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Diplomarbeit, 2006
288 Seiten, Note: 1,0
Einleitung
I FAMILIE
1 Annäherung an den Begriff ‚Familie’
1.1 Familienbegriffe
1.2 Annäherung an den in dieser Arbeit verwendeten Familienbegriff
2 Familie und Ehe im Wandel
3 Kennzeichen des aktuellen Wandels
3.1 Wandel der Einstellung zur Ehe
3.1.1 Gesellschaftliche Veränderungen zeigen Einstellungswandel an
3.1.2 Bedeutungswandel der Institution Ehe
3.2 Veränderte Erwartungen an Familie
3.3 Steigende Pluralität der Familienformen und Individualisierung
3.4 Zeitliche Veränderungen der Lebens- und Familienzyklen
3.5 Veränderung der Rollen von Vater und Mutter
3.6 Kindheit und Rolle des Kindes im Wandel
4 Familie und Gewalt
4.1 Annäherung an den Begriff ‚Gewalt’
4.2 Physische Gewalt
4.3 Weitere Gewaltformen
II TRENNUNG UND SCHEIDUNG
1 Veränderte Sichtweise auf Trennung und Scheidung
2 Trennungs- und Scheidungsursachen
2.1 Wertwandel in der Sinnzuschreibung an Ehe und Partnerschaft
2.2 Abnahme traditioneller Rollenvorgaben
2.3 Veränderung der Partnerbeziehung nach Übergang zur Elternschaft
3 Trennungs- und Scheidungszyklus
3.1 Vorscheidungsphase
3.1.1 Verschlechterung der Partnerbeziehung
3.1.2 Entscheidungskonflikte
3.1.3 Entscheidung zur Trennung ist revidierbar
3.2 Scheidungsphase
3.2.1 Situation und Reaktionen der Erwachsenen allgemein
3.2.2 Situation und Reaktionen der Erwachsenen nach Alter und Geschlecht
3.2.3 Beziehung zwischen den getrennt lebenden Partnern in der Scheidungsphase
3.2.4 Neue Partnerbeziehungen
3.2.5 Situation und Reaktionen der Kinder allgemein
3.2.6 Situation und Reaktionen der Kinder nach Alter und Geschlecht
3.2.7 Geschwisterbeziehungen
3.2.8 Eltern-Kind-Beziehungen in der Scheidungsphase
3.2.9 Zeitraum der gerichtlichen Scheidung
3.3 Nachscheidungsphase
3.3.1 Psychische Scheidung
3.3.2 Beziehung zwischen den getrennt lebenden Partnern in der Nachscheidungsphase
3.3.3 Eltern-Kind-Beziehungen in der Nachscheidungsphase
3.3.4 Ablösung der Partner- von der Elternrolle und Reorganisation
3.3.5 Patchworkfamilien
4 Günstige und ungünstige Trennungs- und Scheidungsverläufe
4.1 Schutz- und Risikofaktoren für die Kinder
4.2 Was Kinder sich von ihren getrennten Eltern wünschen
4.3 Schutz- und Risikofaktoren für die Erwachsenen
4.4 Zusammenspiel von Schutz- und Risikofaktoren
III UNTERSTÜTZUNGSANGEBOTE BEI TRENNUNG UND SCHEIDUNG
1 Unterstützung durch soziale Netzwerke
1.1 Unterstützung durch verwandtschaftliche Netzwerke
1.2 Unterstützung durch Selbsthilfegruppen
2 Unterstützung durch professionelle Angebote
2.1 Beratungsangebote allgemein
2.2 Scheidungsberatung
2.3 Mediation
2.4 Gruppenintervention für Kinder aus Trennungs- und Scheidungsfamilien
3 Möglichkeiten und Grenzen von Unterstützungsangeboten
IV EMPIRISCHER TEIL:INTERVIEWS MIT BETROFFENEN
1 Vorüberlegungen und methodisches Vorgehen
2 Auswertung der Interviews
2.1 Beginn der Beziehung bzw. Familiengründung
2.cheidungsphase
2.2.1 Verschlechterung der Partnerbeziehung
2.2.2 Entscheidungskonflikte
2.2.3 Entscheidung zur Trennung ist revidierbar
2.3 Scheidungsphase
2.3.1 Trennung
2.3.2 Situation und Reaktionen der Erwachsenen
2.3.3 Situation und Reaktionen der Kinder
2.3.4 Zeit der gerichtlichen Scheidung
2.4 Nachscheidungsphase / heute
2.4.1 Beziehung zwischen den ehemaligen Partnern
2.4.2 Eltern-Kind-Beziehungen
2.4.3 Beziehungen in Patchworkfamilien
2.4.4 Neue Partnerbeziehungen
2.5 Möglichkeiten und Grenzen von Unterstützungsangeboten
3 Ausblick
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Anhang
Anhang A
Anhang B
Anhang C
Anhang G
Anhang H
Anhang I
Anhang J
Anhang K
Anhang L
Anhang N
Anhang O
Anhang P
Anhang Q
Sowohl in meinem privaten als auch in meinem beruflichen Umfeld hatte und habe ich immer wieder mit Erwachsenen und Kindern zu tun, die von Trennung und Scheidung betroffen sind. Sie zeigten ganz unterschiedliche Reaktionen und Verhaltensweisen, waren wütend, traurig, kampfeslustig oder auch resigniert, doch eines hatten sie alle gemeinsam: Trennung und Scheidung stellten für sie eine große Belastung dar, die lange Zeit anhielt und sich stark auf ihr gesamtes Leben auswirkte.
Als Außenstehende empfand ich es oft als schwierig, wirklich nachzuvollziehen, was in den Betroffenen vorging. Ich fragte mich, was genau eigentlich passiert, wenn Familien zerbrechen und die ehemaligen Partner eigene Wege gehen. Dies warf sofort die nächste Frage auf: Worüber spreche ich eigentlich, wenn von Familie die Rede ist?
Die meisten Menschen in Deutschland werden in eine Familie hineingeboren, wachsen in dieser auf und meinen daher ganz genau zu wissen, was eine Familie ist. Sobald jedoch mehrere Menschen anfangen, miteinander über dieses Thema zu sprechen, wird schnell klar: Die Vorstellungen sind sehr individuell und können ganz erheblich voneinander abweichen.
Was also ist eine Familie und wie hat sich die ‚moderne Familie’ entwickelt? Welchen aktuellen Veränderungen ist sie unterworfen? Welche Anforderungen und Erwartungen der Familienmitglieder an die Familie gibt es? Und welchen Erwartungen der Gesellschaft soll Familie gerecht werden? Kann sie das alles leisten? Mit diesen Fragen werde ich mich im ersten Teil meiner Arbeit beschäftigen.
Im zweiten Teil gehe ich darauf ein, was passiert, wenn das Zusammenleben in der Familie nicht (mehr) gelingt: Wie laufen die Trennungs- und Scheidungsprozesse ab? Welche Auswirkungen haben Trennung und Scheidung sowohl auf die Erwachsenen als auch auf die Kinder? Wie kann eine Reorganisation der Familie gelingen? Gibt es Gemeinsamkeiten, die bei den meisten Familien zu beobachten sind, oder laufen die Prozesse ausschließlich individuell ab?
Im dritten Teil meiner Arbeit stehen die Unterstützungsangebote für Familien in Trennungs- und Scheidungsprozessen im Mittelpunkt. Ich stelle verschiedene Unterstützungsangebote vor und beschäftige mich sowohl mit den Chancen und Möglichkeiten als auch mit den Grenzen von Unterstützungsangeboten.
Um die in den ersten drei Teilen der Arbeit gewonnenen theoretischen Erkenntnisse mit Leben zu füllen, habe ich drei Interviews mit Betroffenen geführt, die ich im vierten Teil meiner Arbeit auswerte. Dabei folge ich thematisch dem Trennungs- und Scheidungszyklus und beschäftige mich abschließend mit den Möglichkeiten und Grenzen von Unterstützungsangeboten. Ich gebe Aussagen meiner Interviewpartner zu den jeweiligen Themenbereichen zunächst wörtlich wieder und verknüpfe sie dann mit Ergebnissen aus dem Theorieteil.
In meiner Arbeit beziehe ich mich auf die Situation von Familien in Deutschland und beschäftige mich dabei sowohl mit verheirateten als auch mit unverheirateten Paaren mit Kindern. Auf die Trennungs- und Scheidungsprozesse bei Paaren ohne Kinder sowie bei gleichgeschlechtlichen Paaren mit Kindern gehe ich nicht gesondert ein.
Um eine bessere Lesbarkeit zu gewährleisten, verzichte ich darauf, im Text immer sowohl die männliche als auch die weibliche Form zu verwenden. Ich nutze die männliche Form, wenn beide Geschlechter gemeint sind. Wenn ich nur von Frauen sprechen möchte oder nur die Männer meine, habe ich dies kenntlich gemacht.
Was ist eine Familie? Was macht sie aus und wer gehört alles dazu? Welche Werte gelten? Welche ‚Spielregeln’ und Traditionen regeln das Zusammenleben? Was ist tabu? Werden diese Fragen gestellt, hat jeder sofort ein Bild vor Augen und Antworten parat. Doch ‚Familie’ ist kein statisches Gebilde und nicht zu allen Zeiten und rund um die Welt gleich beschaffen, sondern sehr lebendig und unterschiedlich. Jeder empfindet sein eigenes Bild als ‚normal’, davon abweichende Modelle werden oft als sehr fremd und ‚unnormal’ erlebt. Wie das subjektive Bild von Familie aussieht, hängt stark von sozialen und kulturellen Entwicklungen, vom ‚Zeitgeist’ und von den individuellen Erfahrungen ab.
„Die Familie (familia domestica communis, die gemeine Hausfamilie) kommt in Mitteleuropa wild vor und verharrt gewöhnlich in diesem Zustande. Sie besteht aus einer Ansammlung vieler Menschen verschiedenen Geschlechts, die ihre Hauptaufgabe darin erblicken, ihre Nasen in deine Angelegenheiten zu stecken. Wenn die Familie größeren Umfang erreicht hat, nennt man sie ‚Verwandtschaft’“ (Tucholsky, 1985, S. 307).
Es gibt keine einheitliche, allgemeingültige und anerkannte Definition, die all den Facetten und Spielarten von ‚Familie’ gerecht wird. Jeder Definitionsversuch ist geprägt von der Einstellung und dem Blickwinkel des Menschen, der ihn unternimmt. Tucholsky liefert mit seiner Definition von Familie - die natürlich keinerlei wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht wird und dies sicherlich auch nicht will - ein sehr schönes Beispiel dafür. Jeder Definitionsversuch gibt nur einen Ausschnitt wieder und kann sich an den Begriff Familie allenfalls annähern. Um zu zeigen, wie vielfältig sie sein können, habe ich exemplarisch einige Familienbegriffe ausgewählt, die ein Spektrum verschiedener Blickwinkel und Ansichten widerspiegeln.
Bei vielen Familienbegriffen liegt der Schwerpunkt auf dem Vorhandensein von Kindern, vor allem bei den älteren wird oft eine Ehe der Eltern vorausgesetzt. Im 1. Familienbericht von 1968 wird unter Familie „eine Gruppe verstanden, in der ein Ehepaar mit seinen Kindern zusammenlebt. Diese reine Eltern-Kinder-Gemeinschaft (‚Kernfamilie') stellt eine soziale Gruppe besonderer Art dar, gekennzeichnet durch eine biologisch-soziale Doppelnatur und eine in anderen sozialen Gruppen in diesem Umfang nicht anzutreffende ‚Totalität' der sozialen Beziehungen" (Bundesminister für Familie und Jugend, 1968, S. 7).
Die Ehe als Grundlage für eine Familie hat im Laufe der Jahre an Bedeutung verloren, der Blick auf die Kinder bleibt jedoch: „In sehr enger Abgrenzung wird als Familie eine Mutter mit ihrem Kind bezeichnet, ein Vater mit seinem Kind sowie – normalerweise – Mutter, Vater und Kind oder Kinder. Dieser Begriff setzt nicht das Bestehen einer legalen Ehe voraus […]. Auch nicht verheiratete Partner und alleinstehende Mütter mit Kindern sind Formen von Familie“ (Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen des Bundesfamilienministeriums, 1984, S. 27).
In der selben Quelle ist auch eine sehr weite Fassung des Begriffs Familie zu finden: „Familie kann in einer sehr weiten Abgrenzung die Gruppe von Menschen bezeichnen, die miteinander verwandt, verheiratet oder verschwägert sind, gleichgültig, ob sie zusammen oder getrennt leben, ob die einzelnen Mitglieder noch leben oder – bereits verstorben – ein Glied in der Entstehung von Familie sind. Familie kann unabhängig von räumlicher und zeitlicher Zusammengehörigkeit als Folge von Generationen angesehen werden, die biologisch und rechtlich miteinander verbunden sind“ (ebd., S. 27).
Dieser Familienbegriff ist so weit gefasst, dass er schwammig wirkt. Allerdings macht er unmissverständlich klar, dass jeder Mensch ein ‚Familienmensch’ und mit zahlreichen anderen Menschen dauerhaft verbunden ist, selbst wenn er keinen Kontakt zu seinen Familienangehörigen hat. Jeder Mensch ist von einem anderen Menschen geboren worden und tritt durch seine Geburt in ein Netzwerk ein, das er nicht auslöschen kann.
Es gibt viele Familienbegriffe, die sich zwischen dem sehr engen Verständnis von Familie als ‚Kernfamilie’ und der sehr weit gefächerten Auffassung von Zugehörigkeit über mehrere Generationen bewegen. Für Rolff und Zimmermann ist „eine Familie eine Verbindung, in der Eltern oder ein Elternteil mit ihren bzw. seinen Kindern zusammenleben, zumeist in einer Haushaltsgemeinschaft“ (Rolff/Zimmermann, 1997, S. 19). Dabei werden Drei-Generationen-Familien von Eltern-Familien und Ein-Eltern-Familien unterschieden. Eine Ein-Eltern-Familie kann eine Vater- oder Mutter-Familie sein (vgl. ebd., S. 19).
Im 11. Kinder- und Jugendbericht wird Familie verstanden als „Lebensform von Personensorgeberechtigten mit Kind oder Kindern“ (BMFSFJ, 2002, S. 122). Dieses Verständnis umfasst verschiedene mögliche Spielarten von Familie, von der Kleinfamilie über Alleinerziehende, homosexuelle Paare mit Kindern und Patchworkfamilien bis hin zu Mehrgenerationenhaushalten. Auch hier ist das Vorhandensein von Kindern für die Konstituierung der Familie ausschlaggebend.
Petzold und Nickel betonen, dass „der Begriff Familie nur dann sinnvoll ist, wenn ein Spannungsfeld von wenigstens zwei Generationen vorliegt. Dieses Kriterium bezieht sowohl Familien mit Kindern ein, als auch Familien, in denen ältere Menschen von der nachfolgenden Generation versorgt werden. Ob dieses Zusammenleben durch die rechtliche Form der Ehe festgeschrieben ist oder nicht, spielt dabei aus psychologischer Sicht im Hinblick auf die Definition als Familie keine Rolle“ (Petzold/Nickel, 1989, S. 243; Hervorhebungen auch im Original).
Nave-Herz benennt drei Merkmale, die ‚Familie’ ausmachen und durch die sie sich von allen anderen Lebensformen in sozialen Gemeinschaften unterscheidet (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 15):
‚Familie’ ist durch eine biologisch-soziale Doppelnatur gekennzeichnet, da sie Reproduktions- und Sozialisationsfunktionen übernimmt. Weitere Funktionen sind kulturabhängig.
Darüber hinaus zeichnet sich ‚Familie’ durch ein besonderes Kooperations- und Solidaritätsverhältnis aus, das über die gängigen Gruppenmerkmale wie z. B. ‚gemeinsames Ziel’ und ‚Wir-Gefühl’ hinausgeht. Dies zeigt sich in dem Umstand, dass ‚Familie’ „in allen Gesellschaften […] eine ganz spezifische Rollenstruktur mit nur für sie geltenden Rollendefinitionen und Bezeichnungen (z. B. Va-ter/Mutter/Tochter/Sohn/Schwester usw.) zugewiesen“ (ebd., S. 15) wird. Wie viele Rollen es gibt und mit welchen Erwartungen diese verknüpft sind, ist abhängig von der vorherrschenden Kultur.
Das dritte Merkmal von ‚Familie’ ist die Generationsdifferenzierung. Die Geschlechtsdifferenzierung, z. B. in Form eines Ehesubsystems, darf hingegen nicht als grundlegendes Kriterium gelten, da „es zu allen Zeiten und in allen Kulturen auch Familien gab (und gibt), die nie auf einem Ehesubsystem beruht haben oder deren Ehesubsystem im Laufe der Familienbiographie durch Rollenausfall, infolge von Tod, Trennung oder Scheidung, entfallen ist. Damit bilden alleinerziehende Mütter und Väter sowie Nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern auch Familiensysteme“ (ebd., S. 15).
Nach Bertram kann es keinen einfachen und allgemeingültigen Familienbegriff geben, da die möglichen Personenkonstellationen zu komplex und vielfältig sind. Darüber hinaus sind viele der gängigen Familienbegriffe auf einen gemeinsamen Haushalt konzentriert, erfassen die außerhalb lebenden und dennoch zur Familie gehörenden Personen nicht als Familienmitglieder und beschreiben infolgedessen immer nur Teile der Familienstruktur.
Bertram wählt daher einen netzwerkorientierten Blick: Um ‚Familie’ zu erfassen, stellt er nicht die gemeinsame Wohn- oder Haushaltsform in den Mittelpunkt, sondern konzentriert sich auf die Netzwerke sozialer Beziehungen, in die Menschen eingebunden sind, und auf die gelebten Beziehungen zwischen ihnen. Er geht von dem Konstrukt des Familienetzes aus, denn „Familie lebt durch Handlungen, die von ihren Mitgliedern gemeinsam vollzogen werden. Diese Mitglieder können, aber müssen nicht im gleichen Haushalt leben. Familienmitglieder sind meist Verwandte, müssen es aber nicht sein. Aus der Sicht der Befragten sind jedoch nicht alle, die zur Familie gehören könnten, auch tatsächlich Mitglieder ihrer Familie. Andererseits werden Personen zur eigenen Familie gerechnet, die nach dem allgemeinen Verständnis nicht dazu gehören“ (Bertram, 1991, S. 43). Das Familiennetz vermittelt ein umfassendes Bild, da es den Familienraum des jeweils in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellten Menschen annähernd komplett abbildet (vgl. ebd., S. 43).
Im weiteren Verlauf meiner Arbeit wird der Schwerpunkt auf Eltern und ihren Kindern liegen, die aufgrund von Trennung und Scheidung nicht mehr alle zusammen in einem gemeinsamen Haushalt leben. Dennoch gehört auch der nicht mehr bei den Kindern lebende Elternteil oft weiterhin zumindest zur Familie der Kinder. Dies schließt für mich alle Familienbegriffe aus, die sich hauptsächlich auf eine gemeinsame Haushaltsform konzentrieren. Ich werde mich im Folgenden an den Familienbegriffen von Bertram und Nave-Herz orientieren, da sie sich meiner Meinung nach gut ergänzen.
