Examensarbeit, 2006
50 Seiten, Note: 1,0
1 Einleitung
2 Beschreibung der Störung
2.1 Begriffsbestimmung und Klassifikation
2.2 Symptome
2.2.1 Frühe Anzeichen vor Beginn der Schulzeit
2.2.2 Symptome der Lesestörung
2.2.3 Symptome der Rechtschreibstörung
2.2.4 Begleitstörungen
2.3 Ursachenannahmen
2.3.1 Besonderheiten visueller Informationsverarbeitung
2.3.2 Besonderheiten akustischer und sprachlicher Informationsverarbeitung
2.3.3 Genetische Einflüsse
2.3.4 Umwelteinflüsse und psychosoziale Faktoren
3 Früherkennung von Kindern mit Lese-Rechtschreibstörungen
3.1 Früherkennung von Kindern mit Risikofaktoren
3.1.1 Die „Differenzierungsprobe“
3.1.2 Das „Bielefelder Screening“
3.2 Differentialdiagnostik im Schulalter durch interdisziplinäre Zusammenarbeit
3.2.1 Anamnese
3.2.2 Untersuchung der Lernvoraussetzungen
3.2.3 Überprüfung der intellektuellen Leistungsfähigkeit
3.2.4 Überprüfung der Lese-Rechtschreibfertigkeit
3.2.5 Körperliche Untersuchung
3.2.6 Einschätzung psychischer Begleitsymptome
3.2.7 Diagnosestellung
3.3 Spezielle Testverfahren zur Früherkennung einer Lese-Rechtschreibstörung
3.3.1 Der „Salzburger Lese- und Rechtschreibtest“
3.3.2 Die „Würzburger Leise Leseprobe“
4 Frühförderung von Kindern mit Lese-Rechtschreibstörungen
4.1 Prävention und Frühförderung vor Beginn der Schulzeit
4.1.1 Hinweise zur frühen Prävention
4.1.2 Das Würzburger Trainingsprogramm „Hören, lauschen, lernen“
4.2 Fördermöglichkeiten und Hilfen im Schulalter
4.2.1 Fördermöglichkeiten und Hilfen im schulischen Bereich
4.2.2 Fördermöglichkeiten und Hilfen im außerschulischen Bereich
4.2.3 Umgang mit den betroffenen Kindern
4.3 Spezielle Förderprogramme zur Behandlung einer Lese-Rechtschreibstörung
4.3.1 Der „Kieler Leseaufbau“
4.3.2 Hinweise auf weitere Verfahren
5 Fazit und Schluss
Literaturverzeichnis
Die Fertigkeiten des Lesens und Schreibens nehmen in unserer Gesellschaft einen besonderen Stellenwert ein. Sie gelten als grundlegende Kulturtechniken und helfen den Menschen, die Anforderungen des alltäglichen Lebens − sowohl im privaten als auch im beruflichen Bereich - zu bewältigen. Lesen dient insbesondere der Informationsaufnahme, während das Schreiben ein wichtiges Kommunikationsmittel darstellt.
Die Vermittlung des Lesens und Rechtschreibens ist eine zentrale Aufgabe der Grundschule, da ein Großteil des schulischen Lernens auf laut- und schriftsprachlichen Fertigkeiten basiert. Insbesondere sinnentnehmendes Lesen ist beispielsweise für die korrekte Bearbeitung einer Textaufgabe im Mathematikunterricht relevant. Schulanfänger beherrschen jedoch zunächst nur die gesprochene Sprache. Erst im Laufe der Grundschulzeit werden sie mit der Schriftsprache vertraut und erlernen normalerweise in den ersten Schuljahren das Lesen und Schreiben. Einigen Kindern bereitet dieser Lernprozess allerdings große Schwierigkeiten und manche von ihnen scheitern leider schon beim Schulstart daran.
