar, dass sich Kenngrößen wie Gehgeschwindigkeit und Gangzyklusdauer ändern. Dass die Schrittfluktuationen im Alter entscheidend zunehmen, kann jedoch nicht validiert werden. Andere Studienergebnisse hingehen gehen davon aus, dass die Gangvariabilität mit steigendem Alter eindeutig zunimmt (vgl. Lord, Howe, Greenland, Simpson & Rochester, 2011; vgl. Shin, Valentine, Evans & Sosnoff, 2011).
Insgesamt erscheint es schwierig, allgemeingültige Aussagen darüber zu formulieren, wie sich die Gangvariabilität bis ins hohe Alter entwickelt. Blickt man differenziert auch verschiedene Untersuchungen, so erscheint es durchaus möglich, dass neurologisch und physisch vollkommen gesunde ältere Personen, die sich in einem guten Gesamtzustand präsentieren, vergleichsweise geringe Schrittfluktuationen aufweisen. Gangvariabilitätsparameter können in einer ähnlichen Größenordnung wie bei gesunden jungen Erwachsenen liegen.
Auf der anderen Seite ist allerdings anzumerken, dass mit steigendem Alter auch die Prävalenz pathologischer Erscheinungen entscheidend ansteigt. Die im Jahr 2009 durchgeführte GEDA-Studie zeigt beispielsweise, dass bei 75,8 % der Frauen und 68,0 % der Männer in der Altersgruppe der 65- bis 74-Jährigen zwei und mehr gleichzeitig chronische Erkrankungen vorliegen (vgl. Saß et al., 2015). Zahlreiche gesundheitliche Einschränkungen, wie beispielsweise muskuloskelettale und neurologische Erkrankungen sind auch mit einer Erhöhung der Gangvariabilität assoziiert, was im nachfolgenden Kapitel näher eruiert werden soll. Insbesondere bei multimorbiden Personen ist davon auszugehen, dass die Gangfunktion restriktiv ist und Gangparameter stark streuen.
Die Unterschiede in den Studienergebnisse können also in verschiedenen Gesundheitszuständen der Probanden1 liegen. Andererseits sind auch die Untersuchungssettings zu berücksichtigen. Dabei ist dringend zwischen Gehen unter Laborbedingungen und Gehen in der natürlichen Umwelt zu unterscheiden, da, falls diesbezüglich keine Differenzierung gemacht wurde, große Unterschiede in den Ergebnissen verursacht werden.
Unter Laborbedingungen durchgeführte Ganguntersuchungen von Beauchet et al. (2003), bei denen die Gangvariabilität junger und alter Personen unter Single-Task- und Dual-Task-Bedingungen verglichen wurden, zeigen vielschichtig interpretierbare Ergebnisse. Zum einen spiegeln sich die im letzten Abschnitt dargelegten Tendenzen wieder. Die Schrittlängenvariabilität der als gesund eingestuften alten und jungen Personen unterscheidet sich bereits beim Gehen ohne Pertubationen. Das spricht dafür, dass in hohem Alter verschiedene Einschränkungen die Gangfunktion, wenn auch nur in geringem Maße, limitieren. Die Variabilitätsunterschiede unter der Dual-Task-Bedingung, welche als Gehen und gleichzeitigem Rückwärtszählen definiert wurde, zeigen, welche hohen kognitiven Anforderungen das Gehen im Alter an den Menschen stellt. Während bei der jungen Probandengruppe ( 22,5 Jahre) kaum Unterschiede zwischen den beiden Testsituationen festgestellt wurden, zeigte sich bei den älteren Testpersonen ( 83,4 Jahre), dass sich die Schrittlängenvariabilität mehr als verdreifachte, wenn Gehen und Rückwärtszählen gleichzeitig bewerkstelligt werden musste. Tab. 1 illustriert diese Ergebnisse.
Tab. 1: Zusammengefasste Ergebnisse der Studie von Beauchet (Beauchet et al., 2003)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Veranschaulicht werden soll damit, dass in hohem Alter mehr Aufmerksamkeit für das Gehen verwendet werden muss als in jungen Jahren. Die Konzentration auf die simultane Bewältigung mehrere Aufgaben macht es Betagten unmöglich, ein identisches Gangbild abzurufen als wäre nur das alleinige Gehen die Aufgabe. Ausschlaggebend dafür sind in dieser Kohorte häufig auftretende sensorische Defizite wie z. B. Sensibilitätsstörungen, Seh- und Hörschwächen, aber auch eine mangelnde körperliche Fitness Dies deutet auf einen mit dem Alter zunehmenden kognitiven, aber auch körperlichen Abbau hin und spricht dafür, dass das Gehen nun, anders als im mittleren Lebensabschnitt, durch kortikale Hirnregionen gesteuert wird. Die Lokomotion ist kein vollkommen automatisierter Prozess mehr und die eigene posturale Stabilität beansprucht mehr Aufmerksamkeitsressourcen als mögliche extrinsische Pertubationen. Um dies zu kompensieren und das Gangbild trotz eines veränderten Gesamtzustandes an Umweltbedingungen adaptieren zu können, werden verschiedene Gangparameter angepasst, beispielsweise werden präferierte Gehgeschwindigkeit und Schrittlänge verringert.
