Bachelorarbeit, 2019
57 Seiten, Note: 1,3
Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Eurokrise
3. Economic voting
3.1 Entwicklung der Theorie des economic voting
3.2 Economic voting und der politische Kontext
3.3 Aktueller Forschungsstand
3.4 Economic voting in Zeiten der Globalisierung und die Rolle der EU
3.5 Economic voting in Südeuropa
3.6 Hypothesen
4. Operationalisierung und verwendete Datensätze
4.1 Abhängige Variablen
4.2 Unabhängige Variablen und Kontrollvariablen
4.3 Verwendete Datensätze
5. Analyse
5.1 Portugal
5.1.1 Portugiesische Parlamentswahl 2011
5.1.2 Europawahl 2014 in Portugal
5.2 Spanien
5.2.1 Spanische Parlamentswahl 2011
5.2.2 Europawahl 2014 in Spanien
5.3 Griechenland
5.3.1 Griechische Parlamentswahlen Mai und Juni 2012
5.3.2 Europawahl 2014 in Griechenland
5.4 Italien
5.4.1 Italienische Parlamentswahl 2013
5.4.2 Europawahl 2014 in Italien
5.5 Ergebnisse
6. Fazit
Quellen
Tabelle 1: Wahlergebnisse Portugal
Tabelle 2: Portugiesische Parlamentswahl 2011: Einzelüberprüfung
Tabelle 3: Portugiesische Parlamentswahl 2011: Gemeinsame Überprüfung
Tabelle 4: Europawahl 2014 in Portugal: Zufriedenheit mit der EU
Tabelle 5: Europawahl 2014 in Portugal: Vertrauen in EU-Institutionen
Tabelle 6: Europawahl 2014 in Portugal: Wahl proeuropäischer Parteien
Tabelle 7: Wahlergebnisse Spanien
Tabelle 8: Spanische Parlamentswahl 2011: Einzelüberprüfung
Tabelle 9: Spanische Parlamentswahl 2011: Gemeinsame Überprüfung
Tabelle 10: Europawahl 2014 in Spanien: Zufriedenheit mit der EU
Tabelle 11: Europawahl 2014 in Spanien: Vertrauen in EU-Institutionen
Tabelle 12: Europawahl 2014 in Spanien: Wahl proeuropäischer Parteien
Tabelle 13: Wahlergebnisse Griechenland
Tabelle 14a: Griechische Parlamentswahl Mai 2012: Einzelüberprüfung
Tabelle 14b: Griechische Parlamentswahl Mai 2012: Einzelüberprüfung
Tabelle 15: Griechische Parlamentswahl Mai 2012: Gemeinsame Überprüfung
Tabelle 16: Griechische Parlamentswahl Juni 2012: Alle Kontrollvariablen
Tabelle 17: Griechische Parlamentswahl Juni 2012: Ohne politische Kontroll- 40 variablen
Tabelle 18: Europawahl 2014 in Griechenland: Zufriedenheit mit der EU
Tabelle 19: Europawahl 2014 in Griechenland: Vertrauen in EU-Institutionen
Tabelle 20: Europawahl 2014 in Griechenland: Wahl proeuropäischer Parteien
Tabelle 21: Wahlergebnisse Italien
Tabelle 22: Italienische Parlamentswahl 2013: Alle Kontrollvariablen
Tabelle 23: Italienische Parlamentswahl 2013: Ohne politische Kontroll- 46 variablen
Tabelle 24: Europawahl 2014 in Italien: Zufriedenheit mit der EU
Tabelle 25: Europawahl 2014 in Italien: Vertrauen in EU-Institutionen
Tabelle 26: Europawahl 2014 in Italien: Wahl proeuropäischer Parteien
„It's the economy, stupid!“ lautete der bekannteste Wahlkampf-Slogan Bill Clintons im Jahr 1992, in welchem er schließlich auch die US-Präsidentschaftswahl gewann (Die Presse 06.11.2012). Doch nicht erst seit dieser Kampagne gilt die wirtschaftliche Lage als einer der entscheidenden Faktoren in einem Wahlkampf. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten sind Wahlen demnach für den jeweiligen Amtsinhaber1 deutlich schwieriger zu gewinnen als in prosperierenden Phasen (Ebd.). Genau mit dieser These beschäftigt sich die Theorie des „economic voting“. Auf der Grundlage der Ökonometrie werden Ökonomie und Politikwissenschaft miteinander verknüpft, um zu versuchen, Wahlergebnisse mit wirtschaftlichen Indikatoren zu erklären (Lewis- Beck/Paldam 2000: 113). Die zentrale Annahme ist hierbei die sogenannte Re- ward/Punishment-Hypothese, die besagt, dass die Amtsinhaber in wirtschaftlich guten Zeiten bei Wahlen Stimmen hinzu gewinnen und umgekehrt in wirtschaftlich schlechten Zeiten von den Wählern abgestraft werden.
Als eine solche wirtschaftliche Krisenzeit stellt sich die Eurokrise, auch Eurozonenkrise genannt, dar. Infolge der Weltfinanzkrise fielen nahezu alle Staaten der europäischen Union 2009 in eine tiefe wirtschaftliche Rezession. Gleichzeitig mussten viele Banken teilweise oder ganz verstaatlicht werden, um diese zu erhalten. Besonders hart betroffen waren die südeuropäischen Länder Portugal, Spanien, Griechenland und Italien. Denn die Auswirkungen der Krise führten in diesen Ländern ebenfalls zu einer Staatsschuldenkrise. Um eine drohende Zahlungsunfähigkeit dieser Staaten zu verhindern, wurden finanzielle Hilfen der EU und des Internationalen Währungsfonds in Anspruch genommen. Diese waren jedoch an strenge Sparmaßnahmen geknüpft, welche für großen Unmut in der Bevölkerung der betroffenen Ländern sorgte.
In diesem Zeitraum fanden in allen vier Staaten auch Parlamentswahlen statt, die hauptsächlich unter dem Eindruck der Krise standen. Auch die Europawahlen 2014 waren vor allem in den südeuropäischen Ländern von den Auswirkungen der Eurokrise geprägt, spielte die EU doch eine bedeutende Rolle in der Bewältigung der Krise der betroffenen Staaten. Deshalb beschäftigt sich diese Arbeit mit der Frage: „Spielte economic voting in den Wahlen in Südeuropa von 2011 bis 2014 eine Rolle und gibt es dabei einen Unterschied zwischen Nationalwahlen und Europawahl?“
Im ersten Teil dieser Arbeit soll die Eurokrise geschildert werden. Der Fokus liegt hierbei auf den südeuropäischen Ländern, welche Folgen die Krise für diese hatte und wie sie die Situation bewältigt haben. Anschließend soll die Theorie des economic voting erläutert werden. Zuerst wird auf die Entwicklung auf Grundlage von Downs‘ ökonomischer Theorie eingegangen, um daraufhin den aktuellen Forschungsstand und zentrale Annahmen darzulegen. Darauffolgend werden die Probleme der Theorie behandelt, namentlich die Einflüsse der Globalisierung und Internationalisierung sowie weitere kontextuelle Faktoren.