Für Lese-Rechtschreibschwierigkeiten gibt es verschiedene Ursachen. Ein besonderes Prob- lem stellt die „Umschriebene Lese- und Rechtschreibstörung“ (Legasthenie) dar, auf welche ich in dieser Arbeit näher eingehen werde. Bei einer Lese-Rechtschreibstörung bestehen ausgeprägte, spezifische Schwierigkeiten, die den Lernprozess des Lesens und Schreibens verzögern bzw. beeinträchtigen. In der „internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten“ (ICD-10), einem international anerkannten Klassifikationssystem der Weltge- sundheitsorganisation (WHO), gilt die Lese-Rechtschreibstörung als eine „umschriebene Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten“ (vgl. Warnke, Hemminger, Roth & Schneck, 2002, S. 14). Erfahrungsgemäß sind die betroffenen Kinder nicht etwa dumm oder faul, sondern ihre Intelligenz liegt oft sogar weit oberhalb des Durchschnitts und steht in Diskre- panz zu ihren Lese- und Rechtschreibleistungen. Diese Kinder bedürfen einer speziellen Diagnostik und individuellen Förderung (a.a.O., S. 38, 90).
Aber wie kann man den betroffenen Kindern rechtzeitig helfen? Gibt es geeignete Möglich- keiten zur Früherkennung und Frühförderung von Kindern mit Lese- Rechtschreibstörungen? Mit diesen Fragestellungen werde ich mich im Verlauf der vorlie- genden Arbeit auseinandersetzen. Dabei beziehe ich mich vorwiegend auf die Früherken- nung und Frühförderung im Vorschulalter sowie in den ersten beiden Jahrgangsstufen der Grundschule.
Nach dieser Einführung im ersten Kapitel wird im zweiten Kapitel der Begriff der Lese- Rechtschreibstörung näher erläutert. Bei der Begriffsbestimmung orientiere ich mich an der Definition der Weltgesundheitsorganisation. Darüber hinaus wird die genaue Einordnung der Lese-Rechtschreibstörung in der ICD-10 sowie in einem anderen Klassifikationssystem, dem DSM-IV, beschrieben. Im Anschluss daran gehe ich auf die frühen Anzeichen für mög- liche Schwierigkeiten beim späteren Schriftspracherwerb sowie auf die Symptome der Lese- Rechtschreibstörung näher ein. Außerdem gebe ich einen Überblick über mögliche Begleit- probleme. Am Ende von Kapitel 2 werden verschiedene Faktoren, welche nach dem neues- ten Forschungsstand als Ursachen einer Legasthenie gelten, beschrieben.
Kapitel 3 befasst sich mit der Früherkennung der Lese-Rechtschreibstörung. Zunächst werden zwei Verfahren vorgestellt, mit denen unzureichende Lernvoraussetzungen für den Schriftspracherwerb bereits vor Beginn der Schulzeit erkannt werden können. Im Anschluss daran beschreibe ich die einzelnen Schritte des Diagnoseverfahrens und stelle schließlich zwei aktuelle Testverfahren zur Früherkennung einer Lese-Rechtschreibstörung im Grundschulalter vor. Hierbei handelt es sich zum einen um einen Test, der Lese- als auch Rechtschreibleistungen überprüft und zum anderen um einen reinen Lesetest.
Schließlich werden in Kapitel 4 Möglichkeiten zur Prävention einer Lese- Rechtschreibstörung sowie zur Frühförderung von Kindern, bei denen diese Störung diag- nostiziert wurde, dargestellt. Als Einstieg in das Kapitel gebe ich Informationen zur Präven- tion von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten. Im Anschluss daran wird ein Trainingspro- gramm, welches Vorschulkinder auf den Schriftspracherwerb vorbereitet, näher beschrie- ben. Außerdem werde ich verschiedene schulische und außerschulische Fördermöglichkei- ten aufzeigen und verdeutlichen, wie Eltern und Lehrer/innen mit den betroffenen Kindern umgehen sollten. Abschließend gehe ich auf ein spezielles Förderprogramm näher ein, das für Grundschüler/innen mit Defiziten im Bereich des Lesens entwickelt wurde. Darüber hinaus werden auch Hinweise auf weitere Trainingsverfahren für das Grundschulalter gege- ben. Um den Umfang dieser Arbeit einzuschränken, werden in diesem Kapitel ausschließ- lich Förderprogramme vorgestellt, die einen direkten Bezug zur Symptomatik der Lese- Rechtschreibstörung haben (symptomspezifische Trainingsprogramme).