Bertram stellt bei seinem Modell des Familiennetzes die gelebte Beziehung zwischen den Menschen sowie deren subjektive Wahrnehmung von Familie in den Mittelpunkt seiner Betrachtungsweise. Die von ihm beschriebene Familie ist von außen nicht ohne weiteres als solche zu identifizieren, eben da sie auf subjektiven Wahrnehmungen und Empfindungen beruht, und kann von dem nach außen sichtbaren ‚Familienbild’ abweichen. Dies beinhaltet auch die Möglichkeit, dass Menschen nicht – oder nicht mehr - als zur Familie gehörig empfunden werden, obwohl sie biologisch mit Familienmitgliedern verwandt sind. Darüber hinaus können Familienmitglieder derselben Familie voneinander abweichende Vorstellungen davon haben, wer zu ‚ihrer’ Familie gehört und wer nicht. Nave-Herz nennt objektive Merkmale, die es ermöglichen, von außen zu erfassen, ob es sich bei einer sozialen Gemeinschaft um eine Familie handelt oder nicht.
Beide Sichtweisen sind mir wichtig: Unter einer Familie verstehe ich in dieser Arbeit eine soziale Gemeinschaft, die sich durch die drei von Nave-Herz genannten Merkmale - biologisch-soziale Doppelnatur, besonderes Kooperations- und Solidaritätsverhältnis mit spezifischer Rollenstruktur und Generationsdifferenzierung – auszeichnet, und deren Mitglieder gemeinsam in einem Haushalt leben können aber nicht müssen. Um der Komplexität – und auch der Lebendigkeit – von ‚Familie’ gerecht zu werden, behalte ich im Blick, dass Menschen eine subjektive Wahrnehmung von ihrer Familie haben, welche sich nicht vollständig mit der von außen erkennbaren Familienstruktur decken muss und die für jedes Familienmitglied etwas anders aussehen kann.
Die Begriffe ‚Ehe’ und ‚Familie’ werden oft in einem Atemzug genannt und sind so eng miteinander verknüpft, dass sie eine Einheit zu bilden scheinen. Von vielen Menschen werden sie auch heute noch als Einheit wahrgenommen, doch es findet zunehmend eine Entkoppelung statt: ‚Familie’ ist nun auch denk- und lebbar, ohne dass sie zwangsläufig auf eine Ehe gegründet sein muss. Auch die Vorstellungen davon, was eine Ehe ausmacht und welche Funktionen sie erfüllen soll, haben sich stark gewandelt.
Noch vor 200 Jahren dominierte in Deutschland ein ökonomisch-rechtliches Ehemodell. Die Ehe diente zur Absicherung und Weitergabe von Besitz. Familienrechtliche Fragen wurden im Rahmen des Eigentumsrechts geregelt (vgl. Fthenakis, 2004, S. 145). Eine Ehe durfte nur geschlossen werden, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt waren, daher war vielen Menschen niederen Standes eine Eheschließung nicht möglich: Es fehlte ihnen an Besitz, an Mitgift oder an einem Beruf.
Kamen Ehen zustande, wurden sie unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten geschlossen und hatten zum Ziel, den Hausstand zu erhalten und zu vergrößern. Ausschlaggebend für die Wahl des Partners waren Stand, Zunft und Besitz, Gefühle spielten bei diesen Überlegungen kaum eine Rolle (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S. 17).
In der zu dieser Zeit agrarisch und handwerklich orientierten Gesellschaft waren Arbeit und Familie in der Institution des ‚ganzen Hauses’ unter einem Dach vereint, alle Mitglieder der Hausgemeinschaft zählten zur Familie. Familienzugehörigkeit war also nicht zwingend an Blutsverwandtschaft gekoppelt, sondern über die Zugehörigkeit zum ‚ganzen Haus’ definiert und schloss auch die Mägde, Knechte und Lehrlinge mit ein (vgl. Fthenakis, 2004, S. 139). Diese wirtschaftliche Gemeinschaft wurde vom Hausherrn geleitet und dominiert. Seine Macht war von Größe und ökonomischer Bedeutung des Hauses abhängig. Die ehelichen Verbindungen erwiesen sich meist als sehr stabil und tragfähig, was sich sowohl auf die starke soziale Kontrolle im Familienverband als auch auf das gemeinsame Interesse an Erhalt und Ausbau der Wirtschaftsgemeinschaft zurückführen lässt (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S. 17).
Während der Industrialisierung, die in Deutschland Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzte, kristallisierte sich eine Trennung von Arbeit und Familie heraus. Im Verlauf des gesellschaftlichen Wandels wurde das ökonomisch-rechtliche Ehemodell von einem institutionell-rechtlichen Ehemodell abgelöst: Die Motivation zur Ehe bestand jetzt nicht mehr darin, Besitz zu mehren und weiterzugeben, sondern es wurde nun die Gründung einer Familie angestrebt (vgl. Fthenakis, 2004, S. 145). Ehe und Elternschaft wurden eng miteinander verknüpft und die Kinder bekamen einen sozial-normativen Wert zugeschrieben: (eheliche) Kinder zu haben, führte zu einem Statusgewinn in der Gesellschaft. Sie fungierten als Träger des Familiennamens sowie als Wahrer von Familienbesitz, -stand und -tradition (vgl. ebd., S. 150).
Im Zuge der Trennung von Arbeit und Familie kam es innerhalb der Familie zu einer Spezialisierung der Rollen: Während der Mann einer Erwerbsarbeit außerhalb des Hauses nachging, blieb die Frau zu Hause. Sie hatte nun nicht mehr die Rolle der Wirtschaftsleiterin im ‚ganzen Haus’ und somit der Arbeitsgefährtin des Mannes, sondern wurde zur ‚Hausfrau’, die sich um die Kinder und den Haushalt kümmerte (vgl. Petzold, 1999, S. 6f). Ihr Lebenszusammenhang erfuhr eine Einschränkung, da sich ihr neuer Zuständigkeitsbereich ausschließlich auf den häuslichen Bereich bezog, der sich zum privaten familialen Binnenraum entwickelte. Der Mann wurde zum Ernährer der Familie und gewann so Autorität über Frau und Kinder, die von seiner Arbeitskraft abhängig waren. Eine patriarchalische Binnenstruktur der Familie entstand (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S. 18).
Ehen wurden nun immer weniger unter Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit geschlossen, Gefühle spielten zunehmend eine Rolle und der Faktor ‚Liebe’ gewann an Einfluss (vgl. Petzold, 1999, S. 8). Es kam zu einer Emotionalisierung und Intimisierung sowohl der Ehe als auch der Eltern-Kind-Beziehung (vgl. Fthenakis, 2004, S. 139). Die Partnerwahl wurde jedoch nach wie vor stark durch die Eltern, den Staat, die Kirche und andere bestimmt, die rechtliche und soziale Kontrolle war groß und die Scheidungsrate entsprechend gering (vgl. ebd., S. 145).
Eine weitere Folge des gesellschaftlichen Wandels war die allmähliche Befreiung von standesrechtlichen Beschränkungen. Nach und nach wurde es allen Erwachsenen möglich, eine Ehe einzugehen (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S. 19).
Der Wandel vom ‚ganzen Haus’ zur ‚privaten Familie’ ging mit der Entstehung des bürgerlichen Familienideals einher, welches auf dem neu entstandenen familialen Binnenraum basierte. Es war gekennzeichnet durch die Ideologie einer ‚glücklichen Familie’, bestehend aus einer ‚liebevollen Ehefrau’, ‚gehorsamen Kindern’ und einem Ehemann, der als ‚Ernährer’ fungierte. Das bürgerliche Familienideal durchdrang im 19. Jahrhundert alle Klassen und Schichten und wurde zum Vorläufer der traditionellen Kleinfamilie[1], die das 20. Jahrhundert prägte (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S. 18).
In den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg, angesichts der krisenhaften Zeiten und des Umbruchs, besannen sich die Menschen verstärkt auf die Familie. Es waren nun nicht mehr vorrangig ökonomische oder sozial-normative Faktoren für die Familiengründung entscheidend, vielmehr waren psychologische Gründe ausschlaggebend. Das Kind hatte nun die Aufgabe, seinen Eltern Freude zu bereiten und ihrem Leben (wieder) einen Sinn zu geben. Ein kindzentriertes Ehemodell etablierte sich (vgl. Fthenakis, 2004, S. 145).
Die starke Familienorientierung wurde auch in einem veränderten Freizeitverhalten deutlich: Vor dem zweiten Weltkrieg wurde Freizeit hauptsächlich dazu genutzt, um sich in Gruppen zu integrieren und zu engagieren, z. B. in einer Kirchengemeinde, der Nachbarschaft oder in Gleichaltrigengruppen. Nach dem zweiten Weltkrieg, besonders Ende der 1950er und in den 1960er Jahren, wurde sie zunehmend als Möglichkeit wahrgenommen, um sich in den familialen Binnenraum zurückzuziehen und die Freizeit gemeinsam mit den Familienangehörigen zu verbringen. Heute erscheint uns die Funktion der Familie, gemeinsam Freizeit zu gestalten, vielfach bereits als selbstverständlich (vgl. Nave-Herz, 2002, S.90).
Die traditionelle Kleinfamilie, bestehend aus einem verheirateten Paar, das mit seinen gemeinsamen Kindern in einer selbständigen Haushaltsgemeinschaft zusammenlebt, erlebte seine Blütezeit von Mitte der 1950er Jahre bis Mitte der 1960er Jahre. In dieser Zeit dominierte sie alle anderen Modelle des familialen Zusammenlebens und stellte eine „kulturelle Selbstverständlichkeit“ (Peuckert, 2004, S. 20) dar, die von den meisten Menschen auch ganz selbstverständlich und unhinterfragt gelebt wurde (vgl. ebd., S. 20).
Seit den 1960er Jahren jedoch sind Veränderungen sowohl in der Familienstruktur als auch in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und zwischen den Partnern festzustellen. Zahlreiche Kennzeichen deuten auf einen erneuten tiefgreifenden Wandel von ‚Familie’ hin (vgl. Fthenakis, 2004, S. 140).
Die Einstellung der Menschen zur Ehe verändert sich. So ist z. B. zu beobachten, dass ein auf Partnerschaft angelegtes Modell in Konkurrenz zu den bisherigen Ehemodellen tritt und zunehmend an Einfluss gewinnt.
Die Überlegung, ein Kind bekommen zu wollen, scheint bei vielen Menschen nicht mehr ausschlaggebend für die Wahl eines Partners oder eine Eheschließung überhaupt zu sein. Stattdessen wird eine qualitativ hochwertige Beziehung angestrebt, von der sich die Partner eine „Maximierung des individuellen Glücks“ (Fthenakis, 2004, S. 146) erhoffen. Die Parameter dieser auf Dauer angelegten Beziehung werden direkt zwischen den Partnern ausgehandelt. Diese Form des Zusammenlebens entzieht sich dadurch der sozialen Kontrolle wie kein anderes Modell zuvor, es ist weniger institutionalisiert und daher auch leichter aufzulösen als die bisherigen Modelle (vgl. ebd., S. 146).
Auch an weiteren Punkten wird ein Einstellungswandel deutlich:
Immer mehr Menschen leben allein. Der Anteil der Einpersonenhaushalte in Westdeutschland stieg in den Jahren 1972 bis 2000 um 10,3 Prozent. Im Jahr 2000 waren ca. ein Drittel aller Haushalte in Deutschland Einpersonenhaushalte (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 48f). Doch wenn Menschen alleine leben, bedeutet dies nicht zwingend auch das Fehlen einer intimen Partnerschaft: Die Lebensform ‚Living-apart-together’, bei der Paare in getrennten Haushalten leben, scheint vor allem für junge Leute und Geschiedene besonders attraktiv zu sein. Es gibt bisher keine aussagekräftigen Untersuchungen in diesem Bereich, doch wahrscheinlich wird ‚Living-apart-together’ überwiegend in solchen Fällen gewählt, in denen nicht Eltern- sondern Partnerschaft die zentrale Motivation für die Beziehung darstellt (vgl. Fthenakis, 2004, S. 141).
Bis in die 1970er Jahre hinein gab es eine Entwicklung hin zu Eheschließungen in immer jüngeren Jahren, seither hat sich der Alterstrend jedoch umgekehrt (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 63): 1989 schlossen Frauen in Ostdeutschland im Mittel im Alter von 23,7 Jahren ihre erste Ehe, im Jahr 2000 waren sie bei diesem Schritt im Durchschnitt bereits 28 Jahre alt. In Westdeutschland gaben die Frauen im Jahr 2000 im Mittel im Alter von 28,5 Jahren ihr Ja-Wort, die westdeutschen Männer waren bei ihrer Erstheirat im Schnitt 31,3 Jahre alt (vgl. ebd., S. 66).
Die Menschen heiraten nicht nur immer später, es ist auch ein deutlicher Rückgang der Erstheiratshäufigkeit festzustellen. Im Zeitraum von 1991 bis 1999 stieg in Deutschland die Anzahl lediger Männer im Alter von 40 bis 44 Jahren von 12,1 Prozent auf 18,2 Prozent. Bei den gleichaltrigen Frauen erhöhte sich die Quote von 6,8 Prozent auf 10,8 Prozent und bei fünf Jahre jüngeren Männern und Frauen ist ein noch stärkerer Anstieg zu beobachten.
Dies lässt darauf schließen, dass die Anzahl der Menschen, die langfristig oder auch dauerhaft ledig bleiben werden, weiter zunehmen wird (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 67). Wie viele der ledigen Menschen auch partnerlos sind, ist aus den Daten nicht ersichtlich. Aus der Entwicklung der Anzahl von Nichtehelichen Lebensgemeinschaften wird jedoch geschlossen, dass lediglich „ein Teil des sinkenden Erstheiratsumfangs […] durch die Zunahme unverheirateter Paare ‚kompensiert’“ (ebd., S. 68) wird.
Die Anzahl der Nichtehelichen Lebensgemeinschaften hat sich im Zeitraum von 1972 bis 2000 in Westdeutschland fast verzwölffacht. Im Jahr 2000 lebten in Deutschland insgesamt ca. 2,1 Millionen unverheiratete Paare in einem gemeinsamen Haushalt zusammen, in knapp einem Drittel der Haushalte zusammen mit einem Kind oder Kindern.
Viele Paare durchlaufen vor der Eheschließung eine Phase, in der sie unverheiratet zusammenleben. Doch die Nichteheliche Lebensgemeinschaft ist nicht nur als Vorphase zur Ehe zu verstehen. Sie hat sich als eigene Lebensphase etabliert, kann viele Jahre andauern und mündet nicht zwangsläufig in eine Ehe. Besonders beliebt ist diese Lebensform bei kinderlosen Paaren und in der Altersgruppe der 25- bis 34-jährigen (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 44f). Es besteht eine enge Verknüpfung zwischen Elternschaft und Eheschließung. Mit der Geburt eines Kindes werden daher viele Nichteheliche Lebensgemeinschaften zu Ehen umgewandelt (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 19).
Immer mehr Ehen werden nicht durch den Tod eines Ehepartners sondern durch Scheidung beendet (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 80). Auf diesen Aspekt gehe ich in Teil II der Arbeit näher ein.
Die Anzahl der Alleinerziehenden[2] nimmt zu. Im Jahr 2000 gab es in Deutschland 1,77 Millionen Alleinerziehende, wovon 85,5 Prozent Mütter waren. Seit 1975 ist die Zahl der Alleinerziehenden um ca. 50 Prozent gestiegen. In den vergangenen Jahrzehnten führten oft Ereignisse wie Verwitwung oder ledige Elternschaft zu dieser Lebensform, heute ist sie vermehrt die Folge von Scheidungen und Trennungen (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 39f).
Patchworkfamilien hat es zwar schon immer gegeben, doch ihr Gründungsanlass hat sich gewandelt. Noch vor einigen Jahrzehnten entstanden sie häufig durch Wiederheirat nach dem Tod eines Partners, heute resultieren sie immer öfter aus einer neuen Partnerschaft nach Trennung oder Scheidung (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 42). Bedingt durch das hohe Risiko, im Kindbett zu sterben, war die Lebenserwartung von Frauen lange Zeit deutlich niedriger als die der Männer. Daher waren Patchworkfamilien, in denen nicht mehr die leibliche Mutter der Kinder sondern eine neue Partnerin des Vaters lebte, bis vor wenigen Jahrzehnten sehr verbreitet (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 111).
Auch in diesem Punkt sind Veränderungen festzustellen: Heute leben ca. 90 Prozent der Kinder in Patchworkfamilien mit ihrer leiblichen Mutter und einem neuen Partner der Mutter zusammen. In etwa jeder zweiten Patchworkfamilie leben leibliche Kinder des Vaters und/oder leibliche Kinder der Mutter mit gemeinsamen Kindern des Paares zusammen. Im Jahr 1999 gab es in Deutschland etwa 850.000 Kinder, die in einer Patchworkfamilie lebten. Ungefähr 60 Prozent dieser Kinder lebten bei einem verheirateten Paar (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 42f).
An den Veränderungen in der Gesellschaft wird deutlich, dass sich die Einstellung der Menschen zur Ehe wandelt. Die Frage, ob dieser Wandel mit einem Bedeutungsverlust der Institution[3] Ehe einhergeht, wird in unterschiedlichen Erklärungsansätzen diskutiert.
So geht die These der Deinstitutionalisierung von einem absoluten Bedeutungsverlust der Ehe aus, da diese ihren verbindlichen Charakter verliert und die Familienform zunehmend frei gewählt wird. Die Ehe ist somit nur noch eine Option unter vielen und büßt ihre Verbindlichkeit als ‚das’ gesellschaftlich vorgegebene Lebensmodell ein, welches viele Jahre einen geradezu verpflichtenden Charakter hatte und die Lebensgestaltung vieler Menschen prägte (vgl. Dorbritz, 1999, S. 2).
Die These der institutionellen Anpassung geht nicht von einem Bedeutungsverlust sondern von einem Bedeutungswandel der Ehe aus. Sie stützt sich auf die These der ‚kindorientierten Ehegründung’[4] und vertritt die Ansicht, dass die Institution Ehe sowohl an Gewicht gewonnen als auch verloren hat: Wird Partner- und nicht Elternschaft angestrebt, wird oft der Nichtehelichen Lebensgemeinschaft der Vorzug gegeben, ‚Ehe’ erfährt eine Schwächung. Doch sobald es um Elternschaft geht, ändert sich das Bild, die Ehe gewinnt an Gewicht (vgl. Dorbritz 1999, S. 2). In dieser engen Verknüpfung von Ehe mit Elternschaft hat die Ehe „damit ihre eigentliche Bestimmung gefunden, nämlich sozialer Raum für das Leben mit Kindern“ (ebd., S. 2) zu sein.
Die Vertreter der These der begrenzten Deinstitutionalisierung gehen von einer geschwächten Institution Ehe aus, da sich ihre Verbindlichkeit als Lebensmodell vermindert, sie verstehen Deinstitutionalisierung jedoch nicht als Verfall und Auflösung. Sie sprechen der Ehe eine Selektionsfähigkeit zu, die die Gesellschaft polarisiert: Über die Institution der Ehe werden auch in Zukunft alle Lebensformen den Kategorien familial – nichtfamilial oder ehelich – nichtehelich zugeordnet, jedoch ohne dabei die nichtfamilialen und nichtehelichen Lebensformen zu diskriminieren (vgl. ebd., S. 2). Die Gesellschaft wird auf diese Weise in zwei Gruppen unterteilt: Zum einen in einen Familiensektor, der alle Lebensformen mit Kindern umfasst und dem die Verhaltensweisen ‚heiraten’ und ‚Kinder haben’ zugeordnet werden, zum anderen in einen Nichtfamiliensektor, dem alle Lebensformen ohne Kinder angehören und der mit den Verhaltensweisen ‚nicht heiraten’ und ‚kinderlos bleiben’ verknüpft ist (vgl. Strohmeier, 1993, S. 15f).