Im Anschluss daran soll die Operationalisierung der nachfolgenden Analyse erfolgen, wobei die abhängige und die unabhängigen Variablen definiert und die verwendeten Datensätze beschrieben werden. Daraufhin werden im Analyseteil dieser Arbeit die gefundenen Ergebnisse dargelegt und diskutiert. Dabei wird hinsichtlich der Nationalwahl und der Europawahlen jedes Land einzeln behandelt. Am Ende des Analyseteils wird zu klären sein, welche Antworten die Ergebnisse auf die Beantwortung der behandelten Forschungsfrage liefern. Im Schlussteil wird ein Gesamtfazit der Untersuchung gezogen.
Die Eurokrise oder auch Eurozonenkrise resultierte wie bereits erwähnt aus der Weltfinanzkrise 2008. Diese führte zum Auflösen oder Aufkaufen verschiedener Banken, dem Abstürzen der Aktienmärkte und dem Absinken der Preise verschiedener Güter (Editorial 2014: 2). Die Weltfinanzkrise von 2008 war jedoch nicht die einzige Ursache, sondern insbesondere Auslöser der Eurokrise. Denn die Staaten der Eurozone und insbesondere die südeuropäischen Länder hatten zuvor bereits mit anderen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen.
So war die Eurozone per se von einer starken Asymmetrie geprägt. Während die nordeuropäischen Länder der Eurozone niedrige Inflationsraten und stabil-positive Zinsraten aufwiesen, war die Inflation in Portugal, Spanien, Italien und Griechenland sowie in Irland innerhalb der Eurozone am höchsten (Polito / Wickens 2014: 365). Dies führte zu negativen Zinsen, was wiederum zu starken Wachstumsraten der Kreditaufnahme vor allem im privaten Sektor führte, dabei insbesondere im Immobiliensektor (Frankel 2014: 429).
Hinzu kam, dass die sogenannten Maastricht-Kriterien2 zur Stabilität des Euroraumes oftmals nicht eingehalten wurden (Ebd.). Beispielweise lag in Griechenland die Schuldenstandsquote niemals unter 60%, sondern befand sich seit 1993 konstant bei etwa 100% des BIP. In den anderen südeuropäischen Staaten war die Schuldenstandsquote ebenfalls vergleichsweise hoch (Frankel 2014: 429f).
Infolge der Weltfinanzkrise drohte wichtigen Banken in den südeuropäischen Staaten die Insolvenz. Gleichzeitig erschwerten die hohen Schulden der Länder und die wirtschaftliche Rezession die Rettung der betroffenen Banken. Im April 2010 schließlich wurde Griechenlands Kreditwürdigkeit so stark herab gestuft, dass eine Kreditaufnahme am privaten Markt nicht mehr möglich war (Editorial 2014: 3). Damit Griechenland nicht in die Zahlungsunfähigkeit rutschte, wurde im Mai 2010 ein Rettungspaket mit der sogenannten Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds vereinbart (Eichengreen 2015: 415).
Auch Portugals Kreditwürdigkeit wurde 2011 stark herabgestuft, sodass dieses ebenfalls auf ein Rettungspaket angewiesen war. Spanien konnte es 2012 finanziell nicht mehr stemmen, die kriselnden Banken selbst zu retten und musste ebenfalls ein Rettungspaket in Anspruch nehmen (Editorial 2014: 5f). Lediglich Italien war im Untersuchungszeitraum (2011-2014) in der Lage, die Probleme aus eigener Kraft zu bewältigen, befand sich jedoch ebenfalls in einer länger andauernden Rezession.
Damit war zwar die akute Phase der Krise vorbei, die längerfristigen Folgen konnten jedoch nur bedingt eingedämmt werden (Eichengreen 2015: 415).
So waren die Rettungspakete an strenge Forderungen geknüpft. Es mussten weitreichende Sparmaßnahmen und Privatisierungen vorgenommen sowie strukturelle Reformen durchgeführt werden (Editorial 2014: 3). Die Arbeitslosigkeit nahm in allen vier Staaten zu, während Sozialleistungen gekürzt oder gestrichen wurden und das Wirtschaftswachstum unter dem Vorkrisenniveau lag (Frankel 2014: 437f).
Dies führte außerdem zu verschiedenen sozialen und politischen Krisen in den betroffenen Ländern (Willett / Srisorn 2014: 40). Das Vertrauen der Bürger sowohl in ihre jeweiligen Regierungen als auch in die Institutionen der EU und der Eurozone haben stark gelitten (Willett / Srisorn 2014: 50). Außerdem wurde, vor dem Hintergrund des aus Bürgersicht schlechten Krisenmanagements, in Frage gestellt, ob die nationalen Regierungen überhaupt noch einen signifikanten Einfluss auf die Wirtschaft ausüben können (Willett / Srisorn 2014: 51). Auf diesen Punkt soll im Kapitel 3.4 weiter eingegangen werden.
Die südeuropäischen Länder befanden sich also im Untersuchungszeitraum in einer schweren wirtschaftlichen Krise. Diese hatte Strahlkraft in alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Auch die Wahlen in jener Zeit standen unter dem Eindruck der Eurokrise. Um die Untersuchungshypothesen herauszuarbeiten soll nun geklärt werden, wie die Theorie des economic voting entstanden ist und was der aktuelle Forschungsstand besagt. Anschließend sollen auf die Probleme des economic voting insbesondere in Zeiten der Globalisierung eingegangen werden.
Seinen Ursprung hat economic voting in Anthony Downs' Ökonomischer Theorie der Demokratie. „In der ganzen Welt beherrschen Regierungen das wirtschaftliche Geschehen“, so Downs (1957: 3). Die Bürger in dieser Welt sind rational, wobei die Rationalität sich auf die Mittel eines Handlungsträgers bezieht. Das bedeutet, sie streben danach den Output eines bestimmten Input zu maximieren beziehungsweise den zur Erreichung eines bestimmten Outputs nötigen Input zu minimieren (Downs 1957: 5). Dazu muss der Mensch nach Downs stets in der Lage sein zwischen Handlungsalternativen zu wählen, diese Alternativen entsprechend seiner Präferenzen anzuordnen und die Präferenzordnung transitiv zu gestalten. Dabei wählt er stets jene Alternative, die in seiner Präferenzordnung ganz oben steht, und trifft, wenn er vor den gleichen Alternativen steht, immer dieselbe Entscheidung (Downs 1957: 6).