In der einschlägigen Literatur findet sich zurzeit keine einheitliche Definition für Probleme beim Erwerb von Lese- und Rechtschreibfertigkeiten. Generell unterscheidet man jedoch zwischen Lese-Rechtschreibschwierigkeiten und einer umschriebenen Lese- Rechtschreibstörung, welche auch als Legasthenie bezeichnet wird. Nach Schulte-Körne (2004, S. 67) bezieht sich der Begriff der Lese-Rechtschreibschwierigkeiten „auf alle Kin- der, die irgendwann in ihrer schulischen Entwicklung Probleme im Lesen und/oder Recht- schreiben entwickeln. Hintergrund hierfür sind häufig psychosoziale Faktoren, wie z.B. mangelnder Unterricht aufgrund von Schuleschwänzen. Hierzu gehören auch die durch Seh- fehler bedingten Lesestörungen, die durch Korrektur z.B. mittels einer Sehhilfe … verbes- sert werden können.“ .
Die Lese-Rechtschreibstörung dagegen ist eine spezielle Form ausgeprägter LeseRechtschreibschwierigkeiten. International anerkannte Begriffsbestimmungen der LeseRechtschreibstörung sind in den beiden Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV zu finden. Das DSM-IV ist das „Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen“ der USA. Die ICD-10 bezeichnet die „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO), in der die Lese-Rechtschreibstörung folgendermaßen definiert ist (Dilling, Mombour & Schmidt, 1991):
Das Hauptmerkmal dieser Störung ist eine umschriebene und eindeutige Beeinträchti- gung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsal- ter, durch Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Lesever- ständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wiederzuerkennen, vorzulesen und die Leistun- gen bei Aufgaben, für welche Lesefähigkeit benötigt wird, können sämtlich betroffen sein. Mit Lesestörungen gehen häufig Rechtschreibstörungen einher. Diese persistieren oft bis in die Adoleszenz, auch wenn im Lesen einige Fortschritte gemacht wurden … . Die Leseleistungen des Kindes müssen unter dem Niveau liegen, das aufgrund des Al- ters, der allgemeinen Intelligenz und der Beschulung zu erwarten ist … . In der späteren Kindheit und im Erwachsenenalter sind die Rechtschreibprobleme meist größer als De- fizite in der Lesefähigkeit. (S. 257f.)
Die oben angeführte Definition der WHO enthält die Aussage, dass eine Lese- Rechtschreibstörung vorliegt, wenn die Leseleistungen in Diskrepanz zum Alter, zur allge- meinen Intelligenz und zur Beschulung des Kindes stehen. Das Merkmal, dass die Lese- und Rechtschreibleistungen um einen bestimmten Wert unterhalb dessen liegen müssen, was aufgrund der allgemeinen Intelligenz zu erwarten ist, wird in der Literatur als „Diskrepanz- kriterium“ bezeichnet (vgl. Warnke, Hemminger & Plume, 2004, S. 2). Insgesamt sind Lese-Rechtschreibschwierigkeiten infolge
− neurologischer oder körperlicher Erkrankung/Behinderung (z.B. Epilepsie, Seh- oder Hörstörungen, Hirnerkrankungen)
− einer psychischen Erkrankung (z.B. Angststörung, Depression),
− einer Intelligenzminderung
− oder unzureichender schriftsprachlicher Unterrichtung (Analphabetismus) von der Lese-Rechtschreibstörung abzugrenzen (a.a.O., S. 1, 5f.).
Eine tabellarische Übersicht über die klassifikatorische Einordnung der Lese- Rechtschreibstörung in der ICD-10 sowie im DSM-IV findet sich bei Warnke und Roth (1995, S. 457). In der ICD-10 ist die Lese-Rechtschreibstörung den „umschriebenen Ent- wicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ zugeordnet. Außerdem wird in diesem Klassi- fikationssystem zwischen einer „Lese- und Rechtschreibstörung“ (F 81.0) und einer „Isolier- ten Rechtschreibstörung (F 81.1) unterschieden. Im DSM-IV fällt die Lese- Rechtschreibstörung unter Punkt 315.00 in den Bereich der Lernstörungen (a.a.O.).
Nach Warnke et al. (2002, S. 14) kann davon ausgegangen werden, dass mindestens 4% aller Schüler/innen in Deutschland von einer Lese-Rechtschreibstörung betroffen sind - Jungen häufiger als Mädchen. Schulte-Körne (2004, S. 65) nennt ähnliche Prozentzahlen von 3 bis 5% und gibt zudem an, dass in Deutschland etwa 200.000 Grundschulkinder nicht richtig lesen und/oder rechtschreiben können.