Dem Nichtfamiliensektor gehören nicht nur die Menschen an, die die Ehe grundsätzlich ablehnen. Oft hängt die Entscheidung für oder gegen Kinder – und Ehe - letztendlich eng mit der Vereinbarkeit bzw. der Unvereinbarkeit von Elternschaft und Beruf zusammen. Es kommt zu einem Entscheidungskonflikt und in vielen Fällen wird das angestrebte Ziel, Familie mit Erwerbstätigkeit zu vereinbaren, aufgegeben, da die Vereinbarkeitsbedingungen zu ungünstig erscheinen (vgl. Dorbritz, 1999, S. 3f).
Dorbritz deutet den Anstieg der Scheidungsquote und die Etablierung der Nichtehelichen Lebensgemeinschaft als Alternative zur Ehe als Schritte in Richtung einer Deinstitutionalisierung, die jedoch kurz- und mittelfristig nicht voll eintreten wird. Er geht zunächst von einem relativ stabilen Nebeneinander von Familien- und Nichtfamiliensektor im Sinne einer begrenzten Deinstitutionalisierung aus, mit einer schrittweisen Ausweitung des Nichtfamiliensektors. Doch auf lange Sicht „könnte die Einrichtung der Ehe […] auf dem Weg zu einer Institution sein, deren rechtliche, traditionelle und kirchliche Stützung fortbesteht, deren handlungsorientierender Charakter aber verloren gegangen ist“ (Dorbritz, 1999, S. 5).
Nave-Herz geht davon aus, dass nicht die Ehe an sich an Bedeutung verliert, sondern dass sich die Erwartungen der Menschen an die Ehe verändert haben. Der institutionelle Charakter der Ehe tritt in den Hintergrund. Die Ehe ist im Laufe der Zeit unverbindlicher geworden und ihr ‚Regelsystem’ ist heute mit weniger Normen verbunden als noch vor 50 Jahren. Der Beziehungsaspekt zwischen den Partnern tritt in den Vordergrund, die Qualität der Beziehung wird immer wichtiger und die Beziehung an sich wird als Ressource empfunden.
Erfüllt die Beziehung die Erwartungen nicht, kann dies heute schneller zum Bruch führen, die Scheidungsraten steigen (vgl. Nave-Herz, 2002, S.125f). Doch „dass die institutionelle Sichtweise von Ehe im Zeitablauf abgenommen hat, heißt […] eben nicht, dass damit generell die Ehe infrage gestellt wird, sondern nur die eigene. Man löst die Ehe nämlich auf, weil man den Wunsch auf Erfüllung einer idealisierten Partnerschaft und die hohen emotionalen Erwartungen an Ehe nicht aufgibt“ (ebd., S.126).
Nicht nur die Ansprüche an die Partnerschaft haben sich gewandelt, auch die Erwartungen an ‚Familie’ haben sich verändert. Die Familie wird heute nicht mehr vorrangig als Wirtschaftsgemeinschaft verstanden. Sie ist auch mehr als nur eine soziale Gemeinschaft, in der Kinder geboren und sozialisiert werden.
Angesichts des Leistungsdrucks und der hohen Anforderungen in der Erwerbswelt ist ‚Familie’ heute für viele Menschen der Ort, an den sie sich zurückziehen können, um sich zu regenerieren. Hier möchten sie Ruhe, Geborgenheit, Liebe, Zärtlichkeit, Harmonie, Schutz und Rückhalt finden. Die Familie soll Raum bieten für Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung des Einzelnen, hier erhoffen sich die Menschen ihr persönliches Glück. Darüber hinaus soll die Familie dem Anspruch gerecht werden, ein idealer Ort für die Entwicklung von Kindern zu sein (vgl. Petzold, 1999, S. 7). Aufgrund des gestiegenen Drucks und des immer stärkeren Zwangs, mobil und flexibel zu sein, hat die Familie als scheinbarer ‚Garant’ für Verlässlichkeit und Erholung heute einen höheren Stellenwert als noch in den 1980er Jahren (vgl. Meier, 2002, S. 3).
Doch nicht nur die Familienmitglieder selbst haben Vorstellungen davon, was ‚Familie’ leisten soll, auch von der Gesellschaft, deren Teil die Familien sind, werden Erwartungen an sie herangetragen: Der Hauptanspruch besteht sicher darin, dass in einer Familie Kinder geboren und durch ‚gute’ Erziehung zu ‚wertvollen’ Mitgliedern der Gesellschaft ‚gemacht’ werden sollen. Hier sollen nicht nur Werte und Verhaltensweisen vermittelt werden, auch an der Bildung der Kinder im Sinne der Lernstoffvermittlung sollen sich die Eltern beteiligen. Es wird erwartet, dass sie ihre Kinder bei den Hausaufgaben unterstützen, ihnen bei Problemen helfen und – falls nötig – für Nachhilfeunterricht sorgen. Darüber hinaus besteht die Erwartung der gegenseitigen Unterstützung innerhalb der Familien. Alte Menschen werden von ihren Angehörigen gepflegt und finanziell schlecht gestellte Familienmitglieder finden familieninterne Unterstützung.
Dem Idealbild nach soll ‚Familie’ heute ein Ort sein, an dem sich der Mensch einfach ‚fallen lassen’ kann, an dem seine emotionalen Bedürfnisse erfüllt werden, der einen optimalen Schutz-, Regenerations- und Entwicklungsraum bietet und dabei möglichst weder Arbeit noch Einsatz erfordert. Darüber hinaus sollen im Rahmen der Familie gesellschaftliche Aufgaben bewältigt und soziale Probleme aufgefangen und gelöst werden.
Als weitere Kennzeichen für den Wandel der Familie werden in der Literatur vielfach eine steigende Pluralität der Familienformen und eine zunehmende Individualisierung angeführt.
In der Pluralitätsthese wird davon ausgegangen, dass sich zunehmend unterschiedliche Familienformen etablieren und die ‚traditionelle’ Familie als verbindliches Lebensmodell verdrängen. Kombiniert man die denkbaren Rollenzusammensetzungen von Familie (Zwei-Eltern- oder Ein-Eltern-Familie) mit den heute – auch rechtlich – möglichen Familienbildungsprozessen, so ergibt sich eine ganze Reihe unterschiedlicher Familienformen, die zumindest denkbar sind (vgl. Abb. 1).
Die Wahl einer Familienform ist nicht unbedingt endgültig, es können unterschiedliche Familienformen durchlaufen werden: So kann z. B. auf eine Ehe eine Mutter-Familie folgen, die durch Scheidung oder durch den Tod des Partners entstanden ist, und sich vielleicht durch eine neue Partnerschaft schließlich zu einer Nichtehelichen Lebensgemeinschaft wandeln. Die ‚traditionelle’ Familie, basierend auf einem Ehepaar, das mit seinen leiblichen Kindern zusammenlebt, ist in diesem Schema nur noch eine Option unter vielen (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 16f).
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Abb. 1, Typologie von Familienformen
(in Anlehnung an Nave-Herz, 2002, S. 17)
Keine dieser Familienformen, die in der Typologie erscheinen, ist neu. Vor allem in der Zeit vor der Industrialisierung stellten sie jedoch überwiegend keine eigenständigen Systeme dar, sondern waren Teil eines größeren Systems, z. B. einer großen Haushaltsfamilie. Sie traten vorrangig in den unteren sozialen Schichten auf.
Im Laufe der Zeit nahm die Verbreitung der anderen Familienformen zugunsten der ‚traditionellen’ Familie ab, welche in den 1950er und 1960er Jahren eine hohe Popularität genoss und ihre stärkste Verbreitung erfuhr. Danach wurde sie wieder zunehmend durch die anderen Familienformen ergänzt, die heute mehr und mehr ebenfalls gesellschaftlich akzeptiert werden und inzwischen auch unter finanziellen Gesichtspunkten reale Alternativen darstellen. Heute sind diese Lebensformen in allen gesellschaftlichen Schichten zu finden (vgl. ebd., S. 23).
Eine Vielfalt der familialen Lebensformen ist also denkbar, doch die Realität sieht anders aus: Die ‚traditionelle’ Familie besitzt auf normativer Ebene nach wie vor eine hohe subjektive Bedeutung und wird von vielen Menschen als bevorzugte Familienform angestrebt. 82% aller Kinder in Deutschland wachsen nach wie vor in ihr auf (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 26).
Bei den Lebensformen ohne Kinder sieht das Bild ganz anders aus: Hier haben sich neue Wohn- und Lebensformen etabliert, es gibt z. B. zahlreiche Nichteheliche Lebensgemeinschaften, ‚Singlehaushalte’ und ‚Living-apart-together’. „Auf diese kinderlosen Lebensformen kann sich also realiter nur die Pluralitätsthese beziehen; in Bezug auf die Familienformen verweist sie – bisher jedenfalls noch – überwiegend lediglich auf Optionen“ (ebd., S. 29).
Im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wandel in Deutschland wird auch von einer Individualisierung der Lebensverläufe gesprochen, also von einer „Freisetzung der Individuen aus traditionellen Bindungen“ (Dorbritz, 1999, S. 1). Dies führt dazu, dass Lebensverläufe individueller gestaltet werden können – aber auch müssen – da sie nicht mehr durch traditionelle Werte und Vorgaben ‚vorgezeichnet’ sind. Die Optionen, die ein Mensch bei der Gestaltung seines Lebens hat, nehmen also - faktisch - zu.
Doch auch Tendenzen zur Individualisierung lassen sich hauptsächlich bei den Lebensformen ohne Kinder beobachten, z. B. durch die Orientierung weg von der ‚Hausfrauenehe’, hin zu beruflichen und persönlichen Herausforderungen und Karriere. Bei den Lebensformen mit Kindern ist keine deutliche Zunahme der Biographieoptionen zu erkennen (vgl. Dorbritz, 1999, S. 4).
Die Lebens- und Familienzyklen der Menschen in Deutschland verändern sich. So hat sich z. B. die Lebensphase bis zur Familiengründung, die noch bis vor ca. 30 Jahren durch die Abfolge geprägt war ‚Partner kennen lernen, sich verloben, dann heiraten und gemeinsame Kinder bekommen’, stark verändert.
Wie unter ‚3.3 Steigende Pluralität der Familienformen und Individualisierung’ in Teil I beschrieben, haben sich neue Lebensformen etabliert, die in dieser Zeit durchlaufen werden. Viele Menschen erproben mehrere dieser Formen und wechseln - je nach Lebenslage – von einer zur anderen (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 26).
Darüber hinaus erfolgt der Übergang zur Elternschaft immer später[5], doch wenn er erfolgt, entscheiden sich viele Paare für eine Eheschließung (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 19). Nach Eheschließung und Geburt eines Kindes verläuft für zwei Drittel aller Paare das weitere Leben in folgenden Phasen ab: Familienphase, nachelterliche Phase, Tod des Mannes / Verwitwung der Frau, Tod der Frau.
Die Phasen an sich sind nicht neu, doch die Dauer der einzelnen Phasen hat sich stark verändert. Wie in Abbildung 2 dargestellt, erfuhr die nachelterliche Phase eine Verlängerung, während sich die Familienphase, in der Kinder versorgt werden, deutlich verkürzte: Noch vor 100 Jahren nahm die Familienphase mehr als die Hälfte der Lebenszeit in Anspruch, heute hingegen nur noch ein Viertel (vgl. ebd., S. 26f).
Diese Veränderungen sind hauptsächlich auf die sinkende Geburtenrate, die mit einer geringeren Kinderzahl in den Familien einhergeht, und auf die steigende Lebenserwartung der Menschen zurückzuführen[6] (vgl. Fthenakis, 2004, S. 140).
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Der Rückgang der Kinderzahl pro Familie wird daran deutlich, dass ein immer größer werdender Anteil der sechs- bis neunjährigen Kinder noch keine Geschwister hat. Da diese Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit Einzelkinder bleiben werden, wird langfristig von einer Zunahme der Ein-Kind-Familien ausgegangen (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 73).
Diese Entwicklung ist durch viele miteinander verflochtene Faktoren bedingt. Ich möchte einen Faktor herausgreifen, der eng mit dem Wandel der Familie zusammenhängt: Das Selbstverständnis vieler Eltern hat sich verändert, sie haben einen hohen Anspruch an sich selbst und wollen ihre Elternrolle möglichst gut erfüllen, was viel Zeit und Energie erfordert. Vor allem die Mütter verwenden heute sehr viel mehr Ressourcen als früher darauf, eine intensive Beziehung zu ihrem Kind zu entwickeln, Zeit mit ihm zu verbringen und ihm Aufmerksamkeit zu schenken (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 34f).
Darüber hinaus sind Veränderungen im Erziehungsverhalten festzustellen: Viele Eltern legen zunehmend Wert darauf, ihre Entscheidungen zu begründen und so für das Kind einsichtig zu machen. Sie suchen mit den Kindern gemeinsam nach Lösungen für Probleme und streben an, mehr zu reden und zu verhandeln als zu befehlen und zu verbieten. Auch dies erfordert viel Zeit und Energie (vgl. ebd, S. 69). Diese hohen Leistungen zu erbringen ist nur bei einer geringen Anzahl von Kindern überhaupt möglich.
Erst nach der Geburt des ersten Kindes merken die Eltern, wie hoch die tatsächliche Belastung durch das Kind – bzw. auch durch ihre eigenen Ansprüche an sich selbst als Eltern – ist, und geben daraufhin den Wunsch nach weiteren Kindern oft auf. Durch die Einzelkindsituation ist das Kind jedoch noch stärker auf die Eltern als Ansprechpartner angewiesen, was von den Eltern wiederum einen höheren Einsatz erfordert (vgl. ebd., S. 33ff).
Die höhere Lebenserwartung der Menschen führt zu einer extremen Verlängerung der nachelterlichen Phase und macht es heute vielfach möglich, dass Kinder ihre Großeltern und zum Teil auch ihre Urgroßeltern kennen lernen (vgl. ebd., S. 26). Die Phase der Großelternschaft beginnt oft bereits im mittleren Lebensalter, die Beziehungen zwischen Großeltern und Enkelkind können sich über viele Jahre entwickeln und bleiben zum Teil bis ins Erwachsenenalter der Enkel erhalten.
Die geringere Geburtenrate und die zunehmende Anzahl von Einzelkindern führen dazu, dass es innerhalb der Generationen immer weniger Seitenverwandte wie z. B. Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen oder Geschwister gibt. Viele Großeltern haben deshalb nur noch eine kleine Anzahl von Enkeln. Dies ermöglicht eine enge Beziehung, die meist relativ frei von Erziehungsverantwortung gestaltet werden kann.
Die Phase der Großelternschaft wird zunehmend als besondere Lebensphase empfunden, in der es nicht nur um die Weitergabe von Werten und Wissen geht, sondern in der auch die eigene Vergangenheit als Kind und Elternteil reflektiert werden kann und die Fortsetzung der Familie in die Zukunft erlebt wird. Besonders in Krisensituationen wie Trennung oder Scheidung haben die Großeltern darüber hinaus in vielen Familien eine unterstützende Funktion (vgl. Fthenakis, 2004, S. 142f).
Wie in Teil I unter ‚3.4 Zeitliche Veränderungen der Lebens- und Familienzyklen’ beschrieben, hat sich die Familienphase, also die Phase, in der Eltern ihre Kinder versorgen und meist mit ihnen in einer Haushaltsgemeinschaft leben, im Verlauf der letzten 100 Jahre stark verkürzt und macht jetzt – statistisch gesehen - nur noch ca. ein Viertel der Lebenszeit aus.
Diese Entwicklung hat nach Nave-Herz vor allem Folgen für die Lebensgestaltung von Frauen: Wenn sie sich normativ auf die Rolle als Mutter festschreiben lassen, warten sie - statistisch gesehen - ein Viertel ihres Lebens darauf, dass das ‚richtige’ Leben in Form der Familienphase beginnt, und verbringen zwei Viertel ihres Lebens mit der Gewissheit, dass das Leben eigentlich schon vorbei ist, da sie ihre Aufgabe bereits erfüllt haben (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 27).
Tatsächlich ist zu beobachten, dass sich immer mehr Mütter nicht mehr nur auf die Familie konzentrieren, sondern auch aktiv am Erwerbsleben teilnehmen. War im Jahr 1950 erst jede vierte Mutter mit minderjährigen Kindern erwerbstätig, so stehen heute fast zwei Drittel der Mütter mit Kindern unter 15 Jahren im Berufsleben (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 40).
Vor allem höher gebildete Frauen wollen oft nicht einfach ‚nur’ erwerbstätig sein, sondern streben auch eine Karriere an. Ihre Karrieremotivation ist heute in vielen Fällen genauso hoch wie die von Männern, manchmal auch höher. Viele Frauen streben Erwerbstätigkeit und/oder Karriere an, haben jedoch außerdem den Wunsch, Kinder zu bekommen. Oft beschäftigen sie sich bereits bei der Berufswahl mit den Möglichkeiten der Vereinbarung von Familie und Beruf. Je nachdem, ob sie ihre Priorität auf die Familiengründung oder auf Erwerbstätigkeit und Karriere legen, stellen sie entweder die beruflichen Ziele oder den Kinderwunsch etwas zurück, doch angestrebt wird eine Vereinbarung beider Bereiche[7] (vgl. Kümmerling/Dickenberger, 2001, S. 1f).
Diese Doppelorientierung führt in vielen Fällen zu einer Doppelbelastung, da auch heute noch sehr viele Frauen – ob erwerbstätig oder nicht – die Hauptverantwortung für Haushalt und Kindererziehung tragen. Das Dilemma dieser Frauen besteht darin, dass sie einerseits mit der Bewältigung beider Bereiche überlastet sind. Wenn sie sich andererseits jedoch zwischen ihnen entscheiden und sich entweder nur mit dem häuslichen Bereich oder ausschließlich mit ihrem Beruf begnügen sollten, so wäre ihnen das zu wenig (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 43).
Nicht nur die Rolle der Mutter, auch die Vaterrolle verändert sich: Viele ‚werdende’ Väter begleiten heute ihre Frauen während der Schwangerschaft und sind bei der Geburt dabei. In der Säuglings- und Kleinkindphase beteiligen sie sich stärker an der Betreuung des Kindes als z. B. die Väter vor 40 Jahren und spielen mit ihren Kindern. Es ist eine Entkoppelung des emotionalen Verhaltens gegenüber Kindern von der Mutterrolle festzustellen: Es wird nun auch von Vätern gezeigt, was noch vor wenigen Jahrzehnten als ‚unmännlich’ und daher unvorstellbar galt (vgl. ebd., S. 58ff). Diese Veränderungen spiegeln sich auch in den Vaterschaftskonzepten vieler Paare wider: Die soziale Funktion des Vaters wird als etwas höher eingeschätzt als seine ‚Brotverdienerfunktion’. Jeweils 66 Prozent der Väter und Mütter sehen den Vater als Erzieher, die anderen nehmen ihn als ‚Ernährer’ wahr (vgl. Fthenakis/Minsel, 2002, S. 196f).
Doch grundlegend verändert hat sich die Vaterrolle deshalb noch nicht: Kinderlose Männer haben Idealvorstellungen von der Aufgabenteilung in der Familie nach der Geburt eines Kindes, die stark von ihrem Geschlechtsrollenverständnis abhängen. Traditionell eingestellte Männer streben eine Aufgabendifferenzierung, egalitär eingestellte hingegen eine gleichmäßige Beteiligung beider Partner an. Nach der Geburt eines Kindes kommt es jedoch bei den meisten Paaren zu einer Traditionalisierung der Rollen, der Vater zieht sich aus den häuslichen Aufgabenbereichen zurück und die Frau übernimmt mehr Aufgaben allein (vgl. ebd., S. 94).