Lundin-Olsson, Nyberg & Gustafson (1997) stellten diesbezüglich sogar fest, dass bei älteren Personen, die nicht gleichzeitig Gehen und Sprechen können, sondern stehenbleiben, wenn sie sprechen, ein deutlich erhöhtes Sturzrisiko besteht.
Auch bei weiteren Untersuchungen, bei denen das Gehen durch exogene Störeinflüsse beeinflusst wurde, beispielsweise die Veränderung der Lichtverhältnisse, Laufen auf unebenen Bodenverhältnissen oder dem Lösen von Rechenaufgaben während des Gehens zeigte sich, dass die für das Gehen aufgebrachten Aufmerksamkeitsressourcen zwischen den Alterskohorten sehr unterschiedlich sind und daraus erhebliche Unterschiede in der Gangvariabilität resultieren (vgl. Kressig et al., 2004).
Obwohl in der Forschung zur Biomechanik des Gehens vielfältige Untersuchungen über Gelenkwinkelverläufe angestellt wurden, beispielsweise über Winkelverläufe bei unterschiedlichen Gehgeschwindigkeiten oder differierenden Umweltbedingungen, gibt es wenig empirische Erkenntnisse über die Altersabhängigkeit der Gelenkvariabilität. In einer Untersuchung von Qiao, Feld & Franz (2019) wurden jeweils elf ältere ( 75.3 ± 5.4 Jahre) und jüngere ( 24.8 ± 4.8 Jahre) Probanden ob ihrer Schrittfluktuationen miteinander verglichen. Die Ergebnisse zeigten, dass bei Gesunden die Gelenkwinkelvariabilität beim normalen Gehen altersunabhängig ist. Lediglich der der Hüftgelenkswinkel wies signifikante Erhöhungen auf. Dies kann einerseits studienbedingt sein, aufgrund der kleinen Probandengruppe. Inhaltlich wäre dieses Phänomen mit einer mangelnden passiven Stabilität in Gehrichtung zu erklären (vgl. Kuo, 2007). Wurde allerdings das Gehen von äußeren Pertubationen beeinflusst, in diesem Falle durch Veränderung der Lichtverhältnisse, so konnten in allen Gelenkwinkeln (Knie, Hüfte, Fuß jeweils in Sagittal- und Frontalebene) signifikante Differenzen in der Gelenkwinkelvariabilität festgestellt werden.
Neben der Altersabhängigkeit von Schrittfluktuationen ist ein weiterer Forschungsschwerpunkt die Korrelation verschiedener Krankheiten mit einer erhöhten Gangvariabilität. Allen voran neurologische, cerebrale und orthopädische Erkrankungen haben einen direkten Bezug zu einer nicht intakten Gangfunktion.
Nach orthopädischen Eingriffen wird eine Analyse der Gangvariabilität häufig genutzt, um den Behandlungserfolg, den Heilungserfolg und therapeutische Maßnahmen zu evaluieren. Hiyava et al. konnten beispielsweise zeigen, dass die Schrittfluktuationen bei Probanden direkt nach dem Transplantieren einer Kniegelenkstotalendoprothese identisch waren mit dem Ausmaß vor der Operation.
Multiple Sklerose (MS) ist ein Beispiel, bei dem man das Vorliegen der Krankheit direkt mit einem dysfunktionalen Gang und erhöhter Gangvariabilität assoziieren kann. Sie ist eine chronisch entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems, welche schubhaft verläuft. Die Kardinalsymptome sind dabei sehr vielfältig und gehen von Magen-Darm-Beschwerden, Sehschwäche bis hin zu Gangstörungen. Letzteres kann dadurch erklärt werden, dass das Gehen einen komplexen Interaktionsprozess verschiedener körperlicher Systeme verlangt. Das bei MS betroffene zentrale Nervensystem ist beim Gehen u. a. zuständig für Reizweiterleitungen von elektrischen Impulsen an Nervenzellen und die Muskulatur als motorische Endplatte. Auch für die Aufnahme sensorischer Umweltinformationen spielt es eine gewichtige Rolle. Durch die Beeinträchtigung dieser Prozesse bei einer Erkrankung kann das Gangmuster also starken Defiziten unterliegen.