Erfahrungsgemäß haben schwerwiegende Formen der Lese-Rechtschreibstörung während der gesamten Schulzeit Auswirkungen auf die schriftsprachliche Kompetenz der betroffenen Kinder und Restsymptome zeigen sich auch oft noch im Erwachsenenalter. Die Lese- Rechtschreibstörung ist nicht nur in Familien mit niedrigem Sozialstatus oder geringem Bil- dungsstand zu finden, sondern kann in allen Bevölkerungsschichten auftreten (vgl. Warnke et al., 2004, S. 5).
Im Kindergarten- und Vorschulalter kann eine Lese-Rechtschreibstörung natürlich noch nicht festgestellt werden, da Kinder in der Regel erst in der Grundschule die Fertigkeiten des Lesens und Schreibens erwerben. Allerdings gibt es häufig bereits vor Schuleintritt Anzei- chen, die auf mögliche Schwierigkeiten bzw. Störungen beim Erlernen des Lesens und Schreibens in der Schule hinweisen. Der Bundesverband Legasthenie benennt folgende Risikofaktoren für spätere Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb (vgl. Bundesverband Legasthenie, 1987, S. 8f.; Bundesverband Legasthenie, 1995, S. 5f.; Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie, 2002, S. 3):
− Verzögerte oder gestörte Sprachentwicklung: Im Kleinkindalter begann das Kind auffällig spät zu sprechen und behielt lange die „Babysprache“ bei. Zudem hat es Schwierigkeiten bei der Aussprache und/oder bei der Differenzierung von Lauten. Das Kind lispelt oder ist nicht in der Lage, längere Wörter wie „Feuersalamander“ korrekt nachzusprechen. Es verfügt nur über einen geringen Wortschatz und hat Probleme, Sätze korrekt zu bilden.
− Probleme im Bereich der sprachlichen Informationsverarbeitung: Schwierigkeiten treten im Kindergarten- und Vorschulalter insbesondere beim Silbenklatschen und beim Reimen auf. Außerdem kann sich das betroffene Kind Gedichte und Lieder schlecht einprägen und/oder interessiert sich noch nicht für Buchstaben. Es gibt z.B. auf die Frage „Was hörst du am Anfang von ‚Maus’?“ eine falsche Antwort.
− Motorische Auffälligkeiten und Ungeschicklichkeit: Während der Kleinkindzeit hat das Kind nicht gekrabbelt, sondern nur gerobbt. Es erlernte erst spät das Rollerfahren und hat Schwierigkeiten zu balancieren. Das Kind ist tollpatschig und fällt beim Laufen häufig hin. Das Kind mag nicht gerne malen. Es hat Probleme, eine Schleife zu binden oder sich die Jacke auf- oder zuzuknöpfen.
− Motorische Unruhe und Unaufmerksamkeit: Bereits im Kindergarten fällt das Kind oftmals auf, da es sehr unruhig ist und nicht stillsitzen kann. Es lässt sich leicht ab- lenken.
− Beeinträchtigungen im Seh- oder Hörvermögen: Das Kind ist sehr anfällig für Ent- zündungen im Hals- Nasen- Ohrenbereich. Es zeigt Ausfälle beim Hören oder es schielt.
− Räumliche Wahrnehmungsschwierigkeiten: Es treten Unsicherheiten bei der Unter- scheidung zwischen groß/klein, größer/kleiner, vor/hinter etc. auf.
Warnke et al. (2004, S. 6f.) weist ebenfalls darauf hin, dass einige Kinder, die später Lese- Rechtschreibstörungen entwickeln, bereits vor Beginn der Schulzeit Auffälligkeiten zeigen. Begleitstörungen, die z.T. bereits vorschulisch auftreten, aber auch länger anhalten können, bezeichnet der Autor als „primäre komorbide Störungen“. Diese Störungen sind weitestge- hend mit den zuvor beschriebenen Risikofaktoren vergleichbar. Zu den wichtigsten primä- ren komorbiden Störungen der Lese-Rechtschreibstörung gehören (a.a.O.; Warnke et al., 2002, S. 26f.):
− Hyperkinetische Störung: Bei dieser Störung treten Aufmerksamkeitsschwierigkei- ten, motorische Unruhe sowie Impulsivität auf. Etwa 30% aller Kinder mit Lese- Rechtschreibstörungen sind von einer hyperkinetischen Störung betroffen. − Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache: Die betroffenen Kinder lernen oftmals erst spät in Sätzen zu sprechen und grammatisch korrekt zu formulie- ren. Es können auch Artikulationsstörungen (Lispeln, Stammeln) auftreten. Mitunter kann eine sprachliche Gedächtnisschwäche vorliegen, die z.B. das Auswendiglernen von Gedichten erschwert. Zudem fällt es den betroffenen Kindern schwer, die richti- gen Worte zu finden (Wortfindungsstörung).