Die einzige politische Funktion von Wahlen in einer Demokratie ist diesem Verständnis nach „das Auswählen einer Regierung“ (Downs 1957: 7). Hinsichtlich dieses Auswählen handeln die Bürger rational. Die Bürger stimmen also für jene Partei, die ihrer Überzeugung nach „mehr Vorteile bringen wird als jede andere“ (Downs 1957: 35). Vorteile sind hierbei als „Ströme von Nutzen, die aus der staatlichen Tätigkeit entspringen“ zu verstehen (Downs 1957: 35).
Gleichzeitig ging Downs davon aus, dass die wirtschaftliche Macht der Regierung unbeschränkt ist (Downs 1957: 12). Da die Wähler vom Eigennutz-Axiom geprägt sind und ihren eigenen Nutzen zu maximieren suchen, wählen sie also jene Partei, die ihnen ihrer Einschätzung nach den größten wirtschaftlichen Vorteil bringen wird (Downs 1957: 26f). Um diese Bewertung durchführen zu können werden die aktuelle und die künftige Wahlperiode herangezogen. Für die aktuell regierende Partei kann die tatsächliche Leistung in der gegenwärtigen Periode herangezogen werden, um auf die erwartete Leistung in der künftigen Periode schließen zu können (Downs 1957: 37f).
Damit war das Grundgerüst für die Idee des economic voting geschaffen. Die erste systematische Studie des „klassischen“ economic voting stammt von Gerald H. Kramer. Er untersuchte den Einfluss der wirtschaftlichen Situation auf die Kongresswahlen in den USA und welche Rolle die Wirtschaft für die Amtsinhaber spielt (Kramer 1971: 131). Als unabhängige Variablen zog er die Inflation, die Veränderung des Nominaleinkommens sowie des Realeinkommens der Bürger und die Arbeitslosigkeit in der letzten Legislaturperiode heran. Er definierte außerdem erstmals die Reward/Pu- nishment-Hypothese. Wenn die Leistung der amtierenden Partei aus Sicht der Bürger zufriedenstellend ist, werden diese mehrheitlich für eine Fortsetzung der Regierung stimmen. Dahingegen werden sie mehrheitlich der Oppositionspartei ihre Stimme geben, wenn die Leistung unzufriedenstellend ist (Kramer 1971: 134). In seiner Analyse kam er zu dem Ergebnis, dass die wirtschaftlichen Faktoren beinahe die Hälfte der Varianz der Stimmen erklären und somit einen wichtigen Einfluss auf das Wahlergebnis haben (Kramer 1971: 140). Hierbei war der Effekt der Arbeitslosigkeit jedoch nicht signifikant.
Diesen Punkt nahm Stigler in seiner direkten Antwort auf diese Studie auf. Seiner Ansicht nach sollten die kurzfristigen Veränderungen in der Wirtschaft für einen rationalen Wähler keine Rolle spielen (Stigler 1973: 161). Er kam in seiner Analyse zu dem Schluss, dass Kramers Ergebnisse höchst instabil waren. Durch die Erweiterung der untersuchten Zeitspanne um ein Jahr verloren die Koeffizienten deutlich an Erklärungskraft (Stigler 1973: 164). Er kritisierte dabei insbesondere die Einbeziehung der Einkommensentwicklung als unabhängige Variable, die in seiner Analyse überhaupt keine Erklärungskraft hatte. Nichtsdestotrotz betonte er, dass die Bedeutung der wirtschaftlichen Situation für die Parteienunterstützung nicht unterschätzt werden sollte (Stigler 1973: 167). Vielmehr sollte die Analyse anders ausgestaltet sein. Er vertrat die Ansicht, dass die Bürger für diejenige Partei stimmen sollten, die die Wachstumsraten konstant halten wird (Stigler 1973: 165).
In der darauffolgenden Zeit wurden weitere Studien zum Thema economic voting veröffentlicht und die untersuchten Variablen wandelten sich.
Kiewiet fand in seiner Untersuchung heraus, dass die Wähler hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung policy-orientiert handeln (Kiewiet 1981: 448). Das bedeutet, dass sie die Entwicklung der Inflation beziehungsweise der Arbeitslosigkeit als problematisch ansehen und Unterschiede in den Problembewältigungsstrategien der Parteien wahrnehmen müssen (Kiewiet 1981: 448). In seiner Analyse war der Effekt der Inflation auf das Wahlergebnis deshalb deutlich geringer als jener der Arbeitslosigkeit. Außerdem kam er in zwei weiteren Studien zu dem Schluss, dass es Unterschiede in der Erklärungskraft zwischen der Einschätzung der wirtschaftlichen Lage der Nation („sociotropic“) und der eigenen wirtschaftliche Situation („egotropic“ bzw. „pocket- book voting“) gibt (Kinder / Kiewiet 1979; Kinder / Kiewiet 1981). Jene unabhängigen Variablen, die sociotropic waren, waren signifikant und in der Erklärungskraft besser als solche, die egotropic waren (Kinder / Kiewiet 1979: 523; Kinder / Kiewiet 1981: 142). Erstmals wurde außerdem darauf hingewiesen, dass die Parteiidentifikation Einfluss auf die Wahrnehmung der gesamtwirtschaftlichen Lage hat. Je nachdem welche Partei gerade regiert und welcher Partei man persönlich nahe steht, unterscheiden sich die Wahrnehmungen (Kinder / Kiewiet 1981: 148ff).
In einer anderen Studie kam man zu dem Befund, dass die Bewertung der zurückliegenden wirtschaftlichen Entwicklung („retrospective“) von größerer Bedeutung als der Blick auf die kommende Entwicklung („prospective“) ist (Fiorina 1978). Seiner Meinung nach bedeutete dies auch keine direkte Abkehr von Downs‘ Annahmen. Denn „retrospektives Wählen“ reduziert die Kosten der Informationsbeschaffung und Entscheidungsfindung (Fiorina 1978: 429). Zum ersten Mal wurde auch auf die Wahlbeteiligung regressiert, hierbei kam es jedoch zu keinen signifikanten Ergebnissen (Fiorina 1978: 439).