Da einige Formen von MS progredient voranschreiten, Symptomatiken sich also stets verschlechtern, kann die Gangfunktion als Marker des Krankheitsverlaufs dienen. Auch Behandlungs- und Interventionserfolge können evaluiert werden.
Empirisch gibt es bereits einige Tendenzen, wie sich das krankheitsspezifische von einem physiologischen Gangbild unterscheidet. Räumlich-zeitliche Gangparameter unterscheiden sich entscheidend zwischen MS-Betroffenen und Gesunden. Klinisch wird dies zumeist durch Funktions- und Leistungstests wie den 6-minute-walk-test oder den 25-foot-walk-test geprüft. Studien fanden Evidenz dafür, dass die Gehgeschwindigkeit und die Schrittlänge bei Erkrankten verringert und die Doppelstandphase verlängert ist. (vgl. Sosnoff, Weikert, Dlugonski, Smith & Motl, 2011).
Socie et al. (2013a) fassten verschiedene Studien zum Zusammenhang von Gangvariabilität und MS zusammen. Crenshaw, Royer, Richard & Hudson (2006) zeigten, dass Patienten eine signifikant erhöhte Gelenkwinkelvariabilität über den Gangzyklus in Hüfte, Knie und Fuß aufweisen als gesunde Personen. Auch die Variabilität von Schrittdauer, Standphasendauer und Schrittlänge variierten bei MS-Erkrankten stärker als bei gleichaltrigen Gesunden. Das Ausmaß der Variabilität ist dabei mit dem positiv mit fortschreitenden Stadien der Erkrankung korreliert (vgl. Socie, Motl, Pula, Sandroff & Sosnoff, 2013b).
Die Mechanismen, wie die erhöhte Gangvariabilität bei MS-Patienten zustande kommt, ist multikausal. Neben den Schädigungen des Nervensystems, welche sensomotorische Dysfunktionen hervorrufen, gibt es zusätzlich Hinweise darauf, dass die Intensität des Fatigue-Syndroms, was ein Symptom von MS darstellt, ebenfalls Indikator einer stark erhöhten Gangvariabilität ist. Darüber hinaus werden Defizite in den Bereichen Muskelkraft, Balance und Propriozeption als Ursachen genannt (vgl. Socie et al., 2013a).
Parkinson ist eine unheilbare neurodegenerative Erkrankung, bei der dopaminproduzierende Nervenzellen im Gehirn absterben. Der Dopaminmangel löst u. a. Bewegungsstörungen aus. Dies bildet sich auch in der Lokomotion von Erkrankten ab. Patienten sind durch ein für sie spezifisches Gangbild charakterisiert, welches schon optisch erkennbar, von kurzen, schlurfenden Schritten und insgesamt verlangsamten Bewegungen gekennzeichnet. Insgesamt ist Parkinson mit Tremor, mangelnder Balancefähigkeit und defizitärer posturaler Kontrolle assoziiert, weshalb die Betroffenen sehr häufig von Stürzen betroffen sind, dessen Folgen die Lebensqualität entscheidend reduzieren können (vgl. Fink et al., 2006). Dementsprechend ist die Analyse des Ganges ein wichtiger Teil der Krankheitsevaluierung, da sie sowohl zur Bestimmung des Ausmaßes bzw. des Stadiums der Erkrankung hilfreich ist als auch die Wirksamkeit verschiedener Therapiemethoden aufzeigen kann (vgl. Keloth et al., 2019). Albani et al. (2014) konnten differierende Gangparameter zwischen Personen feststellen, die sich in verschiedenen Parkinsonstadien befanden. Dabei fiel auf, dass sich mit Progredienz der Erkrankung die Kadenz und die Schrittlänge im Sinne einer Bewegungsverlangsamung verschlechterten. Die Gelenkwinkel über den Gangzyklus zeigten in der Frühphase der Krankheit eine verstärkte Fußprogression gegenüber der mittleren und späten Phase. In der mittleren Phase nimmt die Extensions- und Flexionsbeweglichkeit beim Gehen im Vergleich zur Vorstufe ab. Im späten Stadium zeigt sich darüber hinaus eine verstärkte Hüftflexion beim initialen Bodenkontakt sowie eine in allen Gelenken abnehmende Gelenkbeweglichkeit (Range of Motion).