− Psychomotorisches Ungeschick, visuelle und visuo-motorische Schwierigkeiten: Die betroffenen Kinder malen ungern und haben Schwierigkeiten beim Umgang mit ei- ner Schere, mit Besteck und Stiften, beim Schleifebinden, An- und Auskleiden oder Zuknöpfen. Einigen Kindern fällt es schwer, die analoge Uhrzeit abzulesen, rechts und links zu unterscheiden, bestimmte Figuren abzuzeichnen oder diese in einer Menge anderer Figuren wiederzuerkennen.
Allerdings sollten die beschriebenen Störungen und Auffälligkeiten ausschließlich als Risi- kofaktoren betrachtet werden, die zu Lese-Rechtschreibschwierigkeiten oder -störungen führen können, jedoch nicht zwangsläufig bei jedem Kind dazu führen müssen (vgl. Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie, 2002, S. 3).
Beim Lesen- und Schreibenlernen machen alle Schulanfänger/innen Fehler. Allerdings zeigen Kinder mit Lese-Rechtschreibstörungen weniger schriftsprachliche Fortschritte als ihre Mitschüler/innen, und sie bleiben mit ihren Leistungen im Lesen und Schreiben hinter den anderen Kindern zurück (vgl. Warnke et al., 2004, S. 3).
Lesestörungen können sich in vielfältigen Unsicherheiten äußern. Den betroffenen Kindern bereitet es Mühe, Buchstaben korrekt zu benennen und das Alphabet aufzusagen. Einzelne Wörter werden nur mit großer Anstrengung nacheinander gelesen, so dass die Lesegeschwindigkeit deutlich herabgesetzt ist und der Sinn des Gelesenen häufig nicht verstanden wird. Die Kinder haben Schwierigkeiten, die Einzellaute eines Wortes zu einem Ganzen zu verbinden (z.B. M-A-M-A zu dem Wort „Mama“ zusammenzuschleifen). Oftmals können sie nur den Anfang eines Wortes lautieren, da ihnen das Zusammenfügen der Einzellaute misslingt (vgl. Schulte-Körne, 2004, S. 66).
Nach Warnke et al. (2004, S. 2f.) bereitet es Kindern mit einer Lesestörung zudem Schwie- rigkeiten, ähnliche Laute wie „o“ und „u“ voneinander zu unterscheiden und Wörter, die im Unterricht bereits eingeführt wurden, zu lesen. Die wichtigsten Symptome der Lesestörung lassen sich folgendermaßen zusammenfassen (vgl. Warnke et al., 2004, S. 3):
− Geringe Lesegeschwindigkeit
− Vertauschen von Wörtern im Satz bzw. von Buchstaben in den Wörtern
− Auslassen, Hinzufügen, Ersetzen oder Verdrehen von Wörtern oder Wortteilen
− Startschwierigkeiten beim Vorlesen, stockendes Lesen, Verlieren der Zeile im Text, nicht sinnhaftes Betonen beim Lesen
− Defizite im Leseverständnis: Unfähigkeit, Gelesenes wiederzugeben, aus dem Gelesenen Schlussfolgerungen zu ziehen oder Zusammenhänge zu erkennen. Auffällig ist, dass Kinder mit Lesestörungen ein und dasselbe Wort zunächst korrekt, im nächsten Satz jedoch fehlerhaft vorlesen oder es stets auf unterschiedliche Weise fehlerhaft lesen. Schwierigkeiten treten insbesondere beim lauten Vorlesen von unbekannten Texten auf, da selbst intelligente Kinder ihre Defizite nun nicht mehr durch Auswendiglernen kompensieren können (vgl. Warnke et al., 2002, S. 19f.).