Es sind nach wie vor überwiegend die Mütter, die für die Organisation des Tagesablaufs und für Routineaufgaben zuständig sind, während sich die Väter hauptsächlich auf gemeinsames Spielen mit dem Kind und weitere Tätigkeiten ähnlicher Art beschränken. Auch der häusliche Bereich fällt nach wie vor oft in den Verantwortungsbereich der Mutter (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 60).
Die Einstellung der Väter wirkt sich nur gering auf die tatsächliche Aufgabenverteilung aus. Es kommt zu einer Differenz zwischen dem angestrebten Ideal- und dem Realzustand, wobei diese Differenz bei den Personen am größten ist, die egalitär eingestellt sind. Traditionell eingestellte Mütter sind nach der Geburt eines Kindes daher meist zufrieden, während Mütter mit auf Gleichheit bedachten Vorstellungen in Bezug auf die Arbeitsteilung in der Familie am unzufriedensten sind.
Bezüglich des Vaterschaftskonzepts der Männer treten nach der Geburt unter Umständen Veränderungen auf, die mit der Partnerschaftsqualität in Verbindung stehen: Je höher die Qualität der Partnerschaft eingeschätzt wird, desto eher tendieren sie zu dem Konzept ‚Vater als Erzieher’. Mit abnehmender Beziehungsqualität kommt es zu einem Rückzug aus der Erzieherrolle und zu einer verstärkten Orientierung auf die Funktion des Ernährers (vgl. Fthenakis/Minsel, 2002, S. 94f).
In unserer Gesellschaft ist auch heute noch die Vaterrolle eng mit der Erwartung verknüpft, für die materielle Sicherheit der Familie zu sorgen. Dass ein Mann auf seine Karriere verzichtet, um sich um seine Kinder zu kümmern, wird von ihm nicht verlangt. Doch wenn er es tut, ruft dies bei vielen Leuten Erstaunen, Be- oder Verachtung oder auch Bewunderung hervor. Diese Reaktionen zeigen, dass ein solches Verhalten nicht als selbstverständlich empfunden wird (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 60f). Auch wenn „der Entdifferenzierungsprozess zumindest im Hinblick auf einige Rollensegmente begonnen hat, so kann man dennoch nicht von einem grundsätzlichen Wandel der Vater-Rolle sprechen, da letztlich der Prozess der Aufhebung der Polarität zwischen der Vater- und Mutterrolle noch nicht abgeschlossen ist“ (Nave-Herz, 2004, S. 184).
Das Verständnis davon, was ‚Kindheit’ eigentlich ist und was genau sie ausmacht, unterliegt einem ständigen Wandel, eine einheitliche Definition kann es daher kaum geben. Schlägt man den Begriff im Lexikon nach, stößt man z. B. auf folgende Formulierung: „Im allgemeinen Sprachgebrauch bezieht sich die Bezeichnung Kind […] auf den Menschen bis zum Eintritt ins Jugendalter. Der dabei durchlaufene Zeitraum, die Kindheit, wird zwar in den meisten Kulturkreisen vom Erwachsenenalter abgegrenzt, die Vorstellung von der Natur und der Dauer des Kindesalters unterliegt jedoch beträchtlichen historischen Veränderungen, bei denen vor allem ethnospezifische und soziokulturelle Faktoren eine Rolle spielen“ (Brockhaus, 1990, S. 680).
Lange Zeit besaßen Kinder in Deutschland keinen eigenen gesellschaftlichen Wert: Man konnte sich ihrer problemlos entledigen, gab sie fort oder nutzte sie als preiswerte Arbeitskräfte. Eine Kindheit im heutigen Sinne war unbekannt, Kinder galten als ‚kleine Erwachsene’ und wurden entsprechend behandelt. Die Abgrenzung der Kindheit als eigene, wichtige Lebensphase erfolgte erst im 18. Jahrhundert und war begleitet von dem Bemühen der Eltern, das ‚speziell Kindliche’ an ihren Kindern zu erkennen und ihre Bedürfnisse sowie ihr Handeln, Denken und Erleben zu verstehen (vgl. Petzold, 1999, S. 9f).
Während Kinder noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Besitz ihres Vaters verstanden wurden und kaum Rechte oder staatlichen Schutz genossen, änderte sich diese Sichtweise ab Mitte des 19. Jahrhunderts: Erste Kinder- und Jugendschutzgesetze wurden auf den Weg gebracht, die allgemeine Schulpflicht wurde eingeführt und der Staat begann, Verantwortung für Heim- und Waisenkinder zu übernehmen (vgl. unicef, 2001, S. 11). Der Bereich der Bildung und Ausbildung wurde neu gestaltet und ausgebaut. Kinder sollten nun nicht mehr nur körperlich ‚großgezogen’, sondern auch in die komplexe Gesellschaft eingegliedert werden. Sozialisation war zu einer wichtigen gesellschaftlichen Aufgabe geworden (vgl. Petzold, 1999, S. 10).
Nichtsdestotrotz wurden Kinder bis in das 20. Jahrhundert hinein vielfach begriffen als „Objekte der Fürsorge, als Unfertige, deren Hauptaufgabe darin bestand, sich auf eine Zukunft als Erwachsene vorzubereiten“ (unicef, 2001, S. 11). Vom Ende des Zweiten Weltkriegs an bis heute entwickelte sich ein Verständnis von Kindern als eigenständige Persönlichkeiten, die sich in einer besonderen und wertvollen Lebensphase befinden. Sie sind zwar aufgrund ihrer mangelnden – auch körperlichen – Reife und ihrer geringen Lebenserfahrung in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt und schutzbedürftig, verdienen aber dennoch Respekt und müssen ernst genommen werden (vgl. unicef, 2001, S. 11).
Auch die ‚Nutzenerwartung’ an Kinder hat sich verändert. In unserer heutigen Industriegesellschaft werden Kinder nicht mehr vorrangig mit materiellen und sozial-normativen Werten verbunden und z. B. als Arbeitskräfte im Familienbetrieb oder als ‚Alters- und Krankenversicherung’ für die Eltern benötigt. Dass Kinder als Wahrer von Familienbesitz und -namen auftreten, spielt in vielen Familien keine entscheidende Rolle mehr und auch der ‚Statusgewinn’, der durch den Stand der Elternschaft erreicht werden kann, ist in unserer Gesellschaft nicht mehr stark ausgeprägt (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 32).
Stattdessen versprechen sich heute viele Eltern einen psychischen ‚Nutzen’ von ihren Kindern. Sie empfinden Freude, wenn sie das Aufwachsen des Kindes erleben und gestalten können, erleben sich selbst als wichtig für das Kind und das eigene Leben als sinnvoll. Die Eltern-Kind-Beziehung wird vielfach partnerschaftlich gestaltet, die kindliche Autonomie wird zunehmend anerkannt und die Kinder werden in ihrer persönlichen Entwicklung unterstützt und gefördert (vgl. Fthenakis, 2004, S. 150). Eltern beschäftigen sich mit den Vor- und Nachteilen unterschiedlicher Erziehungsmethoden. Für Erziehungsratgeber und Bücher über kindliche Entwicklung, für Fernsehsendungen zu diesen Themen und viele verschiedene Unterstützungsangebote wie z. B. Elternkurse scheint der Markt uferlos.
Doch über all das darf man dennoch nicht aus dem Blick verlieren, dass auch heute noch Kinder in Deutschland die ‚Schattenseiten’ von Familie erleben, z. B. in Form von Gewalt in den verschiedensten Ausprägungen (siehe ‚4 Familie und Gewalt’ in Teil I).
Eine weitere Veränderung der Sozialisationsbedingungen von Kindern besteht heute darin, dass sie zunehmend ohne Geschwister aufwachsen (siehe in Teil I ‚3.4 Zeitliche Veränderungen der Lebens- und Familienzyklen’). Dies hat unter anderem zur Folge, dass sie bestimmte soziale Erfahrungen nicht machen können.
So können z. B. Geschwister – im Gegensatz zu Einzelkindern - ein eigenes System in der Familie bilden, welches ein Gegengewicht zu den Eltern darstellt und sowohl zu große Nähe als auch distanziertes Verhalten der Eltern zumindest zum Teil auffangen kann. In dieser Gemeinschaft kann Loyalität, gegenseitige Unterstützung, Kooperation und Vertrauen erlebt werden und als Koalition haben die Geschwister eine bessere ‚Verhandlungsposition’ gegenüber den Eltern. Die Geschwister können sich aufeinander beziehen und verlassen und sind daher nicht so sehr auf die Eltern als Ansprechpartner angewiesen wie ein Einzelkind. Doch diese positiven Aspekte werden durch negative ergänzt: Eine Geschwistergemeinschaft kann ebenso geprägt sein von Konkurrenz, Neid, Rivalität, Abneigung bis zu Hassgefühlen und gegenseitiger Erniedrigung (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 75f).
Die Einzelkindsituation an sich lässt sich also nicht einfach als durchweg negativ oder positiv bewerten, die individuelle Situation jedes Kindes muss Beachtung finden. Auch Kompensationsmöglichkeiten, z. B. in Form von Spielgruppen, müssen dabei berücksichtigt werden.
Nicht nur die Stellung des Kindes in der Gesellschaft und in der Familie hat sich verändert, auch die Kindheit selbst hat Veränderungen erfahren. Das Lebensumfeld vieler Kinder ist heute so, dass sie nicht allein draußen spielen können. Vor allem Kinder, die in Städten leben, sind durch ein stark erhöhtes Verkehrsaufkommen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Auch in kleineren Städten und ländlichen Gebieten lassen viele Eltern ihre Kinder aus Angst vor Übergriffen nur noch ungern allein nach draußen.
Darüber hinaus stehen den Kindern Freizeitbeschäftigungen zur Verfügung, die noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar waren: Sie haben Zugriff auf Fernseher und Computer, auf Playstation und andere elektronische Spielzeuge. Die Freizeitgestaltung vieler Kinder verlagert sich von draußen nach drinnen, in die Wohnung, wo oft allein gespielt wird. Treffen mit Freunden und Freizeitaktivitäten in Sportvereinen, Musikschulen oder ähnlichen Einrichtungen können oft nur realisiert werden, wenn die Eltern – oft die Mütter – die Kinder mit dem Auto bringen und abholen. Eine spontane Freizeitgestaltung ohne Absprachen und die Einhaltung von Terminen tritt in den Hintergrund.
Gewalt ist in den unterschiedlichsten Ausprägungen in vielen Familien zu finden, obwohl dies den idealisierten Vorstellungen von Familie zuwiderläuft und den Erwartungen an sie in keiner Weise entspricht. ‚Familie und Gewalt’ ist ein so komplexes, vielschichtiges und umfassendes Thema, dass ich es im Rahmen dieser Arbeit nur in verkürzter Form thematisieren kann. Doch da es für die Lebensrealität vieler Familien bedeutsam ist und oft im Zusammenhang mit Trennung und Scheidung steht, ist mir wichtig, es anzusprechen.
Gewalt innerhalb der Familien hat es schon immer gegeben und war lange Zeit – in bestimmten Grenzen – als Erziehungsmittel anerkannt[8]. Gewalt, die über diesen Rahmen hinausging, wurde bis vor ca. 30 Jahren tabuisiert und ignoriert, da sie dem idealisierten Bild der ‚harmonischen Familie’ so stark zuwiderlief, dass sie schlichtweg undenkbar war (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 82f). Inzwischen setzt sich immer mehr die Einsicht durch, dass es Gewalt in Familien gibt – und zwar in allen gesellschaftlichen Schichten. Obwohl sie heute vielfach in der Gesellschaft thematisiert, von vielen Menschen als Problem erkannt und auch bearbeitet wird, ist die Dunkelziffer hoch: Es wird nach wie vor nicht gerne darüber gesprochen.
Doch selbst wenn darüber gesprochen wird: Was genau ist denn Gewalt? Wo fängt Misshandlung an? Diese Fragen sind zwar viel diskutiert aber nicht abschließend geklärt, da der Begriff ‚Gewalt’ ebenso wenig zu fassen ist, wie der Begriff ‚Familie’. Auch er ist von subjektiven Empfindungen und individuellen Erfahrungen geprägt. Was der eine Mensch bereits als Gewalt empfindet, muss für einen anderen Menschen noch lange keine sein. Auch an den Gewaltbegriff ist daher nur eine Annäherung möglich.
Um jedoch überhaupt über Gewalt reden zu können, ist es wichtig, sich auf eine solche Annäherung an den Gewaltbegriff zu verständigen, die als ‚gemeinsamer Nenner’ dienen kann. Je nach Gesichtspunkt fällt diese Annäherung unterschiedlich aus und beleuchtet jeweils nur einen Ausschnitt des gesamten Spektrums. Um dies zu verdeutlichen, stelle ich kurz vier unterschiedliche Blickwinkel auf Gewalt vor:
Bei der Annäherung an den Begriff der Gewalt spielt der Beziehungsaspekt eine wichtige Rolle, denn alle Formen familialer Gewalt werden zur Durchsetzung von Macht in sozialen Beziehungen genutzt und können sowohl zu psychischen als auch zu physischen Schäden bei den betroffenen Menschen führen (vgl. Rothe, 1994, S. 192). Die Gewalt bezieht sich „nicht nur auf sichtbare Handlungen von Familienmitgliedern, sondern insgesamt auf das konkrete Zusammenleben, auf die Beziehung der Geschlechter (Frau und Mann) und der Generationen (Eltern und Kinder), deren Beziehungen strukturiert werden durch die Bedürfnisse der einzelnen Individuen und ihre Deutungsmuster und gegenseitigen Erwartungen“ (ebd., S. 189).
Pernhaupt und Czermak führen die – auch langfristig möglichen - Folgen von Gewalt vor Augen: „Misshandlung im weitesten Sinne ist jede gewalttätige oder unnötig einengende Handlung an Kindern (oder deren Vernachlässigung), als deren Folge Angst, seelisches Leid und/oder körperliche Verletzung auftreten. Die Misshandlung muss keine sofort feststellbaren seelischen oder körperlichen Spuren hinterlassen; die Auswirkungen einer Misshandlung können auch erst nach einer sehr langen Latenzzeit sichtbar werden“ (Pernhaupt/Czermak, 1980, S. 86; Hervorhebung auch im Original).
Das Kinderschutzzentrum Berlin nimmt verschiedene Ebenen in den Blick und setzt sie in Beziehung zueinander, wodurch eine sehr komplexe aber auch umfassende Konstruktion des Begriffs ‚Kindesmisshandlung’ entsteht:
„ KINDESMISSHANDLUNG
- ist ein das Wohl und die Rechte eines Kindes (nach Maßgabe gesellschaftlich geltender Normen und begründeter professioneller Einschätzung) beeinträchtigendes Verhalten oder Handeln bzw. ein Unterlassen einer angemessenen Sorge
- durch Eltern oder andere Personen in Familien oder Institutionen (wie z. B. Kindertagesstätten, Schulen, Heimen oder Kliniken),
- das zu nicht-zufälligen, erheblichen [9] Verletzungen,
zu körperlichen und seelischen Schädigungen
und/oder Entwicklungsgefährdungen eines Kindes führt,
- die die Hilfe und eventuell das Eingreifen von Jugendhilfe-Einrichtungen in die Rechte der Inhaber der elterlichen Sorge im Interesse der Sicherung der Bedürfnisse und des Wohls eines Kindes notwendig machen“ (Kinderschutz-Zentrum Berlin, 2000, S. 26; Hervorhebungen und Fußnote auch im Original).
Nave-Herz nennt einen Gewaltbegriff, bei dem das Motiv für Gewaltausübung in den Blick genommen wird: „Mit ‚Gewalt’ bezeichnet man jede aktive Handlung (oder auch Duldung bzw. Unterlassung), die an der Durchsetzung des eigenen Zieles bei einer anderen Person orientiert ist, ohne Rücksicht auf damit verbundene physische oder psychische Schäden bei dieser“ (Nave-Herz, 2002, S. 84).
Ich werde den von Nave-Herz genannten Gewaltbegriff verwenden, da er alle denkbaren ‚Täter-Opfer-Konstellationen’ einschließt und sich nicht auf eine bestimmte Gewaltform festlegt. Ergänzen möchte ich ihn allerdings durch einen Gedanken, der in der Sichtweise des Kinderschutzbundes anklingt: Auch das Defizit, das zwischen dem Wohl eines Menschen, seinen grundlegenden Rechten und seinen Bedürfnissen einerseits und seiner tatsächlichen Lebenssituation andererseits besteht, kann als Gewalt begriffen werden.
Trotz der Annäherungen an den Gewaltbegriff bleibt die Abgrenzung von Gewalt diffus, die Grenzen zwischen den verschiedenen Formen sind fließend. Meist wird zwischen Vernachlässigung sowie zwischen physischer, psychischer und sexueller Gewalt unterschieden, um über diese Präzisierung Ansatzpunkte für Untersuchungen zu gewinnen (vgl. Rothe, 1994, S. 193).
Das Risiko physischer Gewaltanwendung in Familien wird von einer Vielzahl familienendogener und -exogener Faktoren sowie von individuellen Persönlichkeitseigenschaften der Familienmitglieder bestimmt, die meist nur dann zu tatsächlicher Gewaltanwendung führen, wenn sie gehäuft auftreten.
Als ein familienendogener Faktor gilt die eigene Gewalterfahrung eines Elternteils in der Kindheit. In diesem Fall ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Gewalt angewendet wird, etwa als Konfliktlösungsstrategie. Als familienexogene Bedingungen kommen unter anderem Arbeitslosigkeit, finanzielle Sorgen oder durch Doppelbelastung bedingte Überforderung in Betracht.
Die Persönlichkeit und die psychische ‚Ausstattung’ der Familienmitglieder bestimmen, wie sie mit belastenden Situationen umgehen. Ein beeinträchtigtes Selbstwertgefühl spielt dabei oft eine Rolle: Fühlt sich z. B. ein davon betroffener Elternteil auf seiner Arbeitsstelle durch Chef und Kollegen erniedrigt, könnte er den Versuch unternehmen, dieses Gefühl durch ‚Machtdemonstrationen’ zu Hause zu kompensieren (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 87f).
Spannungen und Konflikte, die über längere Zeit andauern, können sich in Gewaltausübung entladen. Dies ist häufig in der Zeit vor einer Trennung zu beobachten. Auch stark überhöhte Erwartungen an die Familie, die zwangsläufig enttäuscht werden müssen, da sie nicht erfüllbar sind, können zu Frustration führen und Gewaltausbrüche begünstigen. Dass Gewalt in Familien überhaupt eskalieren kann, hängt unter anderem mit der exklusiven Privatheit der Familie zusammen (vgl. ebd., S. 87f). Diese ist in der Gesellschaft allgemein akzeptiert und führt vielfach dazu, dass sich lange Zeit niemand in die ‚Privatangelegenheiten anderer Leute’ einmischt.
Sie wird gern verschwiegen, doch die Ausübung physischer Gewalt in Familien ist nach wie vor verbreitet und hat daher als Thema nichts an Aktualität verloren. Eine oft zitierte Studie zu diesem Thema stammt von Pfeiffer, Wetzels und Enzmann. Im Jahr 1998 befragten sie 16.190 Jugendliche aus neun deutschen Städten zum Thema innerfamiliale Gewalt (vgl. Pfeiffer/Wetzels/Enzmann, 1999). Erfasst wurden körperliche Gewalterfahrungen durch die Eltern: Zum einen in der Kindheit bis zur Vollendung des 12. Lebensjahres und zum anderen in den letzten 12 Monaten, also in der Jugend. Die Ergebnisse habe ich in Tabelle 1 zusammengefasst.