Verschiedene Studien haben Parkinsonpatienten hinsichtlich ihrer Gangparameter und deren Fluktuationen untersucht und mit anderen Kohorten verglichen. Die Übersichtarbeit von Creaby & Cole (2018) identifizierte bei Betroffenen gegenüber Gesunden signifikant geringere Gehgeschwindigkeiten und Schrittkadenzen sowie verkürzte Schrittlängen. Keloth et al (2019) stellten in einer Vergleichsstudie sogar fest, dass alle von ihnen betrachten zeitlichen Gangvariabilitätsparameter (Kadenz, Stand-, Schwung- und Doppelstandphasen) von Parkinsonpatienten gegenüber gleichaltrigen Gesunden und jungen Gesunden signifikant erhöht sind.
Bengvoord et al. (2016) führten eine Untersuchung durch, in der es darum ging, aus dem Gang bei selbstgewählter Geschwindigkeit auf Kommando einen 180°-Richtungswechsel zu absolvieren. Die Ergebnisse zeigten, dass der benötigte Weg, um diese Drehung zu finalisieren bei Erkrankten deutlich erhöht ist. Weiterhin wurde festgestellt, dass bei Betroffenen das Zurücklegen einer normierten Strecke auf einer Kreisbahn eine längere Zeit dauert und mehr Schritte dafür nötig sind als bei den Kontrollgruppen. Diese Aufgabe sollte das Gangbild von Parkinsonpatienten, hinsichtlich der intramuskuläre Koordination, sensomotorische Anpassung des Gangbildes und Balancefähigkeit überprüfen. Die Resultate zeigen eindeutige Defizite der Lokomotion im Vergleich zu gesunden Personen.
Dass eine eingeschränkte Kognition und Hirnleistung unmittelbar mit Gangstörungen verknüpft ist, erscheint aufgrund der subkortikalen bzw. kortikalen Steuerung der Lokomotion trivial. Eine verminderte Aufmerksamkeit, verringerte Konzentrationsfähigkeit, gestörte Exekutivfunktionen und ein limitiertes Bewegungsgedächtnis korrelieren mit Gangunregelmäßigkeit und -instabilität (vgl. Montero-Odasso, Verghese, Beauchet & Haussdorf, 2012).
Eine erhöhte Gangvariabilität kann einen Prädikator für eine Demenzerkrankung darstellen. Die Demenz ist eine neurologische Erkrankung, die zum Verlust kognitiver Fähigkeiten führt. Gangstörungen sind insbesondere in frühen Stadien der vaskulären und frontotemporalen Demenz und der Alzheimererkrankung ein Symptom für den kognitiven Abbau. Neurodegenerative und/oder vaskuläre Prozesse führen zu Gehirnläsionen, welche die Gangfunktion stark beeinträchtigen. Insbesondere die Hirnregionen, die auch für die lokomotorische und posturale Kontrolle zuständig sind, werden angegriffen. Dies äußert sich in einer mangelhaften Planung, Kontrolle und Abfolge von komplexen und zielgerichteten Bewegungen, wozu auch das Gehen zählt (vgl. Beauchet et al., 2016; vgl. Gschwind. 2011).
Liegt eine cerebrale Dysfunktion vor, steigt das Risiko innerhalb eines Jahres mindestens einmal zu stürzen auf 65 bis 90 % (vgl. Schick et al., 2017). Wie bei allen anderen beschriebenen Krankheitsbildern, bei denen die erhöhte Variabilität von Gangparametern ein entscheidender Kennwert ist, ist die Wahrscheinlichkeit zu fallen also deutlich erhöht. Somit kann man Schrittfluktuationen als Sturzprädikator bezeichnen. Dies ist das, in diesem Zusammenhang, wohl am meisten untersuchte Themengebiet. Die dahinterstehenden Mechanismen sollen im folgenden Kapitel skizziert werden.
Stürze sind ein großes Problem für die Gesellschaft. Sie gehen mit Morbidität, Mortalität, Immobilität und hohen Folgekosten für Individuen und öffentliche Kassen einher. 2012 starben in Deutschland 12,1 Personen je 100.000 Einwohnern an den Folgen eines Sturzes (vgl. World Health Organisation, 2015).