Diese frühen Studien sind dahingehend gleich, dass alle Untersuchungen für die USA stattfanden. Mit dem ausgeprägten Zweiparteiensystem verwundert es nicht, dass die ersten Studien zum Thema economic voting hierzu veröffentlicht wurden. Dennoch waren diese als Anstoß weiterer Analysen und für die Begriffsentwicklung von großer Bedeutung. Dass economic voting jedoch auch stark kontextabhängig ist, soll im nächsten Abschnitt verdeutlicht werden.
Eine der ersten nationenvergleichenden Studien beschäftigte sich mit den fünf einwohnerstärksten Demokratien Europas: Großbritannien, Spanien, Deutschland, Frankreich und Italien (Lewis-Beck 1988). Auch hier waren die Effekte, die egotropic waren, deutlich schwächer als die der sociotropic Items (Lewis-Beck 1988: 33, 38). Der wichtigste Befund war jedoch, dass es deutliche Unterschiede in der Signifikanz und der Erklärungskraft des economic voting zwischen den Ländern gab. Am stärksten ausgeprägt war economic voting in Großbritannien, gefolgt von Spanien, am schwächsten waren die Effekte in Italien (Lewis-Beck 1988: 155ff.). Der politische Kontext scheint demnach eine wichtige Rolle für economic voting zu spielen.
Anderson bekräftigte dies mit der Feststellung, wonach der Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Performanz und der Einschätzung der Lage durch die Bürger „in Stärke und Richtung über die Zeit und Länder“ variiert (Anderson 1995: 2). Sowohl die wirtschaftliche Lage als auch die politischen Strukturen sind variabel. Beides beeinflusst jedoch, wie die amtierende Regierung wahrgenommen wird (Anderson 1995: 5). Die Bürger eines Landes müssen die Regierung darüber hinaus für die wirtschaftliche Situation verantwortlich halten. Hierbei spielen die Institutionen eine „entscheidende Rolle in der Zuweisung der Verantwortung“ (Anderson 1995: 6). Folglich ist die Zuweisung der Verantwortung in Koalitionsregierungen schwieriger als in einer Einparteienregierung. Für Anderson ist dabei die relative Stärke der Partei, gemessen in Stimmenanteil und Sitzen im Parlament, das zentrale Kriterium (Anderson 1995: 209f).
Das Konstrukt der sogenannten „Klarheit der Verantwortlichkeit“ („clarity of respon- sibility“) (Powell / Whitten 1993: 397) versucht diesem Umstand gerecht zu werden. Je nach dem welcher Partei Zuspruch ausgesprochen beziehungsweise welcher Partei die Schuld für die schlechte Situation zugesprochen wird, ändert sich das Wählervotum (Powell / Whitten 1993: 398). Gleichzeitig gilt: je klarer die Zuweisung der Verantwortlichkeit, desto größer der Effekt der wirtschaftlichen Variablen, sprich des economic voting (Powell / Whitten 1993: 405). Um die „clarity of responsibility“ zu messen, zogen Powell / Whitten unterschiedliche Kriterien heran. Die Existenz einer Zweikammer-Legislative, die innerparteiliche Kohäsion, die Anzahl der Regierungsparteien und ob es sich bei der Regierung um eine Minderheitsregierung handelt waren für sie von Bedeutung (Powell / Whitten 1993: 399ff). In einer nationenübergreifenden Analyse unter Einbeziehung der „clarity of responsibility“ wurde hierbei jedoch nur der Anzahl der Regierungsparteien und der Frage nach der Minderheitsregierung ein direkter Einfluss beigemessen (Whitten / Palmer 1999: 52).
Doch es gibt auch Kritik an diesem Modell. Die „clarity of responsibility“ sei zwar für die Messung von economic voting von Bedeutung, jedoch lässt sich die Klarheit mit den oben genannten Kriterien nicht genau einschätzen. Außerdem sind unter Einbeziehung dieses Konstrukts die Anforderungen an die Daten außergewöhnlich hoch (Nadeau / Niemi / Yoshinaka 2002: 406). Es ist darüber hinaus nicht klar, ob die Wähler in Zeiten der fortschreitenden Globalisierung und Internationalisierung überhaupt in der Lage sind, Verantwortlichkeiten auszumachen und entsprechend dieser zu entscheiden (Nadeau / Niemi / Yoshinaka 2002: 409). Hinzu kommt, dass, falls die Bürger zu einer solchen Bewertung fähig sind, auch diese Einschätzung der „clarity of responsibility“ durch die Bürger über die Zeit und Länder variieren kann (Nadeau / Niemi / Yoshinaka 2002: 419).
Daher kann festgehalten werden, dass der politische Kontext eine moderierende Rolle in der Beziehung zwischen der Wirtschaft einerseits und der politischen Unterstützung andererseits einnimmt (Anderson 2000: 151). Die Frage, wie der politische Kontext im Rahmen des economic voting zu messen beziehungsweise einzubeziehen ist, ist jedoch nicht geklärt. Stattdessen gibt es verschiedene Alternativen. Neben den bereits genannten Konstrukten der relativen Stärke der Partei und der „clarity of responsibi- lity“ gibt es noch den Ansatz der „clarity of available alternatives“ (Anderson 2000: 153). Alle Ansätze hängen relativ eng miteinander zusammen, differieren jedoch in der Einschätzung, wie die Bürger und der politische Kontext interagieren (Anderson 2000: 153).
Meiner Einschätzung nach ist Andersons Vorschlag am überzeugendsten. Denn die relative Stärke von Parteien variiert nicht nur zwischen Ländern sondern auch innerhalb eines Landes von Wahl zu Wahl und kann somit auch ein Stück weit zur Erklärung der Varianz von economic voting innerhalb eines Landes beitragen (Anderson 2000: 154). Dennoch habe ich mich dagegen entschieden, die relative Stärke der Parteien als unabhängige Variable direkt in die Regressionsanalyse einzubeziehen. Die Begründung hierzu erfolgt im entsprechenden Abschnitt.
Wie soll also mit den unterschiedlichen politischen Gegebenheiten umgegangen werden? Dies ist eines der Probleme, mit denen sich die neuere Forschung zu economic voting konfrontiert sah und diese immer noch beschäftigt.