Ausgeprägte Rechtschreibstörungen können ebenso wie Lesestörungen bereits in den ersten Schulwochen auftreten und behindern die betroffenen Kinder oftmals von Anfang an (vgl. Warnke et al., 2002, S. 20). Diese Schwierigkeiten werden jedoch zumeist erst bei ungeüb- ten Diktaten in der dritten Klasse sichtbar, wenn die Kinder sich nicht mehr durch Auswen- diglernen der Diktattexte behelfen können (vgl. Warnke & Roth, 1995, S. 455). Darüber hinaus haben Kinder mit Rechtschreibstörungen insbesondere Schwierigkeiten, die richtigen Buchstaben beim Schreiben eines Wortes zu finden sowie Buchstaben voneinander zu unterscheiden. Oftmals werden Buchstaben beim Schreiben zusätzlich eingefügt oder ausgelassen, so dass Schreibungen wie „lmnof“ anstatt „Blumentopf“ entstehen (vgl. Schul- te-Körne, 2004, S. 65).
Die Symptome der Rechtschreibstörung können folgendermaßen zusammengefasst werden (vgl. Warnke et al., 2002, S. 20):
− Verdrehungen von Buchstaben im Wort (Reversionen), z.B. „b“/„d“, „p“/„q“, „u“/„n“
− Umstellungen von Buchstaben im Wort (Reihenfolgefehler), z.B. „die“/„dei“
− Auslassen von Buchstaben oder Einfügen falscher Buchstaben im Wort − Dehnungsfehler, z.B. „Zan“ anstatt „Zahn“
− Wahrnehmungsfehler, z.B. Verwechslung von „d“/„t“, „g“/„k“
− Fehler bei der Groß- und Kleinschreibung.
Dasselbe Wort wird einmal richtig und beim nächsten Erscheinen fehlerhaft oder stets auf unterschiedliche Weise fehlerhaft geschrieben. Kinder mit stark ausgeprägten LeseRechtschreibstörungen sind im Allgemeinen nicht in der Lage, ihre Fehler zu erkennen und zu verbessern, selbst wenn sie auf diese aufmerksam gemacht werden (a.a.O.).
Zusätzlich zur Lese-Rechtschreibstörung treten oftmals Begleitstörungen, so genannte komorbide Störungen, auf. Warnke et al. (2004, S. 6ff.) unterscheidet zwischen primären und sekundären Begleitstörungen. Primäre komorbide Störungen können bereits im Vorschulalter als Risikofaktoren für die Lese-Rechtschreibstörung gelten und bleiben häufig auch noch in der Schulzeit bestehen. Diese Störungen wurden bereits in Abschnitt 2.2.1 ausführlicher beschrieben. Sekundäre komorbide Störungen dagegen entwickeln sich erst infolge psychischer Belastungen, die mit den schulischen Leistungsanforderungen und Misserfolgen einhergehen (a.a.O.). Die wichtigsten sekundären Begleitstörungen der LeseRechtschreibstörung sind (vgl. Warnke et al., 2002, S. 27f.):
− Lernunlust: Oftmals haben Kinder mit Lese-Rechtschreibstörungen keinen Spaß am Lernen, da sie trotz großer Anstrengung immer wieder Misserfolge erleben.
− Schulangst und psychosomatische Beschwerden: Schulängstliche Kinder leiden häu- fig unter körperlichen Beschwerden wie Bauchschmerzen und Übelkeit. Diese Sym- ptome setzen oft am Sonntagabend ein und verschwinden häufig am Freitagnachmit- tag. In den Ferienzeiten treten sie nicht auf, kehren jedoch zu Beginn der Schulzeit wieder zurück. Bei manchen Kindern ist die Angst vor den schulischen Anforderun- gen und Misserfolgen so groß, dass sie im Unterrichtsgeschehen verstummen oder den Schulbesuch verweigern.
− Erziehungsschwierigkeiten und Hausaufgabenkonflikte: Bei Kindern mit Lese- Rechtschreibstörungen ergeben sich manchmal auch schulische Erziehungsschwierigkeiten wie Schulverweigerung und Stören des Unterrichts. Diese Auffälligkeiten sollten jedoch als Ausdruck anhaltender Überforderung und Hilflosigkeit angesehen und nicht als „böse Absicht“ interpretiert werden. Familiäre Konflikte treten insbesondere im Zusammenhang mit der täglichen Hausaufgabensituation auf. Obwohl die Eltern versuchen, ihrem Kind zu helfen, sind die Bemühungen häufig vergeblich und es kommt immer wieder zu Streit und Tränen.
