Bachelorarbeit, 2016
59 Seiten, Note: 2,0
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Gegenstand und Problemlage
1.2 Zielstellung und Arbeitshypothesen
1.3 Aufbau der Arbeit
2 Inklusion in Sachsen
2.1 Entwicklung und Umsetzung
2.2 Bedeutung inklusiven Schulsports
2.3 Barrieren und Probleme in der Umsetzung
3 Empirische Untersuchung
3.1 Stichprobenbeschreibung
3.2 Datenerhebung
3.3 Methodenauswahl
3.4 Auswertungsmethode
4 Ergebnisdarstellung
5 Zusammenfassung
6 Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Schulische Inklusion stellt ein Thema dar, dessen Stellenwert im gesellschaftlichen Zusammenleben im letzten Jahrzehnt enorm gestiegen ist. Den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention stellen sich alle deutschen Bundesländer auf ihrem individuellen Weg. Im Rahmen dieser Arbeit wird sich ausführlich mit der schulischen Inklusionsentwicklung im Freistaat Sachsen befasst. Es wird differenziert dargestellt, welche Veränderungen und Bemühungen das sächsische Bildungssystem prägen und wie die derzeitige praktische Umsetzung in den Schulen aussieht. Ein besonderes thematisches Augenmerk liegt dabei auf der Inklusion im Schulsport bzw. dem Sportunterricht. Mittels wissenschaftlicher, theoretischer Bearbeitung und einer qualitativen empirischen Untersuchung werden gesamtschulische, sächsische Entwicklungstendenzen aufgezeigt, Probleme und Barrieren benannt, sowie Veränderungen aus Sicht der Sportdidaktik und des Schulsports dokumentiert.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Im letzten Jahrzehnt hat der Begriff der Inklusion im gesellschaftlichen Zusammenleben in Deutschland und somit auch im schulischen Kontext eine enorme Bedeutung erlangt. Seit dem Inkrafttreten des .Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung' am 26. März 2009, ergab sich die Notwendigkeit, dass das Bildungssystem in Deutschland mit neuen Aufgaben konfrontiert werden muss und Veränderungen stattfinden, da das Recht auf inklusive Bildung nur in einem inklusiven System verwirklicht werden kann. Deshalb machte die UN-Behindertenrechtskonvention den Aufbau eines inklusiven Bildungssystems zu einem verbindlichen Ziel. Es gilt für alle Bereiche der Bildung und eben auch und gerade für den der schulischen Bildung. Zielformulierungen der UN-BRK gehen über den lernzielgleichen integrativen Unterricht hinaus: „Persons with disability can access an inclusive, quality and free primary education and secondary education on an equal basis with others in the community in which they live“ (UN, 2006). Aus diesem Zitat der Konventionsvorschrift geht hervor, dass jedes Kind das Recht besitzt innerhalb eines allgemeinen, inklusiven, kostenlosen, wohnortnahen und auf Diversität setzenden Bildungssystems aufzuwachsen und dabei die nötige Unterstützung zu erfahren. Alle Vertragsstaaten haben sich verpflichtet, unter Ausschöpfung ihrer verfügbaren Mittel Vorkehrungen zu treffen, um die volle Realisierung dieser Rechte zu erreichen. „Mit der UN-Konvention geht somit ein Paradigmenwechsel einher. Eine bisher medizinisch-defizitorientierte Sichtweise wird durch eine auf den Menschenrechten basierende Perspektive abgelöst.“ (SOD, 2014). Eine inklusive Schule gibt Grundstein und Vorreiterrolle einer inklusiven Gesellschaft. In unterschiedlicher Weise haben sich die 16 deutschen Bundesländer und Schulsysteme auf den Weg gemacht, das für sie verbindliche Ziel der inklusiven Bildung in der Schule zu erreichen. Die vorliegende Arbeit soll weniger die Frage klären, was Inklusion aus gesellschaftlicher Sicht bedeutet und wie sie entstanden ist, sondern vielmehr wie dieser Begriff, sechs Jahre nach der Ratifizierung, im sächsischen Bildungssystem verstanden und umgesetzt wird. Wie geht Sachsen dabei im Vergleich zu anderen Bundesländern mit den Festlegungen um? Wo gibt es Verbesserungsmöglichkeiten und welche derzeitigen Barrieren bestehen? Welche Veränderungen sind aus sportdidaktischer Sicht erkennbar und wie wird dies im konkreten Sportunterricht umgesetzt? Ein besonderes Augenmerk wird im Kontext somit auf den Schulsport gelegt, da sich dieser aufgrund der doch sehr sonderlichen Organisationsform von anderen Fächern, welche im Klassenzimmer unterrichtet werden, klar abgrenzt.