Statistiken zur Sturzinzidenz sind häufig schwer nachzuvollziehen, da Sturzereignisse kaum valide zu erheben sind. Zumeist werden dazu Fragebogenverfahren genutzt. Da sich Untersuchungen zu dieser Thematik in ihren Konzeptionen stark unterscheiden, beispielsweise hinsichtlich Ort, Bevölkerungsgruppe und Studiendesign, zeigt sich oft Uneinigkeit in den Ergebnissen (vgl. Saß, Varnaccia & Rommel, 2016). Da Stürze bei Kindern und Erwachsenen vergleichsweise selten sind und zumeist keine langfristigen Folgen nach sich ziehen, wird sich in den nachfolgenden Ausführungen vor allem auf Stürze bei Personen in höherem Alter bezogen.
Talbot, Musiol & Witham (2005) stellten eine spezifische Alters- und Geschlechtsabhängigkeit von Sturzereignissen fest. Wie Abb. 1 zeigt, stürzen männliche Personen in allen Alterskohorten häufiger. Die Prävalenz nimmt zudem mit steigendem Alter zu. Mehr als ein Drittel der Befragten im Alter über 65 waren innerhalb von zwei Jahren mindestens einmal stürzt.
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Abb. 1: Prävalenz von Sturzereignissen unterschiedlicher Altersgruppen innerhalb von zwei Jahren (eigene Darstellung nach Talbot et al. (2005))
Auch der Anteil von Stürzen am gesamten Unfallgeschehen nimmt zu. Bei über 70-Jährigen bilden Stürze einen Anteil von 50 (Frauen) bzw. 60% (Männer) aller Unfälle (vgl. Saß et al., 2016). Die Schwere der Verletzungen, die mit Stürzen einhergeht, korreliert laut van Weel, Vermeulen & van den Bosch (1995) ebenfalls mit steigendem Alter. Betagte sind beispielsweise häufiger von Knochenbrüchen betroffen. Ganz, Bao, Shekelle & Rubenstein (2007) gaben an, dass ein vorausgegangener Sturz der markanteste Indikator für weitere Stürze ist.
Stürze können durch eine Vielzahl an Faktoren verursacht werden. Dabei unterscheidet man zunächst extrinsische und intrinsische Auslöser. Extrinsische Faktoren sind umweltbedingt. Hier spielen vor allem die Medikamenteneinnahme oder inadäquate Kleidungsstücke eine Rolle, aber auch Stürze wegen schlechter Licht- und Wetterverhältnisse sind dabei miteingeschlossen. Intrinsische Faktoren sind mit dem Individuum selbst in Verbindung zu setzen. Sturzursachen können hier kognitive oder physische Defizite sein. Es gibt Hinweise darauf, dass die Sturzgefahr umso größer ist, je größer der Anteil an intrinsischen Auslösern ist (vgl. Callisaya et al., 2011). Muskelschwäche, Gangstörungen und Gleichgewichtsstörungen gelten als die drei intrinsischen Hauptgründe für Stürze (vgl. Heinimann & Kressig, 2014).
Der Mensch verliert zwischen dem 30. und 80. Lebensjahr 30 – 50% seiner Muskelmasse. Dafür sind u. a. altersspezifische und inflammatorische Prozesse sowie Inaktivität und eine mangelhafte oder falsche Ernährung verantwortlich (vgl. Zeeh, Reinhardt & Heppner, 2017). Dies führt zu einer Verminderung der Stabilität, Balancefähigkeit und erhöht die subjektive Sturzangst (vgl. Kaeding, 2009).
Gleichgewichtsstörungen hängen vor allem mit einem alterungsbedingt inadäquaten Zusammenspiel der beim Gehen interagierenden Systeme zusammen. Zur Gewährleistung der posturalen Stabilität bedarf es der intakten Interaktion von sensomotorischem System und motorischer Kontrolle. Die Fähigkeit diese Systeme zu koordinieren nimmt mit dem Alter ab. Kompensationsmechanismen, um das Gleichgewicht aufrecht zu halten sind nicht mehr effizient genug, weshalb Stürze als Folge resultieren können (vgl Zeeh et al., 2017; vgl. Heinimann et al., 2014).
Gangstörungen sind zum einen mit der altersbedingten Veränderung von räumlich-zeitlichen Gangparametern, vor allem aber mit einer ganzheitlichen Erhöhung der Gangvariabilität assoziiert. Empirisch gibt es zahlreiche Untersuchungen, welche die Korrelation von erhöhten Schrittfluktuationen und gesteigertem Sturzrisiko nachweisen konnten.