− Konzentrationsstörungen und motorische Unruhe: Kinder mit Lese- Rechtschreibstörungen können oftmals dem Unterrichtsgeschehen nicht folgen und brauchen mehr Zeit für die Erledigung von Lese- und Schreibaufgaben als ihre Mitschüler/innen. Dies führt zu einer Überforderung der Kinder und infolgedessen zu Konzentrationsschwierigkeiten und motorischer Unruhe. Im Gegensatz zu den hyperkinetischen Störungen treten die genannten Schwierigkeiten ausschließlich in Situationen, die mit Lesen und Schreiben verbunden sind, auf.
− Allgemeines schulisches Versagen: Da schriftsprachliche Fertigkeiten nicht nur im Deutschunterricht, sondern auch in anderen Schulfächern, wie z.B. im Sachunter- richt, in den Fremdsprachen sowie beim Lösen mathematischer Textaufgaben erfor- derlich sind, wirkt sich die Lese-Rechtschreibstörung auch in anderen Fächern nachteilig aus.
Die einschlägige Literatur zur Entstehung und Entwicklung (Pathogenese) der Lese- Rechtschreibstörung macht deutlich, dass diese Problematik nicht auf eine einzige Ursache zurückzuführen ist. Eine Reihe unterschiedlicher Gründe kann für die Entstehung einer Le- se-Rechtschreibstörung verantwortlich sein. Die Ursachenannahmen haben sich in den ver- gangenen Jahrzehnten im Zusammenhang mit entsprechenden Forschungsergebnissen deut- lich gewandelt, und die Ursachenforschung ist noch nicht abgeschlossen. Während in der älteren Literatur die Vermutung zu finden war, dass die Lese-Rechtschreibstörung durch eine frühkindliche „Hirnschädigung“ oder eine „minimale zerebrale Dysfunktion“ verur- sacht sei, wird diese Annahme heutzutage nicht mehr vertreten, da sich nicht für jedes ein- zelne Kind ein entsprechender Nachweis erbringen lässt (vgl. Warnke et al., 2002, S. 30). Die Weltgesundheitsorganisation definiert die Legasthenie als eine Entwicklungsstörung (siehe Abschnitt 2.1). Aus heutiger Sicht wird diese Entwicklungsstörung auf Besonderhei- ten der Hirnreifung zurückgeführt (vgl. Warnke et al., 2004, S. 10).
Warnke et al. (2002) fasst die aktuelle Sichtweise zur Verursachung der LeseRechtschreibstörung folgendermaßen zusammen:
Die Legasthenie wird heute erklärt als ein isolierter Begabungsmangel für das Erlernen des Lesens und Rechtschreibens. Begabungen und Begabungsschwächen sind Ausdruck von Besonderheiten der Hirnfunktion. Besonderheiten der Informationsverarbeitung, die abhängig sind von entwicklungsbiologischen Veranlagungen des zentralen Nervensystems sind als ausschlaggebend anzunehmen. (S. 30)
Gegenwärtig werden insbesondere folgende Ursachenannahmen diskutiert: Besonderheiten visueller Informationsverarbeitung, Besonderheiten akustischer und sprachlicher Informationsverarbeitung sowie die Bedeutung der genetischen Disposition. Im Folgenden wird auf diese Forschungsschwerpunkte sowie auf den Einfluss der Umwelt und psychosozialer Faktoren näher eingegangen.
Die Bedeutung einer gestörten visuellen Wahrnehmung als Ursache der Lese- Rechtschreibstörung wird heutzutage geringer eingeschätzt als die einer gestörten auditiven Wahrnehmung (vgl. Schulte-Körne, 2004, S. 73). Wahrscheinlich sind nur bei einem klei- nen Teil der Personen mit Lese-Rechtschreibstörungen Beeinträchtigungen im visuellen System für die Störung verantwortlich (vgl. Warnke et al., 2004, S. 13). Nach Warnke et al. (2002, S. 31) können bei Personen mit Lese-Rechtschreibstörungen Be- sonderheiten der Sehfunktion, wie beispielsweise veränderte Augenbewegungen beim Lesen (z.B. längere und häufigere Fixationen eines Schriftzeichens), festgestellt werden. Diese Auffälligkeiten sind jedoch meist nicht Ursache, sondern eher Folge der Lesestörung, da sich die gleichen Augenbewegungen bei allen Menschen finden lassen, wenn sie schwierige Texte lesen (a.a.O.). Des Weiteren fanden sich in neurobiologischen Untersuchungen fol- gende Besonderheiten der visuellen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung bei Per- sonen mit Lese-Rechtschreibstörungen, die zum Teil jedoch einer weiteren Überprüfung bedürfen (a.a.O., S. 32):
− Mit hirnelektrischen Verfahren wurde bei einigen betroffenen Personen festgestellt, dass gelesene Buchstaben und Worte verlangsamt vom Auge zum Gehirn geleitet werden.