Die Beschlüsse der UN-BRK von 2009 geben die Grundlage der bisherigen Veränderungen aller deutschen Bildungssysteme hin zur Inklusion. Von Bundesland zu Bundesland unterscheiden sich dabei die Methoden und Herangehensweisen zur Umsetzung dieser Beschlüsse. Um den derzeitigen Stand der sächsischen Schulveränderungen werten zu können, muss ein Vergleich zu anderen Systemen ermöglicht werden. Die Analyse öffentlich verfügbarer und aktueller Daten soll die Entwicklung der jeweiligen Schulsysteme darstellen und einen Vergleich ermöglichen. Bei der konkreten Planung und Umsetzung von inklusivem Sportunterricht gibt es bisweilen nur wenige Publikationen, welche für LehrerInnen von Nutzen sein können. Gerade im Schulsport können sich die Lehrerinnen und Lehrer größtenteils nur auf theoretische Modelle und Rahmenstrukturen berufen. In Anbetracht dessen, soll die vorliegende Arbeit Aufschluss über die Inklusionsentwicklung und -umsetzung im Freistaat Sachsen geben und folgende Kernfragen beantworten:
1. Welchen Stellenwert hat Inklusion im sächsischen Bildungssystem? (F1)
2. Welche Folgen hat eine 6-jährige inklusive Schulentwicklung für den Sportunterricht? (F2)
3. Wie sieht die reale Inklusionspraxis in sächsischen Schulen aus, vor allem im Sport? (F3)
Die Beantwortung der ersten Fragestellung soll Auskunft darüber geben, wie der aktuelle Stand der Inklusionsentwicklung im sächsischen Bildungssystem zu verstehen ist. Durch statistische Informationen soll ferner mit anderen Bundesländern verglichen und gemeinsame Tendenzen bzw. Unterschiede aufgezeigt werden. Im Rahmen der zweiten und dritten Fragestellung wird der Bezug zum Sportunterricht hergestellt und in die praktische Umsetzung der Schulen geforscht. Da es aufgrund fehlender Literatur und explorativer Studien im Bereich der inklusiven sächsischen Sportunterrichtsentwicklung bis heute keine fundierten Publikationen gibt, können keine Vorannahmen getroffen und somit auch keine Arbeitshypothesen generiert werden.
Die Arbeit ist in sechs Kapitel aufgeteilt. Im ersten inhaltlichen Teil werden zunächst die Problemstellung und Fragestellungen sowie der theoretische Rahmen der Arbeit aufgeführt. Zudem wurde mit Hilfe einer ausführlichen Literaturrecherche der theoretische Hintergrund in den Bereichen Integration, Inklusion, sonderpädagogischer Förderbedarf, Inklusionsentwicklung in Deutschland, Inklusion in Sachsen und Inklusion im Schulsport gebildet. Um die Aktualität der zu gewinnenden Erkenntnisse zu gewährleisten schränkt sich die Analyse haupt- sächlich in relevante Literatur, von 2008 bis 2016 ein. Die gewonnenen Erkenntnisse geben Grundlage für die Bearbeitung der empirischen Untersuchung. Ab dem dritten Kapitel erfolgt die Beschreibung und Interpretation der empirischen Untersuchung. Ziel dieser qualitativen Methode mittels eines Leitfadeninterview ist es, die derzeitige Wirklichkeit inklusiven, sächsischen Schulsports durch die subjektive Sicht der Gesprächspersonen zu ermitteln. Gleichzeitig zielt die Methode des ExperInneneninterviews darauf ab, bisherige Veränderungen im Schulalltag aufzudecken, derzeitige Barrieren und Hindernisse der Inklusionspraxis zu benennen und Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die Interviewform wurde mit zwei SportlehrerInnen durchgeführt, welche mindestens die letzten sieben Schuljahre im sächsischen Schuldienst beschäftigt sind. In den leitfadengestützten Interviews werden die LehrerInnen als Expertinnen angesehen, da sie die bisherigen Veränderungen Schuljahr für Schuljahr erleben konnten und darüber fundierte Erlebnisse und Erfahrungen berichten können. Die darauffolgenden Kapitel beziehen sich auf die Auswertung der Interviewdaten unter Einbeziehung der zuvor dargestellten Theorie. Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und ein Ausblick in weitere Forschungsgebiete zum Thema der Inklusionsentwicklung in Sachsen gegeben.