In einer der ersten Untersuchungen zu dieser Thematik gab Maki (1997) an, dass bereits eine Schrittlängenvariabilität von 1,7 cm zu einer Verdopplung des Sturzrisikos führt. Einen solchen Zusammenhang mit einem spezifischen Zahlenwert zu untermalen, erscheint auf den ersten Blick populistisch, dennoch deutet es die Relevanz der Gangvariabilität an. Mortaza, Abu Osman & Mehdikhani (2014) verglichen gestürzte und nicht gestürzte Personen in ihrer Übersichtsarbeit über bestehende empirische Untersuchungen zu dieser Thematik miteinander. Das Augenmerk wurde auf räumlich-zeitliche Gangparameter gerichtet. Die Gangmuster gestürzter und nicht gestürzter Personen unterschieden sich deutlich voneinander. Gestürzte tendieren zu verlangsamter Gehgeschwindigkeit und verringerter Schrittkadenz sowie zu einer verlängerten Schrittdauer und Doppelstandphase. Zwischen den Probandengruppen zeigten sich zudem Differenzen in der Variabilität der Gangparameter. Die Autorengruppe gab an, dass nach Betrachtung zahlreicher Untersuchungen nicht zu generalisieren, welche fluktuierenden Parameter entscheidend zu Stürzen führen. Jedoch streuten Gangparameter bei Gestürzten stets stärker als bei Kontrollgruppen.
Verghese, Holtzer, Lipton & Wang (2009) interpretierten aus ihren Studienergebnisse, dass vor allem die Schwungphasen- und Schrittlängenvariabilität die entscheidenden Sturzmarker sind.
Insgesamt ist zu konstatieren, dass die in der Literatur vorzufindenden Ergebnisse relativ diffus und wenig einheitlich sind. Jedoch haben fast alle Studien gemein, dass sie die Gangvariabilität als Sturzprädikator identifizieren konnten.
Aufgrund der gesellschaftlichen Relevanz, die mit den Folgen von Stürzen zusammenhängt, ist es notwendig Strategien und Maßnahmen zu entwickeln, mit denen die Gangvariabilität verbessert werden kann. In diesem Rahmen geht es zumeist um Sturzpräventionsinterventionen bei älteren und kranken Personen. Ziel ist es dabei, dass Sturzrisiko durch spezifische Trainingsprogramme zu verringern. Dabei gilt es immer die Feinabstimmung des sensomotorischen Systems zu verbessern, um die Schrittfluktuationen um einen bestimmten Grad zu reduzieren, so dass zukünftige Stürze unwahrscheinlicher werden. Wichtig ist das Verständnis, dass Sturzpräventionsinterventionen vor allem dann effektiv sind, wenn sie sich auf das Individuum, und nicht auf die Umwelt, fokussieren. Dementsprechend wurde der Fokus in der nahen Vergangenheit also auf eine Minimierung intrinsischer Risikofaktoren gelegt.
Die Muskelschwäche bzw. die Reduzierung der Muskelmasse resultiert bei alten Personen u. a. aus einer Dysbalance von Proteinbiosynthese und Proteinabbau sowie häufig auch aus einem hohen Level an körperlicher Inaktivität. Als Gegenstrategie kann eine Kombination von supplementärer Proteinanreicherung der Nahrung mit einem regelmäßigen Krafttraining hilfreich sein (vgl. Heinimann et al., 2014). Bonnefoy et al. (2003) konnten beispielsweise den positiven Einfluss eines neunwöchigen progressiven Krafttrainings in Verbindung mit einer Nahrungsmittelsupplementierung feststellen. Sie konnte mit dieser Methode bei Heimbewohnern ( 72 Jahre) eine Kraftsteigerung von durchschnittlich 57% erreichen. Liu & Latham (2009) argumentierten allerdings, dass eine Steigerung der Muskelkraft der unteren Extremitäten allein nicht ausreicht, um das Sturzrisiko zu senken, sondern dass dafür weitere spezifische Verfahren angewandt werden müssen, die das Gangbild gezielt stabilisieren.
Um Gleichgewichts- und Gangstörungen zu reduzieren haben sich allen voran Bewegungsaktivitäten etabliert. Die Methoden und Herangehensweisen sind dabei sehr unterschiedlich Thai-Chi und Qi Cong eignen sich aufgrund ihrer langsamen Bewegungsausführung, wodurch sowohl Koordination und Kraft als auch das motorische Gedächtnis trainiert werden. Li et al. (2005) zeigten in einer Studie, dass eine sechsmonatige Thai-Chi-Trainingsintervention bei Personen zwischen 70 und 92 Jahren das Sturzrisiko um 55% im Vergleich zu einer Kontrollgruppe reduzieren konnte. Zudem steigerten die Probanden ihre subjektive Gangsicherheit und reduzierten ihre Sturzangst.