In einer weltweiten Untersuchung von economic voting waren Wilkin, Haller und Norpoth einer Vielzahl an Parteiensystemen und der entsprechenden Anzahl an Parteien ausgesetzt (Wilkin / Haller / Norpoth 1997). Ihrer Ansicht nach richtet sich in Koalitionsregierungen die Aufmerksamkeit der Wähler hauptsächlich auf die größte Regierungspartei. Diese wird für die wirtschaftlichen Entwicklungen verantwortlich gemacht, weshalb diese auch am stärksten von economic voting betroffen ist (Wilkin / Haller / Norporth 1997: 302). Daher entschieden sie sich dafür, nicht die Stimmen für die gesamte Koalition, sondern lediglich die Stimmen für die größte Regierungspartei als abhängige Variable zu verwenden. Unabhängig von den politischen Konditionen, fände die Öffentlichkeit immer Wege, die Verantwortlichen auszumachen (Wilkin / Haller / Norpoth 1997: 309). Dies ergebe sich aus der retrospektiven Sichtweise, so die Autoren.
Dabei stellte sich seit Fiorinas Studie aus 1978 (siehe oben) allgemein die Frage innerhalb der Theorie des economic voting, ob die retrospektiven oder die prospektiven Variablen die höhere Erklärungskraft bieten. Bis zum Jahr 2000 folgten schließlich knapp 300 verschiedene Arbeiten zu economic voting (Lewis-Beck / Steg- maier 2000: 183). Dementsprechend weit war auch die Bandbreite an Befunden. Zumindest für die USA scheint jedoch klar zu sein, dass retrospektive Variablen eine wichtigere Rolle für economic voting spielen (Lewis-Beck / Stegmaier 2000: 194). Auch für andere Länder scheint zuzutreffen (Hibbs 2006: 576). Denn ganz allgemein seien Wahlen als „Referenden der Leistung der amtierenden Parteien“ zu verstehen (Hibbs 2006: 569). Hierbei sollte jedoch angemerkt werden, dass retrospektive Items in Wahlbefragungen deutlich häufiger abgefragt werden als die entsprechenden prospektiven Items.
Des Weiteren gab es seit den Arbeiten von Kinder / Kiewiet (siehe oben) auch Diskussionen darüber, ob solche Variablen, die „sociotropic“ sind, denjenigen vorzuziehen sind, die „egotropic“ sind. Eine Mehrheit der Befunde attestiert den „sociotropic“ Items höhere Erklärungskraft, wobei diese Entscheidung jedoch nicht so klar ist, wie im Fall der retrospektiven Variablen (Lewis-Beck / Stegmaier: 2007). Hierin ergibt sich jedoch die Frage, inwiefern die Einschätzungen der Bürger die tatsächliche wirtschaftliche Situation abbilden, insbesondere da die Einschätzungen der Bürger die tatsächlichen Entwicklungen bei Inflation und Arbeitslosigkeit als unabhängige Variablen in den Untersuchungen abgelöst haben (siehe Kapitel zu unabhängige Variablen). Nur wenige Bürger sind genauestens mit den wirtschaftlichen Entwicklungen vertraut (Sanders 1999: 6). Nichtsdestotrotz bilden ihre Bewertungen die tatsächliche Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Lage relativ gut ab (Sanders 1999: 12). Denn die Wähler müssen nicht zwingend konkrete Kennzahlen kennen, um einschätzen zu können, ob die Regierung ihre Tätigkeit „vergleichsweise gut“ ausführt (Sanders 1999: 12). Nach Lewis-Beck bilden die Wahrnehmungen der Bürger nicht nur die Veränderungen der makroökonomischen Entwicklung ab. Vielmehr sind die Bürger sogar in der Lage, die verschiedenen ökonomischen Indikatoren (Inflation, Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachstum und Zinsraten) in ein korrektes Verhältnis zu setzen (LewisBeck 2006: 210).
Die wichtigste Erkenntnis der aktuellen Forschung dürfte jedoch sein, dass sich mit der Vielzahl an Untersuchungen und den großen Unterschieden in den politischen Kontexten kein einheitliches Fazit zu economic voting ziehen und erst recht kein allgemeiner Effekt aufzeigen lässt (Duch / Stevenson 2006: 544). Economic voting ist „allgegenwärtig und [zugleich] variabel“ (Duch / Stevenson 2008: 27). Es konnte lediglich aufgezeigt werden, welche der abgefragten Items eine höhere Erklärungskraft erzielen. Der Effekt an sich bleibt, wie schon in den ersten Untersuchungen, abhängig vom politischen Kontext, der wiederum über die Zeit und über verschiedene Länder hinweg stark variiert.
Es ändern sich jedoch nicht nur die politischen Rahmenbedingungen. Auch die wirtschaftlichen Beziehungen sind in einem ständigen Weiterentwicklungsprozess. Insbesondere die fortschreitende Globalisierung übt einen großen Einfluss auf die nationalen Wirtschaften aus. Globalisierung ist dabei so zu verstehen, dass die Staaten immer tiefer in die Weltwirtschaft integriert werden und sich die Informationsströme zwischen den Ländern erhöhen. Die tiefere Wirtschaftsintegration führt zur Öffnung des Handels und der nationalen Finanzsektoren (Li / Reuveny 2003: 29). Dies führt wiederum dazu, dass die nationale wirtschaftliche Situation immer abhängiger von der Weltwirtschaft wird.
Daher stellt sich die Frage, wie sich die Globalisierung auf Demokratien allgemein auswirkt. Manche Forscher sprechen der Globalisierung einen positiven Effekt auf die Demokratie zu, andere wiederum erwarten negative Folgen (Li / Reuveny 2003: 30). Die Öffnung der nationalen Märkte für die Weltwirtschaft bewirkt, dass sich die Nationalregierungen aus ehemals wichtigen Bereichen der wirtschaftlichen Regulierung zurückziehen und diese den internationalen Marktkräften überlassen. Dadurch verschwinde ein potenzieller Konfliktherd der „politischen Arena“, was demokratieförderlich sei. (Kurtz 2004: 271). Vor allem aber verringert sich der sogenannte „room to maneuvre“ (Steiner 2016: 118) für die Nationalregierungen, also einerseits die Fähigkeit die wirtschaftlichen Entwicklungen durch Maßnahmen effektiv beeinflussen zu können und andererseits die Bandbreite an Maßnahmen an sich. Denn die Globalisierung führe dazu, dass sich die Regierungen dem ständigen Druck ausgesetzt sehen, die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaften aufrechtzuerhalten und dementsprechend zu handeln (Steiner 2016: 118).