− In einigen Fällen fanden sich im Sehkern des Auges veränderte Zellstrukturen.
− Andere Studien führten zu der Annahme, dass Besonderheiten im Bereich der Seh- rinde vorliegen.
− Bei zehnjährigen Kindern wurden verlangsamte Reaktionen auf Lichtreize festge- stellt.
In den 80er und 90er Jahren führte Prof. Galaburda, Neurologe am „Children’s Hospital“ in Boston (USA), Untersuchungen an Gehirnen verstorbener Personen mit Lese- Rechtschreibstörungen durch. Bei diesen Autopsien fand der Professor anatomische und histologische Veränderungen, wie z.B. ungewöhnliche Zellgruppen und Gefäßverläufe, vorwiegend in der linken Hemisphäre, u.a. im Bereich des so genannten LeseRechtschreibzentrums (Gyrus angularis, Gyrus supramarginalis). Diese neuroanatomischen Befunde bedürfen allerdings einer weiteren Überprüfung. Generell finden sich linkshemisphärisch die meisten Besonderheiten bei Personen mit Lese-Rechtschreibstörungen (vgl. Warnke et al., 2004, S.12).
Die wichtigsten neurobiologischen Befunde, die auf Besonderheiten akustischer und sprachlicher Informationsverarbeitung bei Personen mit Lese-Rechtschreibstörungen hindeuten, sind folgende (vgl. Warnke, 2002, S. 34f.):
− In Untersuchungen wurden anatomische und histologische Veränderungen in Ker- nen der Hörbahn sowie in Bereichen der linken Hemisphäre, die für die akustische, sowie visuell-sprachliche Informationsverarbeitung zuständig sind, gefunden. − Mit großer Wahrscheinlichkeit erfolgt bei vielen Personen mit Legasthenie die Un- terscheidung von zwei zeitlich aufeinander folgenden Tönen nicht so zügig und feh- lerlos wie bei Personen ohne Lese-Rechtschreibstörung.
− Die Befundlage deutet darauf hin, dass bei Personen mit Lese- Rechtschreibstörungen bei sprachlich-akustischen Aufgaben (z.B. Reimaufgaben) Hirnbereiche, die für die sprachliche Informationsverarbeitung relevant sind, nicht in gleicher Weise wie bei Personen ohne Legasthenie angeregt werden.
Prinzipiell weisen die wissenschaftlichen Untersuchungen darauf hin, dass bei der Entstehung von Lese-Rechtschreibstörungen akustische Wahrnehmungsschwierigkeiten sowie Störungen der sprachlichen Informationsverarbeitung auf kognitiver Ebene bestehen können. Bei der Sprachverarbeitung treten insbesondere Schwierigkeiten auf, Lautfolgen wie /da/ und /ga/ zu unterscheiden. Darüber hinaus zeigen sich bei Personen mit LeseRechtschreibstörungen Schwächen in der „phonologischen Bewusstheit“, also bei der Erkennung und Unterscheidung von Silben, Wörtern und anderen lautsprachlichen Einheiten. Möglicherweise ist auch die Übersetzung von visuellen schriftsprachlichen Informationen in akustisch-sprachliche gestört (vgl. Warnke et al., 2004, S. 18f.).
Die aktuelle Forschung zur Verursachung der Lese-Rechtschreibstörung beschäftigt sich u.a. mit der Frage einer genetischen Disposition, die den Lernprozess des Lesens und Recht- schreibens beeinträchtigt oder verzögert. Ergebnisse aus Familienuntersuchungen in den USA, England und Deutschland belegen eine familiäre Häufung der Legasthenie (vgl. Schulte-Körne, 2004, S. 72).
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