Verschiedene Untersuchungen setzten sich mit dem Einfluss von Tanzinterventionen auseinander. Sowohl Ballett (vgl. Earhart, 2009) als auch Salsa (vgl. Granacher et al., 2012) und die Jaques Dalcroze-Rhythmik (vgl. Kressig, 2015) wirkten sich positiv auf die posturale Stabilität und die Gangfunktion aus.
In der Literatur sind noch diverse andere Trainingsmethoden erprobt worden, bei denen positive Effekte auf die Gangfunktion festgestellt wurden. Weitere Beispiele sind Vibrationstraining, die Feldenkrais-Methode oder allgemeines Gleichgewichtstraining (vgl. Kaeding et al., 2009; vgl. Heinimann et al., 2014).
Auch eine Studie zum Einfluss von Exergames wurde bereits durchgeführt. Stanmore et al. (2019) erkannten positive Effekte auf Balance und Sturzangst bei Personen, die in betreuten Wohnheimen lebten. Jedoch hinterfragten sich den Kosten-Nutzen-Faktor der klinischen Anwendung von Exergames.
Insgesamt zeigen also unzählige Interventionsformen, dass das Sturzrisiko beeinflusst werden kann, indem man die Gangfunktion im Allgemeinen und die Gangvariabilität im Spezifischen verbessert. Ein Goldstandard, welche Verfahren die effektivsten sind, konnte bislang nicht hervorgebracht werden.
Um Variabilität in motorischen Systemen zu operationalisieren, gibt es nach Schubert (2013) grundsätzlich zwei moderne mathematisch-statistische Ansätze, deren Unterschiede in Tab. 2 ersichtlich werden. Lineare Verfahren dienen einerseits dazu die globale Variabilität, also das Ausmaß oder die Amplitude von Kennwerten und deren Fluktuationen zu beschreiben. Nichtlineare Verfahren andererseits versuchen eine zeitabhängige Struktur von Messwertreihen und deren Streuungen wiederzugeben. Sie geben also eine strukturelle Variabilität wieder. Diese Verfahren werden vor allem bei der Untersuchung physiologischer Signale, wie z. B. der Herzratenvariabilität, genutzt.
Beide Ansätze sind komplementär, sie können also bei ihrer Anwendung keine Informationen über die Aussagen des jeweils anderen geben, auch wenn ein identisches System (z. B. die Gangvariabilität) untersucht wird.
Tab 2: Differenzierung der Verfahren zur Operationalisierung von Variabilität (Schubert, 2013, S. 135)
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Bei Betrachtung der aktuellen Literatur bezüglich der Operationalisierung des Parameters Gangvariabilität unterschieden sich die Herangehensweisen je nach Erkenntnissinteresse. Liegt dieses beispielsweise in einer gangphasenabhängigen Untersuchung von Schrittfluktuationen, kommen nichtlineare Methoden zum Einsatz.
Lineare Verfahren hingegen werden genutzt, um Gangvariabilität per se, also auf einer globalen Ebene zu beschreiben. Dafür werden üblicherweise Streuungsmaße wie die Varianz, die Standardabweichung und der Variationskoeffizient als Variabilität operationalisiert und berechnet. Während Varianz und Standardabweichung die absolute Variabilität angeben, steht der Variationskoeffizient für die relative Variabilität.
Ein Standardverfahren zur Feststellung und Quantifizierung von Schrittfluktuationen existiert nicht. Sangeux, Passmore, Graham & Tirosh (2016) fassen in ihrer Arbeit verschiedene Herangehensweisen zur Erhebung von Gangvariabilität zusammen.
Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, die Gelenkwinkelvariabilität verschiedener Gruppen über den kompletten Gangzyklus zu untersuchen. Dabei wurde kein zeitlich-struktureller, also gangphasenabhängiger, Vergleich von Fluktuationen angestrebt. Somit eigneten sich einfache Dispersionsmaße.
Ein Großteil der bisherigen Studien zur Gangvariabilität, vor allem diejenigen in Bezug auf die Variabilität räumlich-zeitlicher Parameter, nutzten den Variationskoeffizienten, um Schrittfluktuationen statistisch auszudrücken. Dieses relative Streuungsmaß berechnet sich aus dem Quotienten von Standardabweichung und Mittelwert und kann die Variabilität als prozentualen Wert ausdrücken. Es bietet den Vorteil der Skalenunabhängigkeit, womit eine gute und einfache Vergleichbarkeit von den Daten verschiedener Stichproben gewährleistet werden kann.