Dadurch verändert sich auch die Wahrnehmung der Nationalregierung durch die Bürger. Diese ziehen in Zeiten der Globalisierung sowohl Informationen über die nationale wirtschaftliche Lage als auch über die Entwicklung der Weltwirtschaft heran, um einzuschätzen, inwiefern die jeweilige Regierung für die wirtschaftliche Situation verantwortlich ist (Carlin / Hellwig 2018: 5). Daher hat die wirtschaftliche Leistung auch nur so weit Einfluss, wie die Wähler der Nationalregierung Kompetenzen aus dem „Getöse der exogenen Schocks“(Carlin / Hellwig 2018: 5) zuweisen. Die Nationalregierungen befinden sich demnach in einem Konflikt zwischen dem Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Wirtschaft und der Aufrechterhaltung des Gefühls der demokratisch-politischen Verantwortlichkeit (Li / Reuveny 2003: 53), denn letzteres ist gleichzeitig eine „zentrale Komponente demokratischer Politik“ (Kayser 2007: 345). Wenn aber der exogene Einfluss auf die nationalen Wirtschaften immer größer wird, können die jeweiligen Regierungen immer weniger auf die Wirtschaft einwirken. Somit spielt auch die Einschätzung des wirtschaftlichen Managements der Regierung durch die Bürger eine immer unbedeutendere Rolle. Es stellt sich also die Frage, wie sich die Globalisierung auf economic voting auswirkt und ob dieses überhaupt noch relevant ist.
Der Globalisierung wurde in der economic voting Literatur lange Zeit nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl sich deren Effekte auf die wirtschaftlichen Beziehungen schon relativ früh abzeichneten. (Hellwig 2001: 1145). Denn die sinkende Verantwortung der Regierung aus Wählersicht für die gesamtwirtschaftliche Lage lässt darauf schließen, dass auch economic voting in seiner Bedeutung abnimmt (Hellwig 2001: 1145f). In der ersten Untersuchung dieser Art, kam Hellwig zu dem Ergebnis, dass je mehr Einfluss ein Wähler der Globalisierung einräumt und je besser er die Einschränkungen erkennt, die dem Handlungsspielraum der Regierung durch die Globalisierung entstehen, desto schwächer ist „die Verbindung zwischen nationalwirtschaftlichen Konditionen und den Wahlergebnissen“ (Hellwig 2001: 1160). Die in der Studie gemessenen Variablen des economic voting waren aber weiterhin signifikant.
In einer späteren Untersuchung argumentierte er, dass durch die abnehmende Relevanz ökonomischer Faktoren andere nichtökonomische Themen an Bedeutung gewinnen würden (Hellwig 2008). Folglich müssten sich Parteien weniger Gedanken um ihre wirtschaftlichen Positionen machen (Hellwig 2008: 1139). Auch hier bestätigte sich die Annahme, dass die Effekte von economic voting schwächer waren, wenn die Wähler der Ansicht waren, dass die Globalisierung die Möglichkeiten der Regierung einschränkt (Hellwig 2008: 1136). Deshalb bedeute Globalisierung auch, dass „eine der wichtigsten Mechanismen der Verantwortlichkeit, [nämlich] die Situation der nationalen Wirtschaft, sich im Niedergang befindet“ und infolgedessen economic voting durch andere Wege der politischen Auswahlprozesse ersetzt werde (Hellwig 2008: 1139). Denn um die regierende Partei abzustrafen, also die zentrale These von economic voting zu bestätigen, muss diese zumindest teilweise für die wirtschaftliche Krise verantwortlich gemacht werden. Dies erscheint durch die Globalisierung zunehmend unwahrscheinlich (Hellwig 2015: 1).
Hellwigs Befunde sind jedoch immer vor dem oben geschilderten Hintergrund zu betrachten, dass economic voting stark kontextabhängig ist. Seine Ergebnisse gelten demnach auch nur für die jeweils untersuchten Wahlen. Daher verwundert es auch nicht, dass andere Wissenschaftlicher zu anderen Befunden kamen.
Ebenfalls unter Einbeziehung der Effekte der Globalisierung gelangten Duch und Stevenson in ihrer Untersuchung zu der Erkenntnis, dass die Wähler die exogenen Einflüsse in der nationalen Wirtschaft wahrnehmen und diese nach der Stärke des Einflusses anordnen können (Duch / Stevenson 2010: 106). Das führt dazu, dass economic voting noch dramatischer in seiner Stärke variiert. Denn auch die externen Einflüsse sind von Wahl zu Wahl und von Land zu Land unterschiedlich ausgeprägt (Duch / Stevenson 2010: 117). Für sie bleibt economic voting deshalb ein „wichtiges Phänomen in gestandenen Demokratien“ (Duch / Stevenson 2010: 121).
Ähnlich argumentiert Kayser, der die Entwicklungen in der internationalen Wirtschaft und die Antworten der nationalen Regierungen und Wählerschaften auf die Veränderungen betrachtete (Kayser 2007). Sowohl die Regierungen als auch die Wähler der verschiedenen Länder reagieren ähnlich auf bestimmte Entwicklungen (Kayser 2007: 350ff). Deswegen plädiert er dafür, bei Untersuchungen auf Nationalebene immer auch die Einflüsse der Weltwirtschaft zu berücksichtigen (Kayser 2007: 357). Fernandez-Albertos kam in seiner Studie zu 15 verschiedenen europäischen Ländern sogar zu dem Befund, dass der Grad der Offenheit der Wirtschaft überhaupt keinen Einfluss auf die wirtschaftlichen Einschätzungen der Bürger hat (Fernandez-Albertos 2006).
Insgesamt lässt sich jedoch aus der Diskussion die Erkenntnis ableiten, dass bei der Untersuchung von economic voting ähnlich dem politischen Kontext auch dem Grad der Abhängigkeit von der Weltwirtschaft eine Rolle zukommt. Je offener die Wirtschaft des jeweiligen Landes ist, desto geringer ist der Einfluss von economic voting (Hellwig / Samuels 2007).
Da ich mich in dieser Arbeit mit den südeuropäischen Ländern Portugal, Spanien, Griechenland und Italien beschäftige und auch die Europawahlen 2014 im jeweiligen Land auf economic voting untersuchen möchte, kommt der EU eine entscheidende Rolle zu. Die genannten Länder sind nämlich nicht nur Mitglieder der EU, sondern auch der Eurozone. Gerade im Bereich der Geldpolitik haben die Mitglieder der Eurozone viele Kompetenzen an die supranationale Ebene abgetreten, um eine gemeinsame Währung zu ermöglichen. Doch auch in Bereichen der Wirtschaft ist die Internationalisierung innerhalb der EU weit fortgeschritten. So handelt es sich beispielsweise bei der EU um einen gemeinsamen Binnenmarkt und eine Zollunion mit einheitlichen Außenzöllen.