Die Erhebung ergab, dass 43,3 Prozent der Jugendlichen in der Kindheit keine körperliche Gewalt durch die Eltern erfuhren. Fast 30 Prozent jedoch gaben an, leicht gezüchtigt worden zu sein, ca. 17 Prozent hatten schwere Züchtigungen erlebt und fast jeder zehnte Jugendliche war in der Kindheit Misshandlungen durch die Eltern ausgesetzt.
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Tab. 1, Rate der Opfer elterlicher Gewalt, Gesamtstichprobe (in %)
(in Anlehnung an Pfeiffer/Wetzels/Enzmann, 1999, S. 10ff)
Bei der Frage nach der erlebten Gewalt in den letzten 12 Monaten fielen die Raten sehr viel niedriger aus, als bei der Befragung, die die gesamte Kindheit abdeckte. Pfeiffer, Wetzels und Enzmann führen dies darauf zurück, dass sich die Befragung auf einen sehr viel kürzeren Zeitraum bezieht. Dennoch sind die Raten beachtlich: Etwas mehr als 15 Prozent der Befragten erlebten schwere Züchtigungen oder Misshandlungen, insgesamt 42 Prozent der Jugendlichen erfuhren innerhalb der letzten 12 Monate körperliche Gewalt durch die Eltern.
Auch wenn Kinder oder Jugendliche Gewalt ‚nur’ miterleben müssen, z. B. wenn sie sich gegen einen Elternteil oder Geschwister richtet, sind sie dennoch selbst von Gewalt betroffen. In der Befragung wurde auch erhoben, in welchem Umfang die Jugendlichen in den letzten 12 Monaten Partnergewalt ihrer Eltern beobachten konnten. Erfasst wurde, wie oft die Jugendlichen miterlebten, dass ein Elternteil mit dem Fuß getreten oder mit der Faust bzw. mit der Hand geschlagen wurde. 86,3 Prozent der Jugendlichen gaben an, keine solche Beobachtung gemacht zu haben, 7 Prozent beobachteten Partnergewalt bei ihren Eltern selten und 6,7 Prozent häufiger als selten.
Doch - wie bereits bei der Annäherung an den Begriff Gewalt erwähnt – spielt in Familien nicht nur körperliche Gewalt eine Rolle. Dies wird auch in einer Untersuchung zur Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland deutlich, die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführt wurde.
Laut der im Jahr 2004 veröffentlichten Ergebnisse wird Gewalt gegen Frauen überwiegend durch Partner oder ehemalige Partner und im häuslichen Bereich verübt. 42 Prozent der befragten Frauen gaben an, psychische Gewalt erlebt zu haben, wobei das Spektrum von ‚eingeschüchtert werden’ bis hin zu ‚Psychoterror’ reichte. Im Schnitt berichtete mindestens jede vierte Frau von Formen körperlicher und/oder sexueller Gewalt, die sie durch einen aktuellen oder früheren Beziehungspartner erlebt hatte (vgl. BMFSFJ, 2004).
Wie aus der Annäherung an den Gewaltbegriff zu Beginn des Kapitels deutlich wird, erschöpft sich das Spektrum der möglichen Gewaltformen in der Familie jedoch nicht in den Formen, die in der zitierten Studie erfasst wurden. Manche Gewaltausübungen sind nicht leicht als solche zu erkennen, da sie nicht immer so offensichtlich auftreten wie etwa in Form von körperlichen Züchtigungen.
So gibt es z. B. Eltern, die nach dem Verlust ihres Partners das Kind in dessen Rolle drängen und als Partnerersatz missbrauchen. Andere instrumentalisieren ihre Kinder bei Partnerkonflikten und machen sie zu ‚Sündenböcken’ oder ‚Verbündeten’. Manche Kinder erfahren Missachtung und Vernachlässigung, andere hingegen erleben Überbehütung in einem Maße, die jegliche Autonomiebestrebung der Kinder unmöglich macht und ihre gesunde Entwicklung schwer behindert. Auch das ist Gewalt in sehr subtiler und oft schwer zu durchschauender Form.
Neben den Gewaltanwendungen von Eltern an ihren Kindern und von Männern an Frauen gibt es weitere ‚Täter-Opfer-Konstellationen’ bei Gewalt in Familien, die allerdings oft verharmlost werden oder so stark tabuisiert sind, dass nicht über sie gesprochen wird. So wird Gewalt zwischen Geschwistern oft nicht ernst genommen, während Gewalttätigkeiten von Frauen gegen Männer sowie von Kindern gegen ihre Eltern vielfach totgeschwiegen werden (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 86f).
Während ich mich im ersten Teil meiner Arbeit dem Begriff ‚Familie’ angenähert und wichtige Aspekte im Kontext von Familie beleuchtet habe, gehe ich im Folgenden darauf ein, was geschieht, wenn das Zusammenleben der Partner nicht (mehr) gelingt. Ich werde verschiedene Trennungs- und Scheidungsursachen aufzeigen und den möglichen Verlauf von Trennungs- und Scheidungsprozessen nachzeichnen. Auf die Situationen und Reaktionen von Kindern und Erwachsenen werde ich eingehen und mich mit der Frage beschäftigen, wie günstige bzw. ungünstige Trennungs- und Scheidungsverläufe aussehen können.
Wie viele unverheiratete Paare sich zur Trennung entschließen und ihre Partnerschaft beenden, ist statistisch nicht erfasst. Anders bei den Ehen: Es ist festzustellen, dass seit Mitte der 1960er Jahre Ehen in Deutschland in zunehmendem Maße durch Scheidung beendet werden. Gut jede fünfte der im Jahr 1990 geschlossenen Ehen war zehn Jahre später bereits wieder geschieden. Im Jahr 2000 wurden in Deutschland mehr als 194.000 Ehen durch Scheidung beendet. Im Schnitt bestanden diese Ehen 12,9 Jahre lang und von knapp der Hälfte dieser Scheidungen waren auch minderjährige Kinder betroffen (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 81ff).
Angesichts der seit den 1960er Jahren stark gestiegenen Anzahl von Scheidungen in Deutschland gibt Nave-Herz zu bedenken, dass von der Stabilität einer Ehe nicht auf deren Qualität geschlossen werden kann. Auch eine Ehe, die nicht geschieden wird, muss nicht zwangsläufig eine gut funktionierende Ehe sein. Vielleicht existiert sie gar nur noch formal, denn neben der formal-rechtlichen Scheidung, die in Statistiken erfasst wird, sind noch zwei weitere Formen der Eheauflösung möglich.
So gibt es die ‚Aufkündigung der ehelichen Lebensgemeinschaft’, bei der die Partner zwar gemeinsam in einem Haushalt wohnen, ihr Leben aber bewusst getrennt voneinander gestalten. Diese Form geht oft mit einer Trennung von ‚Tisch und Bett’ einher und wird häufig gewählt, wenn eine Scheidung vom Rechtssystem her nicht möglich oder z. B. aus ethisch-moralischen oder wirtschaftlichen Gründen nicht realisierbar ist.
Eine weitere Form der Eheauflösung, die zwar nach außen sichtbar wird aber nicht in Scheidungsstatistiken erscheint, ist die ‚Aufkündigung der Haushaltsgemeinschaft’, bei der die Ehepartner eine räumliche Trennung vollziehen. In Deutschland ist diese Form der Eheauflösung im Zuge der Änderung des Ehescheidungsgesetzes von 1977 aufgegriffen und als Trennungsjahr in den juristischen Scheidungsablauf mit einbezogen worden. Alle drei Formen der Eheauflösung können als Phasen aufeinander folgen oder aber eigenständige Möglichkeiten für den ‚Endzustand’ der Ehe darstellen (vgl. Nave-Herz, 1990a, S. 45f).
Nave-Herz zieht daraus den Schluss, dass die stark gestiegene Anzahl der Scheidungen zum Teil auf eine Verschiebung zwischen den verschiedenen Formen der Eheauflösung zurückzuführen ist, da es heute mehr Menschen möglich ist, eine Scheidung durchzuführen. Die amtliche Statistik wies in früheren Jahrzehnten zwar deutlich geringere Scheidungszahlen auf als heute, doch könnte „der Anteil von Ehen, in denen die eheliche Lebensgemeinschaft zum Teil oder überhaupt nicht mehr existierte, weit höher gewesen sein“ (ebd., S. 46). Unter Berücksichtigung dieses Faktors erscheint die Zunahme der Scheidungen nicht mehr so drastisch, sie ist aber dennoch gegeben.
Noch bis in die 1980er Jahre hinein wurde Trennung bzw. Scheidung von vielen Menschen verstanden als moralische Verfehlung und persönlicher Misserfolg, als Scheitern und Versagen der Partner. Die Suche nach dem Schuldigen stand im Mittelpunkt, Geschiedene und Alleinerziehende wurden vielfach diskriminiert und als ‚nicht ganz normal’ angesehen. Den Kindern getrennter oder geschiedener Eltern wurden neben Mitleid auch negative Erwartungen entgegengebracht, die leicht zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen werden konnten (vgl. Textor, 1991, S. 10).
Inzwischen wird Scheidung zunehmend als ‚normal’ akzeptiert, wozu sicher auch die gestiegenen Scheidungszahlen beigetragen haben: Scheidungen waren bald keine Einzelfälle und somit nichts Außergewöhnliches mehr, im Umkehrschluss wurden sie zu ‚Normalität’. Heute wird Trennung bzw. Scheidung als Ereignis betrachtet, das im Verlauf des Familienzyklus’[10] eintreten kann und mit dem sich immer mehr Familien auseinandersetzen müssen. Sie gelten als bewährtes Mittel, um eine nicht länger ertragbare Situation zu beenden und werden als „Ausdruck der Entscheidungsfreiheit und Eigenverantwortung des Individuums betrachtet“ (Textor, 1991, S. 10), die Schuldfrage hat keine zentrale Bedeutung mehr (vgl. ebd., S. 10). Seit der Änderung des Ehescheidungsgesetzes im Jahr 1977 wird auch rechtlich in Bezug auf Scheidung nicht mehr von einem Verschuldungs- sondern von einem Zerrüttungsprinzip ausgegangen (vgl. Nave-Herz, 1990a, S. 36).
Nicht nur die Bewertung sondern auch das Verständnis von Trennung und Scheidung hat sich verändert. Bis in die 1980er Jahre wurde davon ausgegangen, dass eine Scheidung die familiale Entwicklung und die Existenz eines gemeinsamen Familiensystems beendet und eine von der Norm der Kernfamilie abweichende und mit vielfältigen Defiziten belastete „Restfamilie“ (Fthenakis/Niesel/Griebel, 1993, S. 261) zurückbleibt. Angestrebt wurde die möglichst reibungslose Auflösung des Familiensystems. Der „Erhalt familialer Restfunktionen durch Ausgrenzung (scheinbar) dysfunktional wirkender Familienmitglieder (etwa des nichtsorgeberechtigten Elternteils) […] war ein übliches Interventionsziel“ (ebd., S. 261).
Im Rahmen dieses ‚Desorganisationsmodells’ wurde dem nichtsorgeberechtigten Elternteil keine elterliche Verantwortung zuerkannt und er wurde als nicht mehr zur Familie des Kindes gehörig empfunden. Es wurde ihm lediglich das Recht zugestanden, sich sporadisch davon zu überzeugen, dass es dem Kind gut geht (vgl. Fthenakis, 1996, S. 84).
Forschungsergebnisse in den 1980er und 1990er Jahren warfen ein neues Licht auf das Scheidungsgeschehen und belegten, dass Scheidung kein punktuelles Ereignis sondern ein Prozess ist, der sich in verschiedene Phasen gliedert (vgl. Fthenakis/Niesel/Griebel, 1993, S. 263).
Der Scheidungsprozess beginnt bereits lange vor dem tatsächlichen Zeitpunkt der Trennung und umfasst auch den Zeitraum nach der endgültigen Trennung bzw. Scheidung. Mit der Scheidung löst sich das Familiensystem nicht auf, es verändert und reorganisiert sich: „Scheidung wird […] nicht mehr idealtypisch als Wechsel zwischen zwei Zuständen (‚Verheiratet-Sein’ vs. ‚Geschieden-Sein’) gesehen, sondern als Übergangsphase und Reorganisationsprozess. Die Reorganisation betrifft die Rolle des Einzelnen in der Familie, die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander, die Aufgabenteilung sowie die Gestaltung der Freizeit und die Beziehungen zum sozialen Netz und anderes mehr. Bei Scheidung stellt sich demnach für die Familie die Aufgabe, das familiale System unter einer neuen Zielsetzung auf unterschiedlichen Ebenen zu reorganisieren“ (Fthenakis/Niesel/Griebel, 1993, S. 262).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Trennung bzw. Scheidung heute als ein möglicher Weg gesehen wird, den eine Familie in ihrer Entwicklung gehen kann. Dieser Weg hat einen prozesshaften Charakter und bringt vielfältige Anforderungen mit sich, die von den Familienmitgliedern bewältigt werden müssen. Die Aufgaben der Reorganisation müssen im Fall einer Trennung auch in Familien geleistet werden, die nicht auf eine Ehe gegründet sind. Daher gelten die genannten Erkenntnisse und Anforderungen auch für Familien, in denen das Elternpaar nur getrennt und nicht geschieden ist.
Im Rahmen der Scheidungsforschung wurden zahlreiche Sozialvariablen, wie z. B. die Kinderzahl oder die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, erhoben und konnten zum Teil statistisch mit dem Scheidungsrisiko in Verbindung gebracht werden. So wurde z. B. festgestellt, dass Menschen, die jung heiraten, ein größeres Scheidungsrisiko haben als solche, die zum Zeitpunkt der Eheschließung bereits älter sind. Statistisch gesehen sind die Ehen am stabilsten, bei denen das Bildungsniveau des Paares im mittleren Bereich liegt. Ist die Frau jedoch höher qualifiziert als der Mann, ist die Ehe laut Statistik in vielen Fällen instabil und es kommt häufiger zur Scheidung. Doch so einfach und gradlinig lassen sich die Ursachen von Trennung und Scheidung nicht ausreichend erklären (vgl. Nave-Herz, 2004, S. 168f).
Wenn z. B. weitere Faktoren in der Untersuchung gar nicht erst erfasst und monokausale Erklärungen zugrunde gelegt werden, kann es sich um „typische Scheinkorrelationen handeln. [...] Zum anderen ist die Aussagekraft derartiger Korrelationen insofern beschränkt, da nicht feststeht, welchen empirischen Sachverhalt die einzelnen Variablen im Grunde genommen messen“ (ebd., S. 169). So könnte z. B. der Zusammenhang zwischen einem geringen Scheidungsrisiko und einer hohen Kinderzahl einerseits darauf zurückzuführen sein, dass Familien mit vielen Kindern oft nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, um eine Scheidung zu realisieren. Andererseits könnten aber auch sowohl die hohe Kinderzahl als auch die geringe Scheidungsrate Ausdruck für eine hohe Familienorientierung oder eine ausgeprägte Religiosität sein (vgl. Nave-Herz, 2004, S. 169). Es bleibt festzuhalten: Die Ursachen für Trennung und Scheidung sind komplex und können in der Regel nicht monokausal erklärt werden.
Wenn es zu einer Trennung oder Scheidung kommt, gibt es eine ganze Reihe von Bedingungen, die zu dieser Entwicklung geführt haben, sowie häufig einen mehr oder weniger konkreten Anlass, der letztlich die Trennung herbeiführt.
Als verursachende Bedingungen werden in vielen Fällen Partnerbeziehungsprobleme und Eigenschaften und Verhaltensweisen des Partners genannt. Konkrete Anlässe für die Trennung können z. B. eine Unehrlichkeit des Partners, die Eröffnung oder Aufdeckung eines außerehelichen Verhältnisses, Gewalttätigkeit oder die Androhung von Gewalt sein. Auch das Leiden der Kinder unter der gegenwärtigen Familiensituation nun endlich beenden zu wollen, kann zum Trennungsanlass werden (vgl. Nave-Herz, 1990c, S. 58ff).
Ich möchte im Folgenden Faktoren und Entwicklungen darstellen, die die Trennung der Partner vorantreiben oder auch bedingen können.
Wie bereits unter ‚3 Kennzeichen des aktuellen Wandels’ in Teil I angesprochen, verliert der institutionelle Charakter der Ehe an Bedeutung, während hohe Ansprüche an die Qualität der Partnerschaft sowie an die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten in der Beziehung in den Vordergrund rücken. Auf diesen Wertwandel in der Sinnzuschreibung an die Ehe möchte ich nun näher eingehen.
Die Werte[11], an denen sich Menschen in Bezug auf die Ehe orientieren, können in drei Konzepte zusammengefasst werden:
Konzept der Pflicht- und Akzeptanzwertorientierung: Das Selbstwertgefühl von Menschen mit einer ausgeprägten Pflicht- und Akzeptanzwertorientierung wird von einem Pflichtbewusstsein bestimmt, „welches die Einordnung in eine Gemeinschaft, die Erfüllung autoritativ geltend gemachter Außenanforderungen und den eigenen ‚Einsatz’ im Hinblick auf vorgegebene Zielsetzungen zum Maßstab der persönlichen Selbstbeurteilung werden lässt“ (Klages, 1985, S. 27). Der Mensch identifiziert sich mit gesellschaftlich definierten ‚Tugenden’ und geht in seinen Pflichten auf. Eigene Interessen werden dafür zurückgestellt, ohne einen besonderen Verlust zu empfinden (vgl. ebd., S. 27).
Bei einer auf Pflicht- und Akzeptanzwertorientierung gegründeten Ehe sind traditionelle Bindungen wirksam, z. B. in Bezug auf die Rollen von Mann und Frau in der Familie. Da die traditionellen Rollen greifen, gibt es nur wenig Aushandlungsbedarf. Darüber hinaus besteht bei den Partnern eher die Bereitschaft, sich in ihren Bedürfnissen dem Partner anzupassen oder auch unterzuordnen (vgl. Scheller, 1990, S. 66).
Konzept der Partnerschaftswertorientierung: Die eigenen Ziele und Bedürfnisse werden als gleichwertig mit denen des Partners wahrgenommen. Das Einräumen von Entfaltungsmöglichkeiten zur Verwirklichung dieser Ziele, Kompromissbereitschaft und Toleranz werden voneinander erwartet und eingefordert (vgl. ebd., S. 67). Aushandlungsprozesse in der Familie sind erforderlich.
Konzept der Selbstentfaltungswertorientierung: Menschen mit einer ausgeprägten Selbstentfaltungswertorientierung nehmen für sich Attribute wie ‚Kreativität’, ‚Selbständigkeit’ und ‚Unabhängigkeit’ in Anspruch. Ihr Verhalten ist durch eine abwehrende Grundhaltung gegen auf Autorität beruhende Außenanforderungen gekennzeichnet. Sie reagieren empfindlich, wenn sie auf Widerstände oder Einschränkungen stoßen oder wenn sie eine Gefährdung ihrer Selbständigkeit befürchten. Sie stellen die Verwirklichung eigener Interessen und die Erfüllung ihrer Bedürfnisse in den Mittelpunkt. Eine Anpassung an Anforderungen von außen oder eine Ein- oder gar Unterordnung entspricht eher nicht ihrer Gesamthaltung (vgl. Klages, 1985, S. 27f).