Ein Gruppenvergleich mittels des Variationskoeffizienten war in der nachfolgend beschriebenen Studie allerdings nicht möglich, da die Gelenkwinkelmessung per Neutral-Null-Methode erfolgte. Dies führte dazu, dass in bestimmte Messreihen sowohl positive als negative Werte eingingen. Die Gelenkwinkelmittelwerte über den Gangyzklus unterschieden sich also zu bestimmten Zeitpunkten in ihren Richtungen. Während der Hüftextension beispielsweise ist der Gelenkwinkel im Normalfall am Ende der terminalen Standphase und in der Vorschwungphase negativ, in allen anderen Gangphasen aber positiv. Zur Bestimmung des Variationskoeffizienten ist es jedoch erforderlich, dass diese Daten ausschließlich positive oder ausschließlich negative Werte annehmen.
Da die Varianz (Summe der quadrierten Abweichungen aller Messwerte vom arithmetischen Mittel dividiert durch die Anzahl der Messwerte) eine andere Einheit als die Messwerte wiedergeben, ist die Interpretation dieses Maßes in der Praxis sehr schwer. Schlussfolgernd wurde die Standardabweichung als Gelenkwinkelvariabilität operationalisiert. Sie berechnet sich aus der Wurzel der Varianz. Die Standardabweichung bietet den Vorteil, dass die Fluktuationen in derselben Maßeinheit angegeben werden, wie sie in den Ursprungsdaten erfasst worden sind. Im Falle der Gelenkwinkel ist es das Gradmaß (°). Das lässt eine einfache Vergleichbarkeit der Ergebnisse aus den Ganguntersuchungen zu.
„The variability of the sensimotor system is usually operationalized by considering the standard deviation of a given system parameter that arises from repeated measures of that parameter over successive attempts at satisfying a particular movement task.” (Newell et al., 1993, S. 2)
Während sich bisherige Forschungsarbeiten zur Thematik der Gangvariabilität überwiegend auf die Analyse von räumlich-zeitlichen Gangparametern konzentrierten, wurden in dieser Untersuchung die Gelenkwinkel der unteren Extremität im Verlauf des Gangzyklus in den Fokus der Betrachtung gerückt. Dies stellt eine bislang selten praktizierte Herangehensweise zur Ermittlung von Gangvariabilität dar.
Neben diesem Aspekt lag ein zweiter Schwerpunkt der Untersuchung in der Evaluierung einer videospielbasierten Bewegungsintervention. Überprüft werden sollte, ob und in welchem Ausmaß ein Exergame-Trainingsprogramm einen Einfluss auf die Variabilität der Gelenkwinkel beim Gehen ausübt. Exergaming ist ein englisches Kofferwort, das sich aus den Begriffen to exercise und gaming zusammensetzt und frei übersetzt Bewegungsspiel bedeutet. Es handelt sich dabei um Videospiele, bei denen Bewegungsaufgaben bewältigt werden müssen. Die Spielenden sind währenddessen sowohl körperlich als auch kognitiv gefordert. In jüngerer Vergangenheit etablierte sich diese Form virtueller Spiele zunehmend im Kontext von Gesundheitsförderung und Rehabilitation (vgl. Werner et al., 2018; vgl. Wiemeyer, 2010).
Diesem zweiten Themenschwerpunkt lag eine Studie von Madeleine Ordnung, Maike Hoff, Elisabeth Kaminski, Arno Villringer und Patrick Ragert zugrunde. Die Arbeitsgruppe untersuchte die Wirkung eines spezifisch konzipierten Exergame-Trainings auf verschiedene Fähigkeitskomplexe älterer Personen. Es handelte sich um eine Vergleichsstudie mit Prätest-Intervention-Posttest-Design. Die Hälfte der 30 teilnehmenden Probanden wirkte als Interventionsgruppe. Bei ihnen wurde ein Exergame-Training zweimal wöchentlich für insgesamt sechs Wochen durchgeführt. Die andere Hälfte der Untersuchten fungierte als Kontrollgruppe. Zweimal, bei einer Ausgangsmessung sowie bei einer zweiten Messung, die nach der Intervention der Trainingsgruppe stattfand, wurden bei allen Probanden kognitive, motorische und sensorische Tests durchgeführt und deren Ergebnisse ausgewertet, um das Trainingsprogramm hinsichtlich seiner Wirkung zu evaluieren. Der zugehörige Artikel „No Overt Effects of a 6-Week Exergame Training on Sensorimotor and Cognitive Function in Older Adults. A Preliminary Investigation“ wurde im Jahr 2017 in der Fachzeitschrift „Frontiers in Human Neuroscience“ veröffentlicht.
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