Eine breite Diskussion über den Begriff und die Umsetzung von Inklusion beschäftigt nach wie vor deutschlandweit Pädagogen, Juristen und Politiker. So schreibt Katzenbach (in Schnell, 2014, S. 19)
„Die weite Verbreitung des Begriffs der Inklusion hat zur Beliebigkeit seiner Verwendung geführt. Die Diskussion um seine theoretischen Grundlagen sollte daher wieder intensiver geführt werden. Damit kann der Praxis ein begrifflich-theoretischer Rahmen zur Verfügung gestellt werden, der hilft, für die mit der Umsetzung der Inklusion verbundenen Kontroversen besser gerüstet zu sein. “
Im Bildungssystem von Sachsen geht das Verständnis der Inklusion über die Institution der Schule hinaus. Das sächsische Ministerium für Kultus sieht die Umsetzung des inklusiven Bildungssystems sowohl in der Kindertagesbetreuung, als auch im Schulwesen und dem Übergang in den Berufseinstieg. Die primäre pädagogische Orientierung soll mit der Leitidee „Vielfalt als Chance“ eine gesamtgesellschaftliche, chancengerechte Entwicklungsperspektive bilden (UN, 2006, Artikel 24). Der Freistaat Sachsen hat derzeit rund 4 Millionen Einwohner, wovon im Schuljahr 2014/2015 ca. 445.000 SchülerInnen aller Schularten das gegliederte Bildungssystem besuchten. (SLS, 2014). Nach einem vierjährigen Besuch der Grundschule erfolgt die Trennung der SchülerInnen in eine gymnasiale Oberstufe bzw. in die Sekundarstufe einer Oberschule. Die allgemeine Hochschulreife erreicht man mit Ab- 3 schluss des Abiturs nach zwölf Schuljahren oder mit dem Abschluss von weiterführenden allgemeinen Schulen. Die Oberschule verkörpert den Charakter einer Gesamtschule nach Vorbild der ehemaligen Altbundesländer, jedoch ohne einen gymnasialen Einfluss und separiert sich in einen Hauptschulbildungsgang und einen Realschulbildungsgang. Die differenzierte Schullandschaft wird durch die Existenz von Förderschulen komplettiert. Hier werden Schülerinnen mit den eigenständigen Förderschwerpunkten „Lernen“, „körperlichmotorische Entwicklung“, „Sehen“, „geistige Entwicklung“, “Hören“, „emotional - soziale Entwicklung“ und „Sprache“ ab Klasse eins unterrichtet, welche zuvor durch sonderpädagogische Diagnostik und Gutachten den SchülerInnen zugewiesen werden. Ein sonderpädagogischer Förderbedarf kommt in Betracht, wenn „eine Schülerin oder ein Schüler Probleme beim Lesen und Schreiben, beim Erarbeiten mathematischer Zusammenhänge und beim selbstständigen Anwenden des Erlernten“ (SMK, 2015,) hat. Die defizitorientierte Auslegung gibt die individuellere Förderung als ein Hauptziel heraus. Kinder und Jugendliche mit einem diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf sind zwar durchaus in der Lage eine Schule zu besuchen, jedoch gelingt es ihnen oft nicht, den curricularen Vorgaben einer Regelschule ohne individueller Unterstützung gerecht zu werden. Diese Schülerinnen und Schüler müssen nach unterschiedlichen curricularen Lerninhalten unterrichtet werden. Laut der Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus über Förderschulen im Freistaat Sachsen wird die Aufgabe von Förderschulen wie folgt definiert:
„Die Förderschule vermittelt eine den Bedürfnissen ihrer Schüler angemessene Bildung, Ausbildung und Erziehung, bereitet sie auf ein selbstständiges Leben in der Gemeinschaft und auf eine berufliche Tätigkeit vor und versucht, durch förderpädagogische Maßnahmen ihre Eingliederung oder Wiedereingliederung in eine der anderen allgemeinbildenden Schulen zu ermöglichen“ (REVOSax, 2014).