In Ehen, die auf Selbstentfaltungswertorientierungen begründet sind, ergibt sich Konfliktpotenzial, da die traditionellen Regelungen zur Organisation der Familie nicht wirksam werden und die Rollen daher ausgehandelt werden müssen. Die Familienmitglieder streben die Befriedigung eigener Bedürfnisse in der Familie an, was ebenfalls Aushandlungsbedarf mit sich bringt. Nave-Herz führt an, dass diese Bedürfnisse jedoch nicht zwangsläufig auf egozentrierte Einstellungen zurückzuführen sein müssen (vgl. Nave-Herz, 1990a, S. 39).
Sowohl bei dem Konzept der Pflicht- und Akzeptanzwertorientierung als auch bei dem der Selbstentfaltungswertorientierung habe ich die Orientierungen in ‚Reinform’ beschrieben, doch es gibt sie in den unterschiedlichsten Abstufungen.
Die genannten Wertorientierungen sind nicht starr und schließen einander nicht aus. Auch wenn bei vielen Menschen tendenziell eine Abnahme der Pflicht- und Akzeptanzwerte und gleichzeitig eine Zunahme der Selbstentfaltungswerte zu beobachten ist, so gibt es doch auch Menschen, die ein hohes Maß an Werten aus beiden Bereichen besitzen (vgl. Klages, 1985, S. 23). Daher „liegt die Folgerung nahe, dass die ‚Pole’ des Wertwandels auf unterschiedlichen und voneinander unabhängigen ‚Dimensionen’ liegen und dass die ihnen zuzuordnenden Werte grundsätzlich in den verschiedensten Konstellationen in Erscheinung treten können, ohne dass sich von einem unausweichlichen Zwang zur gegenseitigen Substitution sprechen ließe“ (ebd., S. 23).
Der Wertwandel in der Sinnzuschreibung an die Ehe wurde im Rahmen eines Forschungsprojekts näher untersucht. Anhand von Statements, denen die Befragten mehr oder weniger stark oder auch gar nicht zustimmen konnten, wurden ihre Wertorientierungen in Bezug auf die Ehe erhoben. Die nach Eheschließungskohorten gebündelten Ergebnisse der Untersuchung habe ich in Tabelle 2 dargestellt.
Bei den Angehörigen der beiden jüngeren Eheschließungskohorten ist eine geringere Zustimmung zu den Statements der Pflicht- und Akzeptanzwertorientierung zu verzeichnen als bei denen der ältesten Kohorte. Das Statement 1 zur Partnerschaftswertorientierung steht inhaltlich den Pflichtwertorientierungen nahe, ihm wurde von den jüngeren Jahrgängen ebenfalls seltener zugestimmt.
Bei Statement 2 zur Partnerschaftswertorientierung ist jedoch ein gegensätzlicher Trend festzustellen: Je jünger die Kohorte desto höher die Zustimmung. In Bezug auf die Selbstentfaltungswertorientierung ging die Zustimmung bei den mittleren Eheschließungskohorten im Vergleich zu den ältesten leicht zurück, die Angehörigen der jüngsten Kohorte entschieden sich jedoch verstärkt dafür.
Ein Prozess des Wertwandels weg von Pflicht- und Akzeptanzwertorientierung und hin zu Partnerschafts- und Selbstentfaltungswertorientierung ist deutlich zu erkennen (vgl. Scheller, 1990, S. 68f). Diese Prozesse sind auch auf nicht verheiratete Paare übertragbar. Es liegt darüber hinaus die Vermutung nahe, dass bei ihnen die Pflichtwertorientierung in Bezug auf Partnerschaft von vornherein überwiegend eher gering ausgeprägt ist, da sie nicht den traditionellen Weg der Eheschließung wählen, sondern in vielen Fällen auch auf Dauer unverheiratet zusammen leben.
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Tab. 2, Anteil der Zustimmungen zu den Statements in Abhängigkeit zur Heiratskohorte der Geschiedenen[12] (in %)
Im Zuge des Wertwandels ist eine Zunahme der Erwartungen an Partnerschaft und Familie festzustellen, was sowohl für verheiratete als auch für unverheiratete Paare gilt (siehe auch ‚3.2 Veränderte Erwartungen an Familie’ in Teil I).
Idealisierte Vorstellungen von Partnerschaft und Familie, verbunden mit überhöhten oder gar unerfüllbaren Erwartungen, können zu Unzufriedenheit, Frustration, ständigen Konflikten und schließlich auch zu Trennung und Scheidung führen. So zeigten die Ergebnisse der Kölner Längsschnittstudie zur Entwicklung von Trennungs- und Scheidungsfamilien, auf die ich im Verlauf der Arbeit noch näher eingehen werde, dass bei den untersuchten Paaren in vielen Fällen enttäuschte Erwartungen an die Partnerschaft sowie wechselseitige Beziehungsprobleme zur Trennung führten (vgl. Schmidt-Denter, 2000, S. 208). Auch sehr unterschiedliche Wertorientierungen, Ziele und Erwartungen in Bezug auf die Partnerschaft können zu unlösbaren Problemen in der Familie führen (vgl. Textor, 2004a, S. 3).
Der Wertwandel in der Sinnzuschreibung an die Ehe ging und geht mit einer Abnahme traditioneller Rollenvorgaben einher.
In der traditionellen Ehe waren die Leistungen, die die einzelnen Familienmitglieder erbringen mussten, sowie die sozialen Rollen, die sie auszufüllen hatten, genau definiert. Die traditionelle Ehe basierte auf einem „strukturellen Tauschverhältnis“ (Nave-Herz, 1990a, S. 40), dessen Einlösung – oder eben Nichteinlösung – sofort überprüfbar und auch für Außenstehende ersichtlich war: Während der Mann für die Vertretung der Familie nach außen und für die finanzielle Absicherung zuständig war, kümmerte sich die Frau um den Innenbereich. Auch wenn es mit Sicherheit immer Familien gab, die von diesem Muster abwichen, so war es doch in der Gesellschaft lange Zeit uneingeschränkt anerkannt (vgl. ebd., S. 40).
Im Zuge des bereits in Teil I thematisierten familialen Wandels ging das strukturelle in ein individuelles Tauschverhältnis über. Es ist heute nicht mehr an die Institution ‚traditionelle Ehe’ gebunden und weder von außen definiert noch überprüfbar. Das individuelle Tauschverhältnis muss – wie der Begriff nahe legt – von jedem Paar selbst ausgehandelt werden. Annähernd alle Aufgabenbereiche und Leistungen in Partnerschaft und Familie können von beiden Partnern ausgefüllt und übernommen werden. Die Aushandlungsprozesse können sehr konfliktreich verlaufen und immer wieder neu aufflammen, da Vereinbarungen veränderbar und nicht zwangsweise langfristig gültig sind (vgl. Nave-Herz, 1990a, S. 40f).
Je weniger die traditionellen Rollen in der Familie wirksam werden, desto mehr Aushandlungsbedarf besteht. Wenn bei diesen Aushandlungsprozessen sehr unterschiedliche Erwartungen an Partnerschaft und Familie aufeinander prallen, werden die Konflikte weiter verschärft. Wenn diese nicht konstruktiv bewältigt werden können, kommt es häufig zu einer Verschlechterung der Partnerbeziehung, die unter Umständen zu Trennung und Scheidung führt.
Bei einem kinderlosen Paar können beide Partner ihren beruflichen Ambitionen nachgehen, ihre Freiräume nutzen und ihre Hobbies ausüben[13]. Es treten meist nur wenige Streitpunkte in Bezug auf die Arbeitsteilung im Haushalt auf. Was jedoch nach der Geburt eines Kindes geschieht - wie die Gestaltung des Familienalltags aussehen könnte, wie die Bedürfnisse aller Beteiligten am besten berücksichtigt und die neu entstehenden Arbeitsbereiche aufgeteilt werden könnten - wird oft nicht thematisiert.
Viele Männer zeigen sich heute zwar offen für neue Partnerschaftskonzepte, doch wenn tatsächlich ein Kind geboren wird, gehen die meisten Männer im Stillen nach wie vor davon aus, dass die Mutter die Kindererziehung und den Haushalt übernimmt, während sie selbst einer Erwerbsarbeit nachgehen.
Die unterschiedlichen Erwartungen von Männern und Frauen an ‚Familie’, bedingt durch unterschiedliche Sozialisationserfahrungen, kommen zum Tragen: Während die Entscheidung zur Elternschaft für Frauen oft die Übernahme eines hohen Verpflichtungsgrades und einer Mehrbelastung bedeutet, sehen sich Männer in der Rolle des ‚Ernährers’ und verstehen die Familie als Regenerations- und Rückzugsraum. Strukturelle Zwänge des Erwerbssystems erschweren es den Vätern zusätzlich, sich mehr in die Familienarbeit einzubringen, selbst wenn sie dies gerne möchten (vgl. Meier, 2002, S. 3f).
Die Geburt des ersten Kindes führt zu einer Neuordnung der Partnerschaftsbeziehung, die meist mit einer Traditionalisierung der Rollen und einer dementsprechenden Umverteilung von Aufgaben und Verantwortungsbereichen einhergeht.
Selbst Paare, die bisher Wert auf eine auf Gleichheit bedachte Verteilung der Rechte und Pflichten gelegt und diese auch praktiziert haben, sind davon betroffen (vgl. Fthenakis/Kalicki, 2000, S. 161f). Wie in Teil I unter ‚3.5 Veränderung der Rollen von Vater und Mutter’ angesprochen, haben die Einstellungen des Vaters nur einen geringen Einfluss auf die tatsächliche Gestaltung der Arbeitsteilung nach der Geburt eines Kindes: Selbst wenn der Mann eine egalitäre Arbeitsteilung bejaht, kommt es bei vielen Paaren zu einer Traditionalisierung der Rollen und Aufgabenverteilung (vgl. Fthenakis/Minsel, 2002, S. 94).
So ist bei vielen Paaren zu beobachten, dass der Mann nach der Geburt eines Kindes – auch längerfristig - zum Hauptverdiener wird, selbst wenn vorher beide Partner in vergleichbarem Umfang erwerbstätig waren (vgl. Fthenakis/Kalicki, 2000, S. 162). Während sich viele Frauen jedoch nicht mehr ausschließlich auf die Rolle als Hausfrau und Mutter festlegen lassen wollen und eine möglichst kurze Phase anstreben, in der sie aus dem Beruf aussteigen, treten Männer für eine deutlich längere Familienpause der Mutter ein (vgl. Kümmerling/Dickenberger, 2001, S. 2).
Zeitgleich ist eine Umverteilung der Hausarbeit zu Lasten der Frau zu verzeichnen. Die Verteilung der Hausarbeit wird zwar auch bei kinderlosen Paaren oft so gestaltet, dass die Frau den größeren Anteil daran übernimmt. Nach der Geburt eines Kindes ziehen sich viele Väter jedoch noch weiter aus der Verantwortung für den Haushalt zurück, während die Belastung für die Mütter spürbar zunimmt.
Die traditionelle Rollenverteilung wirkt sich auch auf die Ausübung der Elternschaft aus: Während Aufgaben wie ‚mit dem Kind spielen’, ‚das Kind baden’ oder auch ‚mit dem Kind spazieren gehen’ in vielen Fällen von beiden Elternteilen gemeinsam oder abwechselnd übernommen werden, liegen Routine- und Organisationsaufgaben oft allein in der Verantwortung der Mutter (vgl. Fthenakis/Kalicki, 2000, S. 163f).
Zusammenfassend lässt sich sagen, „dass die Übernahme der Elternrolle mit der Wiederkehr traditioneller Rollenvorstellungen und Handlungsmuster einhergeht“ (ebd., S. 165). Doch diese sind mit den Bedürfnissen und Erwartungen der Menschen an Partnerschaft und Familie heute kaum noch zu vereinbaren.
Wie ebenfalls in Teil I unter ‚3.5 Veränderung der Rollen von Vater und Mutter’ ausgeführt, hat die Einstellung der Mütter einen großen Einfluss darauf, wie sie die Situation bewerten: Je weniger traditionell die Mütter eingestellt sind, desto unzufriedener sind sie mit der Lage, denn es besteht eine große Differenz zwischen dem von ihnen angestrebten Idealzustand und der tatsächlichen Situation (vgl. Fthenakis/Minsel, 2002, S. 95).
In vielen Partnerbeziehungen machen sich daher negative Auswirkungen dieser Umstrukturierungen bemerkbar: Sowohl die Partnerschaftsqualität als auch die subjektive Partnerschaftszufriedenheit erfahren eine deutliche Beeinträchtigung. In den ersten drei Jahren nach der Geburt des Kindes nimmt das Ausmaß von Zärtlichkeit und Sexualität sowie von Kommunikation und Gemeinsamkeit ab, während die Unzufriedenheit mit dem Partner und das Ausmaß von Streit und Konflikten zunehmen. Viele Partnerschaftskonflikte haben die genannten Umverteilungen von Aufgaben, Verantwortlichkeiten, Belastungen und Handlungsspielräumen zum Thema (vgl. Fthenakis/Kalicki, 2000, S. 166f).
Ob und in welchem Maße die Bewältigung der Situation und eine partnerschaftliche Gestaltung der Elternschaft erreicht werden und in welchem Umfang der Vater seine Verantwortung für sein Kind wahrnimmt, hängt von individuellen und partnerschaftsspezifischen Faktoren sowie vom Kontext ab.
Die Wochenarbeitszeit des Vaters ist zwar ein Faktor, der einen großen Einfluss auf die Verteilung der Aufgaben zwischen den Eltern und die Beteiligung des Vaters an der Betreuung des Kindes hat, doch besonders wichtig sind die individuellen Vorstellungen der Mütter und Väter davon, was Elternschaft ausmacht. Welche Verantwortung trägt eine Mutter? Welche Aufgaben hat ein Vater? Die Ansprüche und Erwartungen sowohl an das eigene Verhalten als auch an den Partner sind in „subjektiven Elternschaftskonzepten“ (ebd., S. 167) verankert.
Je stärker der Vater von einem Mutterschaftskonzept und somit von einer größeren Verantwortung der Mutter für das Kind ausgeht, desto mehr Verantwortung delegiert er an diese und desto weniger Aufgaben übernimmt er alleine. Auch die Einstellungen der Partner zu den traditionellen Geschlechterrollen haben Einfluss: Je traditioneller die Auffassung der Mutter bezüglich der Rollen innerhalb der Familie geprägt ist, desto weniger Aufgaben werden vom Vater allein übernommen.
Wenn die Mutter ein großes Zutrauen in die Kompetenzen des Partners als Vater zeigt und diesem Spielraum gibt, um sich aktiv und intensiv mit dem Kind zu beschäftigen, beeinflusst dies das väterliche Engagement positiv: Je mehr die Mutter dem Vater zutraut, desto mehr Aufgaben werden von ihm alleine übernommen. Auch die vom Mann subjektiv empfundene Partnerschaftsqualität hat Einfluss auf die Partizipation des Vaters in der Familie. Je höher er die Partnerschaftsqualität einschätzt, desto mehr Aufgaben werden von beiden Partnern gemeinsam übernommen.
Von Bedeutung für die praktische Gestaltung der Elternrolle ist auch die Struktur der Elternschaftskonzepte beider Elternteile: Je weniger die Erwartungen beider Eltern an die eigene Person voneinander abweichen, desto mehr Aufgaben werden gemeinsam erfüllt (vgl. Fthenakis/Kalicki, 2000, S. 167f).
Werden die Partnerschaftskonflikte nach dem Übergang zur Elternschaft nicht konstruktiv gelöst und bewältigt, verfestigen sich dysfunktionale Muster des Streitens. Diese nehmen im Laufe der Zeit zu und können schließlich zur Trennung führen (vgl. ebd, S. 167).
Bei der Beschreibung des Trennungs- und Scheidungszyklus’ orientiere ich mich an dem Scheidungszyklusmodell von Textor, weil dieses auch die Zeit vor der eigentlichen Trennung mit einbezieht und sehr umfassend ist. Ich lasse unter anderem die aktuellen und für meinen Themenbereich sehr interessanten Ergebnisse der Kölner Längsschnittstudie[14] zur Entwicklung von Trennungs- und Scheidungsfamilien einfließen.
Ich beschäftige mich nicht mit dem Trennungsverlauf von kinderlosen Paaren, sondern nur mit der Situation von Familien in Trennungs- und Scheidungssituationen. Nur diese ist für mein Thema relevant. Abgesehen von den Aspekten, die sich auf die gerichtliche Scheidung beziehen, hat der Trennungs- und Scheidungszyklus auch für unverheiratete Paare Gültigkeit. Bei den Bezeichnungen der Phasen – Vorscheidungs-, Scheidungs- und Nachscheidungsphase – verstehe ich unter ‚Scheidung’ daher auch die endgültige Trennung nicht verheirateter Paare.
Scheidung bzw. Trennung ist ein Prozess, der lange vor der konkreten, räumlichen Trennung beginnt und bis weit in die Zeit danach anhält. In diesem Prozess lassen sich mehrere Phasen voneinander unterscheiden. Jede dieser Phasen beinhaltet spezifische Probleme und Anforderungen und erfordert entsprechende Ressourcen und Problemlösungsstrategien, um bewältigt werden zu können. Die Phasen lassen sich nicht scharf voneinander abgrenzen und nicht jeder Mensch durchläuft sie alle. So erfährt jemand, der überraschend verlassen wird, z. B. keine Vorscheidungsphase (vgl. Textor, 2004a, S. 1).
Darüber hinaus erleben Menschen die Phasen verschiedenartig und in unterschiedlichem Tempo, denn Scheidung bzw. Trennung ist ein individueller Prozess. Bei den beschriebenen Phasen handelt es sich daher um Verallgemeinerungen, die nicht exakt auf jeden Menschen in dieser Situation passen, aber dennoch als ‚Richtschnur’ dienen können. Sie machen deutlich, dass – je nach Stand des Prozesses – unterschiedliche Probleme, Bedürfnisse und Emotionen eine Rolle spielen. Diese werden nicht nacheinander und einmalig erlebt, sondern treten unter Umständen mehrmals auf, verschwinden wieder und treten später erneut auf (vgl. ebd., S. 1).
Wenn die Prozesse, die sich immer weiter verstärken und schließlich zu Trennung und Scheidung führen, erstmalig mit einer gewissen Konstanz auftreten, beginnt die Vorscheidungsphase. Dieser Zeitpunkt lässt sich nur im Rückblick bestimmen und oft nicht genau festlegen. Die Vorscheidungsphase kann einige Wochen oder auch einige Jahre dauern und endet mit der Trennung der Partner. Innerhalb dieser Phase lassen sich grob die Zeit der Verschlechterung der Partnerbeziehung und die Zeit der Entscheidungskonflikte voneinander abgrenzen (vgl. ebd, S. 1).
Die Verschlechterung der Partnerbeziehung verläuft meist schleichend. Beziehungsstärkende Verhaltensweisen nehmen ab, an sich unbedeutende negativ bewertete Vorkommnisse summieren sich, positive Gefühle werden schwächer und Zufriedenheit sowie die Beziehungsqualität verringern sich. Die eigene Beziehung wird – vor allem im Vergleich mit Beziehungen, die bei anderen Paaren beobachtet werden – zunehmend negativ bewertet (vgl. ebd., S. 1).
Die Verschlechterung der Partnerbeziehung kann sich in einer zunehmenden Konflikthaftigkeit äußern. Streiten gehört zum Familienleben dazu, um Lösungen für anstehende Probleme zu finden. Mit der Klärung der Streitfrage ist der ‚Familienfrieden’ wieder hergestellt, Entspannung stellt sich ein.