Den gerade gewonnen Erkenntnissen zur Rolle der Globalisierung entsprechend, hat die EU einen erheblichen Einfluss auf die wirtschaftliche Lage der EU-Mitgliedsstaaten und insbesondere der Mitglieder der Eurozone. Hinzu kommt, dass die EU und ihre Institutionen, wie bereits geschildert, die zentralen Akteure bei der Bewältigung der Eurokrise in den südeuropäischen Ländern waren. Daher liegt die Vermutung nahe, dass sich in eben jenen Ländern economic voting, wenn überhaupt relevant, eher auf Ebene der Europawahlen als auf der Nationalebene äußert. Die Schwierigkeit wird jedoch hierbei sein, eine passende abhängige Variable zu finden, da die Situation der Regierungsparteien auf Nationalebene eine völlig andere als die der Parlamentsmehrheit im Europäischen Parlament ist und es somit keine klassische Regierungskonstellation gibt. Dies soll jedoch im entsprechenden Teil der Operationalisierung weiter erörtert werden.
Abgesehen von den nationenübergreifenden Studien beispielweise für Europa waren länderspezifische Studien für Spanien und Italien, vor allem aber für Portugal und Griechenland lange Zeit nicht vorhanden. Erst mit der Eurokrise rückten eben jene Länder wieder mehr in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Dabei sind die südeuropäischen Länder hinsichtlich des politischen Kontexts durchaus vergleichbar. So seien sie von eher „schwach institutionalisierten Parteisystemen“ geprägt (Bellucci / Costa Lobo / Lewis-Beck 2012: 470), wobei die Volatilität der Wähler dennoch nicht sehr hoch ist und auch hier der Ideologie und der Parteiidentität bedeutende Rollen zukommen (Bellucci /Costa Lobo / Lewis-Beck 2012: 470).
Insbesondere für den Zeitraum der Eurokrise sind die Staaten Südeuropas jedoch ein interessantes Untersuchungsobjekt für economic voting. Denn entsprechend der Asymmetrie der Reward/Punishment-Hypothese sollten die Effekte von economic voting in einer wirtschaftlichen Krisenzeit besonders prägnant auftreten (Lewis-Beck / Nadeau 2012: 473). Asymmetrie ist hierbei so zu verstehen, dass economic voting als „punishment“ in wirtschaftlichen schlechten Zeiten deutlich stärker auftritt als in wirtschaftlich guten Zeiten in Form der „reward“ (Talving 2014: 4).
In einer vergleichenden Untersuchung zwischen den Ländern Südeuropas und den nordeuropäischen Staaten unter der Verwendung der Daten der European Election Study (EES) von 1988 bis 2004 war economic voting in Portugal, Spanien, Griechenland und Italien deutlich stärker als in der Vergleichsgruppe (Lewis-Beck / Nadeau 2012: 474). Gründe für die stärkeren Effekte seien die im Vergleich mit beispielsweise Schweden oder den Niederlanden weniger komplexen Regierungskoalitionen. Diese sind in Südeuropa in der Regel von einer Partei klar dominiert. Hinzu kommt, dass deren Volkswirtschaften sich nicht so gut entwickelten wie diejenigen Nordeuropas, was auch die Bürger der südeuropäischen Staaten wahrnehmen (Lewis-Beck / Nadeau 2012: 476).
Am härtesten von der Krise betroffen war Griechenland. In den dortigen Parlamentswahlen 2004 und 2009 waren wirtschaftliche Themen für die Wähler jeweils am wichtigsten (Nezi 2012: 502). Für beide Wahlen konnten signifikante Effekte von economic voting nachgewiesen werden (Nezi 2012: 503).
Auch in den portugiesischen Parlamentswahlen von 2002 bis 2009 spielte economic voting eine Rolle (Freire / Santana-Pereira 2012). Es konnten für die drei untersuchten Wahlen jeweils signifikante Effekte nachgewiesen werden (Freire / Santana-Pereira 2012: 509f).
Ebenfalls für die Parlamentswahl in Spanien 2000 konnte aufgezeigt werden, dass economic voting von signifikanter Bedeutung war (Fraile / Lewis-Beck 2010). Eine Untersuchung für die Parlamentswahlen in den Jahren 2004 und 2008 hat jedoch leider nicht stattgefunden.
Studien zu economic voting in Italien waren für den Vergleichszeitraum nicht verfügbar.
Es muss jedoch angemerkt werden, dass die eben betrachteten Studien nicht nur in unterschiedlichen politischen Kontexten und wirtschaftlichen Gegebenheiten stattfanden. Auch in der Operationalisierung unterscheiden sie sich stark voneinander.
Talving weist außerdem darauf hin, dass die Zeit bis 2009 wohlmöglich nicht der beste Untersuchungszeitraum für die Krisenzeit ist. Denn im Krisenjahr 2009 begannen die Regierungen Südeuropas erst mit Maßnahmen auf die Krise zu reagieren (Talving 2014: 14). Außerdem bedeuten nationale wirtschaftliche Schwierigkeiten nicht automatisch ein „hohes Level an economic voting“ (Scotto 2012: 530).
Nachfolgend sollen nun die Hypothesen aus den zuvor behandelten Kapiteln formuliert werden.