Wenn jedoch nicht wirklich um das gestritten wird, woran sich der Streit entzündet hat, sondern wenn Konflikte als Ventil genutzt werden, um Unzufriedenheit zu äußern, dann kann der Streit auch nicht wirklich zu einer Klärung der Atmosphäre führen. Es kommt nur zu einem ‚Scheinfrieden’ bzw. zu einem zeitweiligen ‚Waffenstillstand’, der so lange anhält, bis der nächste Konfliktanlass gefunden ist (vgl. Niesel, 2004, S. 1). Im Verlauf zahlreicher Konfliktsituationen gehen Geduld und Kompromissbereitschaft immer mehr zurück, während Frustration und Verärgerung wachsen. Manche Paare leben in einer permanent spannungsgeladenen Atmosphäre. Ihre Partnerschaft ist geprägt durch ständige Konflikte, die sich auch in Gewalttätigkeiten entladen können. Andere beginnen, den ständig schwelenden Konflikten aus dem Weg zu gehen.
Statt zu einer erhöhten Konflikthaftigkeit oder zur Konfliktvermeidung kann es auch zu einem Rückzug der Partner voreinander kommen. Sie haben sich immer weniger zu sagen, erleben sich gegenseitig als distanziert, bewegen sich in getrennten Freundeskreisen und konzentrieren sich zunehmend auf ihren Beruf oder ihre Hobbies. Sie entfremden sich einander, Probleme werden verdrängt (vgl. Textor, 2004a, S. 2).
Wenn ein außereheliches Verhältnis aufgedeckt oder eröffnet wird, kann es zu einer plötzlichen Verschlechterung der Partnerbeziehung kommen. Auch Arbeitslosigkeit, Tod eines Kindes, Geburt eines behinderten Kindes, schwere Erkrankung eines Familienmitglieds oder ähnliche Vorkommnisse können zu einer Krise führen, in deren Folge sich die Partnerbeziehung in kurzer Zeit rapide verschlechtert. Doch auch ‚normale’ Übergangssituationen im Familienzyklus, wie etwa Geburt oder Auszug eines Kindes, können zu einer solchen Verschlechterung führen (vgl. ebd., S. 2).
Die Verschlechterung der Partnerbeziehung führt zu destruktiven Entwicklungen in allen Bereichen der Beziehung: Die Kommunikation wird oberflächlicher, positive Gefühle verringern sich, während negative Gefühle zunehmen, die Sexualität wird unwichtig oder vielleicht als Machtinstrument missbraucht, der Partner wird in zunehmendem Maße abgelehnt und in immer schlechterem Licht gesehen. Folgen der belasteten Partnerbeziehung sind Unwohlbefinden bis hin zu psychischen und psychosomatischen Leiden, es kann zu Missbrauch von Alkohol, Medikamenten und anderen Drogen kommen.
Die Probleme können meist nicht auf das Partnersubsystem begrenzt werden. Die von der gestörten Partnerbeziehung ausgehenden Einflüsse können zu negativen Auswirkungen bei den Kindern führen, z. B. in Form von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Belastungen bis hin zu psychischen Störungen. Die Kinder leiden unter den Problemen der Eltern. Sie versuchen – meist unbewusst – z. B. durch Ausagieren oder Symptomentwicklung die Familie zusammen zu halten, die Eltern von ihren Konflikten abzuhalten oder auch die Außenwelt auf ihre Probleme aufmerksam zu machen.
Oft werden die Kinder in die Konflikte der Eltern miteinbezogen und in die Rolle eines Sündenbocks, Vermittlers, Trösters oder Bündnispartners gedrängt. Manchmal übernehmen die Kinder auch selbst eine solche Rolle. Manche Eltern sind so stark mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und unter Umständen auch überfordert, dass sie die Kinder vernachlässigen oder gar misshandeln (vgl. Textor, 2004a, S. 3).
Die Zeit der Entscheidungskonflikte beginnt mit den ersten ernsthaften Gedanken an eine Trennung. Sie kann sehr kurz sein oder aber auch mehrere Jahre andauern und endet - wenn es den Partner nicht gelingt, ihre Beziehung zu verbessern - mit der Trennung (vgl. ebd., S. 4).
Diese Zeit ist durch Ambivalenz geprägt: Die Partner fürchten eine endgültige Entscheidung, verdrängen ihre Probleme und geben sich selbst die Schuld an der Situation. Andererseits fühlen sie sich nicht wohl und vergleichen die eigene Beziehung ständig mit den Beziehungen anderer Personen und mit den eigenen Optionen, die sie nach einer Trennung hätten. Sie fühlen sich zerrissen, sind angespannt und unsicher.
Um dieser Situation zu entgehen, beenden manche Partner überstürzt ihre Beziehung. Doch viele Menschen wägen genau ab, welchen ‚Nutzen’ sie von der Beziehung noch haben und wie hoch die ‚Kosten’ für deren Aufrechterhaltung sind. Die Entscheidung für eine Trennung fällt umso schwerer, „je größer die Investitionen in die Familie waren, je negativer die Folgen für die Kinder eingeschätzt werden, je größer die zu erwartenden Einbußen im Lebensstandard sind, je weniger die betroffene Person finanziell unabhängig ist, je geringer die Chancen auf dem Arbeits- und Heiratsmarkt eingeschätzt werden, je unattraktiver das Leben als Single erscheint, je weniger die Scheidung von einem selbst oder der sozialen Umwelt akzeptiert wird (Grad der Religiosität), je mehr Geschiedene und Alleinerziehende am Wohnort diskriminiert werden und je mehr Nutzen die Person noch aus der Ehe“ (Textor, 2004a, S. 4) bzw. Partnerschaft zieht.
Auch der Gedanke an die Situation der Kinder macht die Entscheidung zur Trennung oft schwer. Wenn sich die Eltern voneinander trennen, wird zwar meist lediglich die Beziehung zum Partner ‚aufgekündigt’, nicht aber die zu den Kindern. Dennoch sind die Kinder von der Trennung betroffen: Die äußeren Lebensbedingungen ändern sich, sie erfahren eine räumliche Trennung von einem Elternteil und müssen mit psychischen Belastungen zurecht kommen. Sie sind verunsichert und oft traurig. Ihr gesamtes Leben verändert sich.
Daher überlegen viele Paare, die sich mit dem Gedanken an Trennung auseinandersetzen, ob sie nicht wegen der Kinder zusammen bleiben sollten. Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Die Trennungserfahrung an sich stellt für die Kinder - je nach Verlauf der Trennung und Alter der Kinder - immer eine mehr oder weniger starke Belastung dar. Es muss jedoch von Fall zu Fall entschieden werden, wie die Situation der Kinder langfristig aussieht.
Die Kinder können durch die Trennung dann etwas gewinnen, wenn sich ihre Situation dadurch langfristig verbessert. Dies ist z. B. dann gegeben, wenn sie nach der Trennung nicht mehr den ständigen Konflikten ihrer Eltern ausgesetzt sind. Denn „konfliktreiche Beziehungen haben auf die langfristige psychische Entwicklung des Kindes zumeist schädlichere Auswirkungen als eine geglückte Trennung“ (Figdor, 2003, S. 1).
Darüber hinaus ist zu bedenken, dass Eltern, die selbst unglücklich und belastet sind, ihren Kindern oft nicht viel Geduld und Einfühlungsvermögen entgegenbringen können. Da sie einen großen Teil ihrer Energien brauchen, um ihre eigene Situation zu meistern, bleibt neben der Bewältigung des Alltags für den Umgang mit den Kindern unter Umständen nicht viel Kraft. Außerdem dienen die Eltern den Kindern als Modell und leben ihnen vor, wie sie ihr Leben und ihre Belastungen meistern – oder eben nicht (vgl. ebd., S. 1). Auch in diesen Punkten wäre zumindest durch eine ‚geglückte’ Trennung eine Verbesserung der Gesamtsituation möglich.
Gelingt es den Eltern jedoch nicht, ihre Konflikte in angemessener Zeit nach der Trennung zu lösen, so geht es den Kindern nach der Trennung tendenziell schlechter als zuvor (vgl. Niesel, 2004, S. 3).
Während sich manche Menschen in der Zeit der Entscheidungskonflikte zurückziehen und ihre sozialen Kontakte einschränken, suchen andere verstärkt den Kontakt mit gleich- oder gegengeschlechtlichen Freunden. Hier können sie über ihre Probleme reden, erfahren Unterstützung, Verständnis und Empathie. Durch diese Unterstützung wird die Situation erträglicher, was zu einem weiteren Hinausschieben der Entscheidung führen kann. Wird durch die Gespräche der Kontakt zu einer gegengeschlechtlichen Person sehr intensiv, so kann sich diese zu einer Alternative zu dem aktuellen Beziehungspartner entwickeln (vgl. Textor, 2004a, S. 4).
Bei manchen Paaren denken beide Partner unabhängig voneinander an eine Trennung. Bringt einer von beiden das Thema zur Sprache, ist der andere nicht völlig überrascht, wodurch oft eine relativ rationale Diskussion möglich wird.
Falls nur einer der beiden an eine Trennung denkt, kann die Eröffnung der Trennungsabsicht bei dem Partner zu starken Reaktionen wie Verzweiflung, Hass, Wut, Schmerz, Angst, Überraschung oder auch völliger Apathie führen. Wenn der nicht trennungswillige Partner in der Folgezeit psychische oder physische Gewalt einsetzt, sich völlig zurückzieht oder in großen Mengen Alkohol oder andere Drogen konsumiert, führt dies oft zu einer weiteren Verschlechterung der Beziehung. Auch ‚anklammerndes’ Verhalten hat meist negative Effekte.
Falls der trennungswillige Partner der Trennung selbst ambivalent gegenübersteht oder die Hoffnung auf den Erhalt der Beziehung noch nicht ganz aufgegeben hat, werden in vielen Fällen von beiden Partnern Versuche unternommen, um die Beziehung zu verbessern. Manche Paare trennen sich zeitlich begrenzt, um sich über ihre Gefühle klar zu werden.
Manchmal bereitet einer der Partner heimlich die Trennung vor. Er sucht sich z. B. eine neue Wohnung und eine Arbeitsstelle oder legt Geld beiseite. Die Eröffnung der Trennungsabsicht fällt in diesen Fällen oft zeitlich mit der räumlichen Trennung der Partner zusammen. Es kommt auch vor, dass einer der Partner auszieht, ohne vorher über die Trennungsabsicht zu sprechen.
In vielen Fällen wird die Entscheidung zur Trennung immer wieder aufgeschoben, bis ein bestimmtes Ereignis den endgültigen Entschluss zur Trennung zur Folge hat. Die Entscheidung ist oft von Gefühlen der Erleichterung begleitet, da die Zeit der Unsicherheit nun vorbei ist (vgl. ebd., S. 4f).
Die Kölner Längsschnittstudie ergab, dass die Trennung der Partner nur in wenigen Fällen einvernehmlich erfolgte: Bei zwei Dritteln der untersuchten Paare ging der Wunsch nach Trennung allein von der Frau aus (vgl. Schmidt-Denter, 2000, S. 208).
Die Trennung ist nicht immer von Dauer und führt nicht mehr zwangsläufig zur Scheidung bzw. zur endgültigen Trennung. Der Kausalzusammenhang ‚wenn Trennung dann auch Scheidung’ besteht nicht mehr.
Noch vor wenigen Jahrzehnten war die Entscheidung zur Ehe in Form der Verlobung schwer aufzulösen. Genauso war auch der Entschluss zur Trennung – einmal getroffen - kaum umkehrbar, z. B. wenn die Untreue eines Partners bekannt wurde. Heute trennen sich viele Paare mehrmals, bevor sie eine endgültige Entscheidung treffen. Auch Paare, die letztendlich zusammen bleiben, haben oft Phasen des Getrenntlebens hinter sich.
Nicht nur die Entscheidung zu Ehe und Partnerschaft ist heute revidierbar, auch die Revision der Revision ist möglich (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 127).
Die Scheidungsphase beginnt mit dem Zeitpunkt der endgültigen Trennung und endet mit dem Scheidungsurteil. Sie dauert bei verheirateten Paaren aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen, die ein Trennungsjahr vorschreiben, mindesten ein Jahr, kann sich aber auch über mehrere Jahre erstrecken und lässt sich grob in den Zeitraum der Monate nach der Trennung und in den Zeitraum der gerichtlichen Scheidung unterteilen (vgl. Textor, 2004b, S. 1).
Auch unverheiratete Paare durchlaufen diese Phase. Sie erleben zwar keine gerichtliche Scheidung, müssen sich aber z. B. auch mit den Belangen des Umgangs- und Sorgerechts[15] auseinandersetzen. Für sie ist kein klarer Zeitpunkt auszumachen, an dem die Scheidungsphase in die Nachscheidungsphase übergeht.
Nach der Trennung zieht in den meisten Fällen ein Partner aus der gemeinsamen Wohnung aus und wohnt oft zunächst in vorläufigen Unterkünften, z. B. bei Freunden oder Verwandten. Es kommt auch vor, dass sich beide Partner eine neue Wohnung suchen müssen. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn die ehemals gemeinsame Wohnung von dem zurückbleibenden Partner nicht allein finanziert werden kann. Ist der Auszug eines Partners nicht möglich, kommt es zu einer Trennung ‚unter einem Dach’. Diese meist dauerhaft konfliktträchtige und stark belastende Situation verhindert in vielen Fällen, dass die Partner Abstand zueinander gewinnen und ihre Beziehung neu ordnen können (vgl. Textor, 2004b, S. 1).
Neben den räumlichen Veränderungen und der oft verschlechterten Wohnsituation geht eine Trennung mit vielfältigen Umgestaltungen sowohl im psychischen und sozialen als auch im beruflichen und finanziellen Bereich einher. Selbstbild und Rolle der nun getrennten Partner ändern sich, Lebensweise und viele Gewohnheiten können nicht mehr in den bisherigen Bahnen verlaufen und die Menschen im sozialen Umfeld ändern ihnen gegenüber oft ihr Verhalten. In den meisten Fällen müssen Einschnitte im finanziellen Bereich verkraftet werden.
Es lassen sich Reaktionen der Menschen auf diese Veränderungen feststellen, die vielfach in dieser Phase des Prozesses zu beobachten und daher typisch sind. Sequenz, Stärke und Dauer der Reaktionen sind jedoch individuell. Die Art der Trennung spielt hierbei eine entscheidende Rolle: Ist die Trennung einvernehmlich oder einseitig erfolgt? Kam sie sehr plötzlich oder ist vorher viel darüber gesprochen worden? Ist eine dritte Partei – also ein ‚Liebhaber’ bzw. eine ‚Liebhaberin’ - im Spiel? Doch nicht nur die Art der Trennung sondern auch Geschlecht, Alter und der Umfang der Erwerbstätigkeit sowie die aktuelle Phase im Lebens- und Familienzyklus haben Einfluss auf die Reaktionen, die ein Mensch nach einer Trennung zeigt (vgl. ebd., S. 1).
In den Monaten nach der Trennung wird von vielen Menschen das Ende der Beziehung nicht akzeptiert. Je unsicherer sie sich in der neuen Situation fühlen, je ruhiger die letzten Monate des Zusammenlebens empfunden wurden, je positiver die Gefühle für den ehemaligen Partner noch sind und je weniger eigene Anteile am Scheitern der Beziehung gesehen werden, desto weniger können sie das Ende akzeptieren.
Dies gilt in besonderem Maße für Personen, die plötzlich verlassen worden sind. Sie fühlen sich extrem verletzt, abgelehnt und zurückgewiesen, können die Entscheidung des Partners nicht nachvollziehen und protestieren dagegen. Oft versuchen sie, den Partner zurückzugewinnen. Gelingt dies nicht, kommen Gefühle der Macht- und Hilflosigkeit auf. Manche Menschen verfallen daraufhin in tiefe Verzweiflung, andere reagieren mit Hass, Wut und Gewalt.
Auch der Partner, der sich getrennt hat, zweifelt selbst oft daran, ob seine Entscheidung richtig war. In vielen Fällen entwickelt er Schuldgefühle, weil er seinem ehemaligen Partner und seinen Kindern Schmerz zufügt. Auch er kann in dieser angespannten Lage mit Gewalttätigkeit reagieren. In der Regel verkraftet der Partner, der die Trennung in die Wege geleitet hat, die Situation jedoch besser. Er wünschte sich eine Veränderung, konnte sich darauf vorbereiten, sieht Perspektiven für sich und freut sich vielleicht auf diesen neuen Lebensabschnitt.
In manchen Fällen fühlt sich jedoch auch der Initiator der Trennung als ‚verlassener’ Partner: Von seiner Seite aus war zwar die Trennung nicht gewollt, doch die Situation war für ihn so unerträglich geworden, dass er keine andere Möglichkeit mehr sah. Dies kann z. B. dann der Fall sein, wenn ein ‚Seitensprung’ entdeckt oder eröffnet wird (vgl. Textor, 2004b, S. 1f).
In der Zeit nach der Trennung können sowohl positive als auch negative Gefühle und Entwicklungen auftreten.
Auf der einen Seite erleben viele Menschen in dieser Zeit Angst, Schmerz, Trauer, Wut, Hass und Verbitterung. Sie schüren Rachegefühle, versinken in Hoffnungslosigkeit und Depressivität, werden von Minderwertigkeitsgefühlen, Selbstzweifeln und Schuldgefühlen gequält, fühlen sich unsicher und emotional erstarrt oder spüren große Aggressivität. Art, Dauer und Intensität der Gefühle wechseln. Psychische und psychosomatische Störungen wie Depressionen, Schlafstörungen und Apathie können auftreten. Weitere Auswirkungen können Kopfschmerzen, Nervosität, Reizbarkeit und Erschöpfung sein. Drogen- und Medikamentenmissbrauch, ein vermehrter Konsum von Alkohol und Nikotin, eine erhöhte Anfälligkeit für Krankheiten und eine größere Unfallneigung sind oft festzustellen. Die Leistungsfähigkeit im beruflichen Bereich kann abnehmen, vielfach kommt es deshalb auch in diesem Bereich zu Problemen.
Auf der anderen Seite können Menschen nach der Trennung auch positive Gefühle und eine Steigerung ihres Selbstwertgefühls erleben. Sie spüren innere Energie und Zufriedenheit, Schlafstörungen und Depressionen gehen zurück, ihr Gesundheitszustand verbessert sich. Sie spüren, dass sich ihr Leben auf positive Weise verändert und sie selbst sich weiterentwickeln können (vgl. ebd., S. 2).
Welche Entwicklungen nach der Trennung wirksam werden, hängt von mehreren Faktoren ab.
Die subjektive Bewertung der Trennung hat einen großen Einfluss darauf, wie die Menschen mit ihr umgehen: Wird die Trennung als persönliches Versagen, als Katastrophe und Zusammenbruch aller Zukunftsperspektiven sowie als ‚Beweis’ dafür gesehen, unattraktiv und nicht liebenswert zu sein, gewinnen die negativen Auswirkungen die Oberhand.
Wird sie als Neubeginn und Chance wahrgenommen, können die negativen Auswirkungen meist relativ schnell bewältigt werden und positive Entwicklungen treten in den Vordergrund. Auch wenn die Trennungssituation als eindeutige Verbesserung gegenüber der Beziehungssituation erlebt wird, kann die Trennung meist gut bewältigt werden. Die bisherigen Belastungen, z. B. in Form von ständigen Konflikten mit dem Partner, treten nicht mehr auf. Die in der Vorscheidungsphase oft auftretenden Probleme und psychischen sowie psychosomatischen Störungen gehen zurück.