Aus dem Abschnitt 3.5 zu Südeuropa konnte zumindest für einige der vergangenen Parlamentswahlen in Südeuropa economic voting nachgewiesen werden. Vor dem Hintergrund der Forschungsfrage dieser Arbeit leitet sich die erste Hypothese ab:
H1: „Economic voting hat einen signifikanten Effekt auf die Wahlergebnisse der Nationalwahlen und der Europawahl von 2011 bis 2014 in Portugal, Spanien, Griechenland und Italien.“
Abschnitt 3.4 lässt sich entnehmen, dass der EU eine entscheidende Rolle in der Krisenbewältigung sowie in einigen Wirtschaftsbereichen zukommt, insbesondere in der Geldpolitik. Aufgrund dessen lautet die nächste Hypothese, ebenfalls in Anlehnung an die Fragestellung:
H2: „Economic voting ist in den Europawahlen 2014 für die betrachteten Länder in mindestens gleichem Maße vorhanden wie in den jeweiligen Nationalwahlen, wenn nicht sogar in stärkerem Ausmaß.“
Die Ausführungen über die Globalisierung und deren Effekt auf economic voting in Abschnitt 3.4 legen jedoch nahe, dass gerade in den offenen Wirtschaften Europas der Effekt von economic voting abzunehmen scheint. Daher lässt sich als eine Art Gegenhypothese zu H1 und H2 die dritte Hypothese formulieren:
H3: „Economic voting ist in Zeiten der Globalisierung vor allem in den offenen und internationalisierten südeuropäischen Wirtschaften nur schwach ausgeprägt.“
Falls economic voting entgegen dieser Hypothese doch auftreten sollte, ist nach Abschnitt 3.3 zu erwarten, dass die retrospektiven Variablen die höhere Erklärungskraft aufweisen. Unter diesen Variablen sollen wiederum diejenigen die höhere Erklärungskraft besitzen, die sociotropic sind, also die Einschätzungen zur gesamtwirtschaftlichen Lage abfragen:
H4: „Falls economic voting signifikant vorhanden ist, weisen die retrospektiven Variablen, welche gleichzeitig auch sociotropic sind, die höchste Erklärungskraft auf.“
Neben der Globalisierung ist insbesondere der politische Kontext ein entscheidender Faktor bei der Untersuchung von economic voting. Dieser lässt sich durch verschiedene Ansätze berücksichtigen. Da meiner Auffassung nach die besseren Argumente für die relative Stärke der Regierungsparteien sprechen (siehe Abschnitt 3.2), lautet die letzte Hypothese wie folgt:
H5: „Je stärker die größte Regierungspartei ist, desto größer sind die Effekte von economic voting.“
Im nachfolgenden Kapitel soll nun die Operationalisierung erfolgen und die jeweiligen Datensätze vorgestellt werden, um sich anschließend der Analyse zuwenden zu können.
Die verschiedenen Möglichkeiten der Operationalisierung von economic voting sind sehr breit gefächert. So bestehen allein acht verschiedene Wege der Operationalisierung der abhängigen Variable. Es existiert also kein einheitlicher Weg der Messung (Talving 2014: 7).
Allerdings lassen sich diese acht verschiedenen Wege grob in zwei Gruppen einteilen. Auf der einen Seite stehen diejenigen abhängigen Variablen, die die Beliebtheit der amtierenden Regierung erfassen. Auf der anderen Seite steht die Gruppe der Variablen, die die verschiedenen Möglichkeiten der Wahl umfassen. Dabei erhält jedoch letztere Gruppe den weitaus größeren Zuspruch und findet dementsprechend mehr Anwendung, weshalb ich mich dieser anschließe (u.a. Talving 2014; Wilking / Haller / Norpoth 1997; Lewis-Beck 2006).
Doch auch innerhalb dieser Gruppe herrscht keine Einigkeit darüber, wie die abhängige Variable ausgestaltet sein soll, insbesondere vor dem Hintergrund, dass in vielen Ländern gerade keine Einparteien- sondern Koalitionsregierungen amtieren. Es besteht daher die Möglichkeit, die abhängige Variable als Dummy der Wahl für eine der Regierungskoalitionsparteien (1) oder für eine Oppositionspartei (0) (Nezi 2012) oder als Dummy für die Wahl der größten Regierungspartei (1) oder für eine andere Partei (0) zu definieren (Lewis-Beck / Nadeau 2012).
Vor allem für die Koalitionsregierungen, als zentraler Bestandteil des politischen Kontextes, stellt sich die Frage, wer innerhalb der Koalition von den Wählern für die wirtschaftliche Misslage verantwortlich gemacht wird. Fisher / Hobolt kamen in der Untersuchung dieser Frage zu dem Ergebnis, dass retrospektives Wählen bei Koalitionsregierungen schwächer ausgeprägt ist als bei Einparteienregierungen (Fisher / Hobolt 2010: 363). Gleichzeitig ist es jedoch umso stärker ausgeprägt, wenn die Koalition von einer großen Partei dominiert wird (Fisher / Hobolt: 364). Der Partei, die den Regierungschef stellt, wird in der überwiegenden Mehrheit der betrachteten Fälle auch die mit Abstand größte Verantwortung zugeschrieben (Fisher / Hobolt: 365).
In den im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Nationalwahlen gab es zum Zeitpunkt der jeweiligen Wahl eine Einparteienregierung in Griechenland im Mai 2012, sowie eine Minderheitsregierung einer Partei in Spanien und in Portugal. Daher habe ich für diese Wahlen entschieden, einen Dummy der Wahl der größten Regierungspartei als abhängige Variable zu wählen.
Es gab jedoch zwei Nationalwahlen, Italien im Jahr 2013 und Griechenland im Juni 2012, bei denen es einen parteilosen Ministerpräsidenten mit einer Technokratenregierung gab (Italien), beziehungsweise aufgrund der komplizierten Mehrheitsverhältnisse keine Regierung gebildet werden konnte (Griechenland). Meiner Ansicht nach empfiehlt sich daher keiner der beiden oben dargestellten Möglichkeiten für diese Wahlen, da dies den politischen Kontext verfälschen würde. Stattdessen habe ich bei diesen Wahlen die jeweiligen Stimmen für die drei stimmstärksten Parteien als abhängige Variablen verwendet. Diese habe ich jeweils als Dummy ausgestaltet, sodass (1) Wahl der jeweiligen Partei bedeutet und (0) Wahl einer anderen Partei. Ähnlich sind beispielsweise Freire / Santana-Pereira in ihrer Untersuchung für Portugal vorgegangen (Freire / Santana-Pereira 2012).
Auch für die Analyse der Europawahl 2014 in den betrachteten Ländern eignet sich keine der „gängigen“ abhängigen Variablen in der economic-voting-Forschung.
Es existierte zwar eine „Koalition“ der Fraktion der Europäischen Volkspartei zusammen mit der Fraktion der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament, der institutionelle Rahmen der EU ist jedoch weitaus komplexer als auf nationaler Ebene (Hobolt / Tilley 2014: 10). Das Europäische Parlament ist in seinen Kompetenzen deutlich schwächer ausgestattet als nationale Parlamente. Von zentraler Bedeutung ist hierbei, dass es nicht direkt an der Regierungsbildung, also der Zusammensetzung der Kommission, beteiligt ist. Trotz der Einführung des Spitzenkandidatenprinzips in dieser Europawahl, obliegt die eigentliche Entscheidung dem Europäischen Rat. Das Parlament kann lediglich seine Zustimmung verweigern.
[...]
1 In dieser Arbeit wird lediglich die männliche Anrede verwendet. Hierbei ist jedoch immer auch die weibliche Form einbezogen.
2 Schuldenstandsquote insgesamt nicht höher als 60% des Bruttoinlandprodukts und jährliche Schuldenaufnahmequote nicht höher als 3% des Bruttoinlandsprodukts
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