Je mehr schwierige Situationen ein Mensch in seinem Leben bereits bewältigt und je mehr coping-Strategien er dabei erworben hat, desto besser kann er auch eine Trennung bewältigen. Besonders Menschen, die frühere Verlusterfahrungen nicht oder nur unzureichend verarbeitet haben, verfügen über keine angemessenen Bewältigungsstrategien für diese Situation und leiden daher besonders häufig an negativen psychischen Auswirkungen der Trennung.
Auch wenn sich Menschen durch die Herausforderungen der neuen Situation überfordert fühlen oder sehr viel in die Beziehung investiert haben, treten häufig Probleme bei der Bewältigung auf (vgl. Textor, 2004b, S. 2f).
Eine neue intime Beziehung kann bei der Bewältigung der Trennung vom ehemaligen Partner hilfreich sein, doch für die meisten Menschen spielen vor allem Netzwerkkontakte mit Freunden und Verwandten eine entscheidende Rolle für das Wohlbefinden. Hier finden sie oft nicht nur Einfühlungsvermögen und Verständnis und erleben Sicherheit sowie Geborgenheit, sondern erfahren auch ganz konkrete Hilfe, z. B. beim Umzug, bei der Kinderbetreuung oder im Haushalt .
Manche Menschen ziehen sich in der Vorscheidungsphase aus sozialen Netzwerken zurück, während andere in dieser Zeit verstärkt Kontakte pflegen und ausbauen. Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf Qualität und Dichte des Netzwerks, auf das in der Zeit nach der Trennung zurückgegriffen werden kann. Menschen, die nur wenige soziale Kontakte haben oder die bei der Trennung viele Freunde und Bekannte verlieren, da diese dem ehemaligen Partner näher stehen, finden nur wenig Rückhalt und sind oft einsam. Auch wenn das soziale Netzwerk die Trennung ablehnt oder der Getrenntlebende seine Situation vor Freunden und Bekannten geheim hält, erhält er keine Unterstützung.
Sofern vor der Trennung ein guter Kontakt zu Blutsverwandten bestand, unterstützen diese den Getrenntlebenden in vielen Fällen – meist unabhängig davon, ob sie die Trennung ablehnen oder befürworten. Manche Menschen ziehen sich vor den Hilfsangeboten von Freunden und Verwandten zurück, da sie diese als übertrieben erleben oder nicht bemitleidet werden wollen (vgl. Textor, 2004b, S. 2f).
Auch der Umfang der Erwerbstätigkeit sowie die Höhe der beruflichen Qualifikation haben Einfluss auf die Reaktionen, die ein Mensch nach einer Trennung zeigt. Personen mit einer guten Berufsausbildung und -erfahrung sind oft in der Lage, ihre finanzielle Situation nach der Trennung zu verbessern. Dies gelingt in vielen Fällen selbst dann, wenn sie zum Zeitpunkt der Trennung nicht erwerbstätig waren. Diese Möglichkeit bietet ihnen einen relativ sicheren Rahmen und eine Perspektive für die Zukunft, so dass finanzielle Notlagen oft abgewendet werden können.
Doch die Erwerbstätigkeit wirkt sich nicht nur auf die finanzielle Situation aus. So bietet z. B. eine beibehaltene Erwerbstätigkeit durch die gewohnten Abläufe Kontinuität und die Kollegen zeigen sich oft verständnisvoll und hilfsbereit. Darüber hinaus kann in der (erfolgreichen) Ausübung des Berufs Befriedigung erfahren und eine Stärkung des Selbstwertgefühls erreicht werden. Die Menschen haben hier die Erfahrung gemacht, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen und gestalten können. Dies können sie den unter Umständen aufkommenden Gefühlen von Hilflosigkeit und Verzweiflung nach der Trennung entgegensetzen (vgl. ebd., S. 5).
In der Zeit nach der Trennung verändern sich nach und nach die sozialen Netzwerke. Die Getrenntlebenden beginnen, neue Kontakte zu knüpfen und andere Kontakte einzuschränken, besonders z. B. zu Paaren. Auch ihr Selbstkonzept verändert sich in den folgenden Monaten. Sie nehmen sich immer mehr als Alleinlebende bzw. Alleinerziehende wahr und ändern entsprechend ihren Lebensstil. Neue Lebensinhalte werden wichtig und neue Ziele werden gesteckt (vgl. ebd., S. 3).
Tendenziell lassen Frauen nach der Trennung eher Gefühle wie Angst, Trauer, Verzweiflung und Reue zu, verdrängen aber aggressive Impulse. Besonders Frauen, die viel in die Partnerschaft und in die Familie investiert oder sich bisher stark über diese definiert haben, neigen zu Depressionen.
Männer tendieren dazu, Trauer, Angst und Schmerz zu unterdrücken. Sie geben tendenziell eher Wut, Hass und Zorn Raum. Oft haben sie Probleme damit, über ihr Gefühlsleben zu sprechen, da dies nach wie vor bei vielen Menschen als eher ‚unmännlich’ gilt und sie in vielen Fällen auch keine enge Beziehungen zu gleichgeschlechtlichen Freunden haben, denen sie von ihren Gefühlen erzählen könnten (vgl. Textor, 2004b, S. 4).
Je jünger die Partner zum Zeitpunkt der Trennung sind und je kürzer die Beziehung dauerte, desto leichter kann in der Regel die Trennung bewältigt werden. Je älter die Partner sind, je länger die Beziehung dauerte und je mehr in diese investiert wurde, desto eher wird die Trennung als Verlust an Lebenssinn erlebt. Diesen Menschen fällt es oft schwer, ihr soziales Netzwerk nach einer Trennung neu auf- und auszubauen, ihren Lebensstil zu ändern und sich von eingefahrenen Mustern und Gewohnheiten zu lösen (vgl. Textor, 2004b, S. 4f).
Die meisten Beziehungen werden während der Familienphase beendet. Der Elternteil, der nach der Trennung die Hauptverantwortung für die unter Umständen noch sehr jungen gemeinsamen Kinder trägt, ist oft in einer besonders schwierigen finanziellen Lage[16]. In den meisten Fällen handelt es sich hierbei um die Mütter. Oft waren sie zum Zeitpunkt der Trennung nicht oder nur einige Stunden in der Woche erwerbstätig. Nun müssen sie nach einer Arbeit suchen, mit der sie sich und die Kinder finanzieren können und die sich mit der Versorgung der Kinder vereinbaren lässt. In vielen Fällen gelingt dies nicht und die Mütter müssen staatliche Hilfe in Anspruch nehmen, was von ihnen oft als Versagen und Erniedrigung empfunden wird. Besonders schwierig ist die Situation dann, wenn der unterhaltspflichtige Elternteil seinen Pflichten nicht oder nur unzureichend nachkommt.
Oft ziehen die Alleinerziehenden mit ihren Kindern aus ländlichen Gegenden in die Stadt, da hier die Berufsaussichten sowie die Möglichkeiten der Kinderbetreuung besser sind und Alleinerziehende nicht so stark diskriminiert werden. Gelingt es den Müttern jedoch nicht, eine Arbeitsstelle zu finden, geraten sie leicht in eine sehr schwierige Lage: Falls sie nicht vorher schon Kontakte hatten, können sie kurz nach dem Umzug noch nicht auf ein soziales Netzwerk in ihrer unmittelbaren Umgebung zurückgreifen. Je kleiner die Kinder sind, desto mehr sind die Mütter durch deren Betreuung an die Wohnung gebunden. Es besteht kaum Kontakt zu anderen Erwachsenen, die Freizeitmöglichkeiten sind durch die finanzielle Lage stark eingeschränkt. Gefühle von Einsamkeit und Isoliertheit kommen auf. Viele Mütter erleben sich selbst als unattraktiv und ziehen sich noch stärker zurück (vgl. Textor, 2004b, S. 5).
Wenn es Alleinerziehenden gelingt, Arbeit zu finden, haben sie zwar seltener finanzielle Probleme, sind dafür jedoch oft am Ende ihrer Kräfte. Dies gilt besonders dann, wenn die Erwerbstätigkeit erst nach der Trennung aufgenommen wurde und die Zeit der Einarbeitung und –gewöhnung in diese ohnehin schwierige Phase fällt. Diese Überlastung führt z. B. dazu, dass die Kinder oft zu spät in die Schule oder die Kindertagesstätte kommen und wiederholt nicht rechtzeitig abgeholt werden. Die Kinder sind häufig sich selbst überlassen und bisher gepflegte Rituale, wie z. B. geregelte Bettzeiten oder gemeinsame Mahlzeiten, werden nicht mehr eingehalten. Darüber hinaus ist die Wohnung oft in einem chaotischen Zustand, wodurch sie nur eingeschränkt als Erholungs- und Rückzugsraum genutzt werden kann.
[...]
[1] Die ‚traditionelle Kleinfamilie’ ist gekennzeichnet durch eine dauerhafte, monogame, eheliche Verbindung zwischen Mann und Frau, aus der gemeinsame Kinder hervorgehen. Das Ehepaar und die Kinder leben in einem gemeinsamen Haushalt. Der Mann ernährt die Familie und widmet sich seinem Beruf, die Frau übernimmt die volle Verantwortung für die Haushaltsführung und die Kindererziehung (vgl. Schneewind, 1999, S. 17).
[2] ‚Alleinerziehende’ werden hier verstanden als allein erziehende Väter oder Mütter von noch ledigen Kindern unter 27 Jahren, die ohne weitere Personen gemeinsam in einem Haushalt leben (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 40).
[3] ‚Institutionen’ im soziologischen Sinne sind nach Esser „bestimmte, in den Erwartungen der Akteure verankerte, sozial definierte Regeln mit gesellschaftlicher Geltung und daraus abgeleiteter ‚unbedingter’ Verbindlichkeit für das Handeln“ (Esser, 2000, S. 6, Hervorhebungen auch im Original). Legitimiert werden diese sozialen Regelsysteme z. B. durch Tradition, Macht, Religion oder Gesetz. Die Einhaltung der Regeln wird durch Sanktionen abgesichert. Diese erfolgen entweder extern oder – wenn die Normen internalisiert sind – auch intern, z. B. in Form von Schamgefühlen und Schuldkomplexen (vgl. Nave-Herz, 2004, S. 137f).
[4] Ein Motiv für die kindorientierte Ehegründung - welches ich nennen möchte, da es eine grundlegende Erwartung vieler Menschen an die Ehe widerspiegelt - liegt darin, dass die Ehe als eine auf Dauer angelegte und mit Verpflichtungen verbundene Lebensform einen nach wie vor als sicher empfundenen Rahmen für das Leben mit Kindern zu bieten scheint. Frauen gehen mit der Geburt eines Kindes oft das Risiko vielfältiger finanzieller und beruflicher Benachteiligungen ein: Steigen sie aus dem Erwerbsleben aus, verschlechtern sich ihre Aufstiegschancen, ihre Rentenansprüche verringern sich und der Wiedereinstieg in den Beruf gestaltet sich oft schwierig. Wird die Erwerbstätigkeit nicht unterbrochen, führt dies zu einer Doppelbelastung, sofern nicht der Vater die Betreuung des Kindes übernimmt. Daher ist der Versorgungsanspruch der Frau – und zwar sowohl für die Mütter als auch für die Väter - nach wie vor ein Motiv für die Eheschließung bei der Geburt von Kindern (vgl. Nave-Herz, 2002, S.20f).
[5] Im Jahr 1980 waren verheiratete Frauen in Westdeutschland bei der Geburt ihres ersten Kindes im Schnitt 25,2 Jahre alt, im Jahr 2000 bekamen sie ihr erstes Kind durchschnittlich im Alter von 29 Jahren. Bei verheirateten Frauen in Ostdeutschland sowie bei unverheirateten Frauen in ganz Deutschland ist eine ähnliche Entwicklung festzustellen (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 76).
[6] Seit Mitte der 1960er Jahre sinkt die Geburtenrate in Deutschland – abgesehen von kurzen Unterbrechungen – kontinuierlich. Während im Jahr 1991 noch 830.019 Kinder das Licht der Welt erblickten, waren es im Jahr 2000 nur noch 766.999 Kinder (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 70f). Dafür werden die Menschen immer älter: Bei 60-jährigen Männern und Frauen in der EU ist die fernere Lebenserwartung in einem Zeitraum von weniger als 40 Jahren um mehr als 20 Prozent gestiegen. Für kommende Jahrzehnte sind laut nationalen Prognosen weitere Steigerungen zu erwarten (vgl. ebd., S. 104).
[7] Gesamtgesellschaftlich betrachtet verschiebt sich der Beginn der Elternschaft nach hinten. Diese Entwicklung ist unter anderem durch die Entscheidungskonflikte bedingt, die bei dem Versuch entstehen, berufliche Ziele und Kinderwunsch zu vereinbaren. Manche Frauen schieben den Übergang zur Elternschaft so lange auf, bis sie schließlich ganz auf Kinder verzichten (vgl. BMFSFJ, 2002, S. 125). „Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass Männer häufiger als Frauen, Deutsche häufiger als Ausländerinnen, Ledige und Geschiedene häufiger als Verheiratete und höher Gebildete häufiger als Personen mit niedrigem Bildungsniveau kinderlos bleiben“ (BMFSFJ, 2003, S. 74).
[8] Das Recht des Ehemanns, seine Frau ‚mäßig’ zu züchtigen, war noch 1794 im Allgemeinen Preußischen Landrecht verankert. Diese Regelung wurde zwar bereits 1812 abgeschafft, jedoch - dessen weitgehend ungeachtet - bis zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahr 1900 weiter praktiziert (vgl. Honig, 1988, S. 191). Das Recht des Kindes auf gewaltfreie Erziehung ist in Deutschland erst seit November 2000 im Bürgerlichen Gesetzbuch verankert. In § 1631 Abs. 2 BGB heißt es: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“ ( BGB, 2004, S. 348).
[9] „‚Erheblich’ ist eine Misshandlung immer dann, wenn eine Jugendhilfeeinrichtung aufgrund fachlicher und rechtlicher Kriterien zum Eingreifen verpflichtet ist“ (Kinderschutzzentrum Berlin, 2000, S. 26).
[10] Familie ist kein starres System, sondern ständig in Bewegung und Entwicklung begriffen. Anforderungen von innen und außen werden zu Entwicklungsaufgaben sowohl für die Familie als Ganzes als auch für die einzelnen Familienmitglieder und müssen bewältigt werden. So ist es z. B. erforderlich, nach der Geburt eines Kindes die Rollen innerhalb der Familie neu auszuloten. Werden die Kinder älter, ergeben sich durch deren Entwicklung ständig neue Anforderungen an die Familie. Ebenso erfordert schließlich der Auszug des letzten Kindes eine Anpassungsleistung der ‚zurückbleibenden’ Eltern (vgl. Schneewind, 1999, S. 96f). Der Verlust des Arbeitsplatzes, der Ausbruch einer schweren Krankheit bei einem Familienmitglied oder die Untreue eines Partners stellen nur drei der unzähligen möglichen Herausforderungen dar, mit denen umgegangen werden muss. Die Reaktionen der Familienmitglieder auf die vielfältigen Anforderungen hängen von ihren Vorerfahrungen, von der Stärke der auftretenden Stressoren und von allen Ressourcen ab, auf die sie zurückgreifen können (vgl. ebd., S. 116ff).
[11] Unter einem ‚Wert’ wird im Folgenden das verstanden, „was ‚in den Menschen’ als Wertungs-, Bevorzugungs- und Motivationspotential vorhanden ist“ (Klages, 1985, S. 12).
[12] Die Befragten konnten zwischen fünf Antwortkategorien wählen, die abgestufte Zustimmungsmöglichkeiten boten. In Tabelle 2 ist nur die erste Kategorie – ‚starke Zustimmung’ – berücksichtigt. In der Antwortkategorie mit der zweitstärksten Zustimmung war der gleiche Trend im Antwortverhalten festzustellen wie in der dargestellten Kategorie (vgl. Scheller, 1990, S. 69).
[13] Neben finanziellen Aspekten, beruflichen Plänen und ähnlichem sind weitere Motive bei der Entscheidung für oder gegen Kinder wichtig. Konflikte mit eigenen Interessen spielen eine Rolle sowie auch „das Bedürfnis nach Freiräumen, Unabhängigkeit, ausreichender Zeit für die Pflege von Freundschaften und die Sorge, dass Kinder Kräfte beanspruchen, die man lieber für persönliche Interessen einsetzen würde“ (Institut für Demoskopie Allensbach, 2004, S. 29).
[14] In der Kölner Längsschnittstudie ‚Familiäre Beziehungen nach Trennung und Scheidung: Veränderungsprozesse bei Müttern, Vätern und Kindern’ wurden Veränderungen der familialen Beziehungen nach Trennung oder Scheidung erhoben. Ziel war es, mögliche Formen von Scheidungsverläufen zu erfassen und psychologische Unterstützungsmöglichkeiten für die Betroffenen aufzuzeigen. Die Studie wurde als Längsschnittuntersuchung mit vier Messzeitpunkten angelegt und begann im Februar 1990. Die erste Erhebung erfolgte im Schnitt 9,9 Monate nach der Trennung, die zweite und dritte jeweils im Abstand von 15 Monaten. Die vierte Erhebung fand ca. sechs Jahre nach der Trennung statt. Es nahmen 60 Familien aus Nordrhein-Westfalen teil, alle Kinder lebten nach der Trennung bei der Mutter. Die neuen Partnerinnen und Partner der Eltern wurden in der vierten Erhebung mit einbezogen (vgl. Schmidt-Denter, 2000, S. 203ff).
[15] Verheiratete Eltern haben grundsätzlich zunächst das gemeinsame Sorgerecht inne. Auf unverheiratete Eltern trifft dies nur zu, wenn sie eine entsprechende Sorgerechtserklärung abgegeben haben. Das alleinige Sorgerecht kann beantragt werden. Das Umgangsrecht besteht unabhängig von der Regelung des Sorgerechts. Das Kind hat ein Recht auf den Umgang mit beiden Eltern. Die Eltern ihrerseits sind zum Umgang berechtigt und verpflichtet. Das Umgangsrecht gilt auch für weitere Bezugspersonen wie z. B. die Großeltern (vgl. Michels, 2004, S. 2).
[16] Im Jahr 2000 lag das durchschnittliche monatliche Haushaltsnettoeinkommen der privaten Haushalte in Deutschland bei 2.583 Euro. Das durchschnittliche Einkommen der Alleinerziehenden betrug 1.777 Euro und lag damit erheblich unter dem Gesamtdurchschnitt (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 148). Alleinerziehende Väter sind oft finanziell besser gestellt als alleinerziehende Mütter: Im Jahr 1998 verfügten alleinerziehende Väter mit einem Kind im Schnitt über 1.340 Euro im Monat, alleinerziehende Mütter mit einem Kind jedoch nur über durchschnittlich 987 Euro (vgl. ebd., S. 152). Im Jahr 1998 besaß ca. ein Fünftel (19 Prozent) aller Alleinerziehenden keinerlei Ersparnisse, auf die sie in einer finanziellen Notlage zurückgreifen könnten (vgl. ebd., S. 160). Vor allem alleinerziehende Mütter sind überdurchschnittlich häufig überschuldet. Der Hauptauslöser für Überschuldung ist bei den meisten Menschen Arbeitslosigkeit. Weitere wichtige Ursachen sind Trennungen und Scheidungen, ein dauerhaft niedriges Einkommen sowie Unerfahrenheit mit Kreditinstituten (vgl. ebd., S. 165).