Bei der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs ist eine präzise Feststellung des Grades der Beeinträchtigung des Kindes obligatorisch. Anhand der Auswertung der gewonnenen Informationen wird deutlich, inwiefern die körperliche oder geistige Beeinträchtigung die Teilnahme des Kindes am Regelschulunterricht einschränkt bzw. unmöglich macht. Anhand einer ausführlichen Diagnostik soll gewährleistet werden, dass jedes Kind nach seinen individuellen Voraussetzungen in den Bereichen Bildung und Erziehung derzeit bestmöglich gefördert und ausgebildet wird. Die Feststellung eines Förderbedarfs wird durch die Bildungsagenturen beauftragt und durch Lehrkräfte einer Förderschule durchgeführt. Die Agenturen entscheiden schließlich über das Bestehen eines sonderpädagogischen Förderbedarfs und die Zuweisung an eine Förderschule. Die Eltern werden an Förderausschüssen beteiligt und haben nur ein Widerspruchsrecht, eine Mitbestimmung oder Wahlfreiheit besteht nur bedingt (Eichfeld, 2011). Der endgültige Schulfeststellungsbescheid wird durch die 4 regionale Bildungsagentur verabschiedet. Das gemeinsame Lernen von SchülerInnen mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf wird ausschließlich mit dem Synonym des „integrativen Unterrichts“ gleichgesetzt, sodass eine klare begriffliche Abtrennung auch auf eine inhaltliche Diskrepanz hinweist. Um das Verständnis der weiteren Ausführungen zu verstehen, muss eine kurze Begriffsklärung von Integration und Inklusion stattfinden. Mit Integration wird heute allgemein die Einfügung bzw. Angleichung in ein Ganzes bezeichnet (Duden, 2016). Die soziologische Bedeutung wird mit der „Verbindung einer Vielfalt von einzelnen Personen oder Gruppen zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Einheit“ (ebd.) angegeben. Die Integration verfolgt somit das Ziel gesellschaftliche Außengruppen (z.B. Migranten, Menschen mit Behinderung) in ein Mehrheitssystem einzugliedern. Dabei geht man von einer Zwei-Gruppen-Theorie aus und unterscheidet zwischen einer Mehrheitsgruppe (‘Normale') und Außengruppen (zu Integrierende). Im Sächsischen Schulgesetz von 2004, das zuletzt 2010 geändert wurde, werden die Begrifflichkeiten „Inklusion“ oder „inklusiv“ nicht verwendet. Inklusiver Unterricht geht weit über Integrationspädagogik hinaus und setzt die Zwei- Gruppen-Theorie, bestehend aus Nichtbehinderten und Behinderten, nicht als Basis voraus. Vielmehr ist die schulische Organisation so ausgerichtet, dass eine von Heterogenität geprägte Lerngruppe von Beginn an am gemeinsamen Unterricht teilnimmt (Demmer- Dieckmann & Struck, 2001). Inklusion ist ein logischer nächster Schritt auf die Bemühungen der Integration, denn sie eröffnet jedem Menschen, das Recht auf adäquate Bildung und auf Erreichung des individuell höchstmöglichen Bildungszieles (Stangl, 2016). Die sächsischen Gesetzesgrundlagen regeln den derzeitigen gemeinsamen Unterricht von SchülerInnen mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf über besondere Verordnungen. Das Schulgesetz von 2010 bindet eine Beeinträchtigung eines Schülers eng an den Bildungsort Förderschule:
„Schüler, die wegen der Beeinträchtigung einer oder mehrerer physischer oder psychischer Funktionen auch durch besondere Hilfen in den anderen allgemein bildenden Schulen nicht oder nicht hinreichend integriert werden können und deshalb über einen längeren Zeitraum einer sonderpädagogischen Förderung bedürfen, werden in den Förderschulen unterrichtet“ (REVOSax, 2014)
Entsprechend dazu ist in §30 des Schulgesetzes eine Pflicht zum Förderschulbesuch festgehalten. Ein gemeinsamer Unterricht findet wenig Vorrang und kann nach §2 Abs. 1 Schulintegrationsverordnung nur stattfinden, „wenn und solange gewährleistet ist, dass Schüler, bei den ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt wurde in dieser Schule die erforderliche besondere Förderung erhalten“. (REVOSax, 2014)
„Wir werden auch über Schulformen diskutieren, obwohl wir am gegliederten System festhalten. Es soll aber kein starres System sein und Entwicklungen ermöglichen. Die Förderschulen werden erhalten. Sachsen geht den behutsamen Weg der Inklusion, will jedem Schüler die für ihn optimale Schulform ermöglichen.“ (B. Kurth, 2014)
Aussagen über die Entwicklung und Umsetzung von inklusivem Unterricht kann man derzeitig gut über statistische Erhebungen der Bertelsmann-Stiftung treffen. Die letzte große bildungsstatistische Analyse erfolgte durch Leitung von Bildungsökonom Professor Klaus Klemm im Schuljahr 2013/2014 und bildet gleichzeitig die aktuellsten Zahlen und Fakten. Im Jahre 2009 trat in Deutschland die UN-BRK in ihrem vollen Ausmaß Kraft. Schon zu diesem Zeitpunkt lag Sachsen im innerdeutschen Vergleich über den Durchschnittswerten der Förderquote (Anteil der SchülerInnen mit einem diagnostizierten sonderpädagogischem Förderbedarf) und dem Exklusionsanteil (Anteil der Schüler und Schülerinnen mit Förderbedarf, die separiert unterrichtet werden). Die derzeitige sächsische Kultusministerin Kurth sieht die Inklusion von Schülern als zentrales Thema sächsischer Bildungsangelegenheiten: „Der Ruf nach Inklusion darf aber nicht dazu führen, dass die spezifische Förderung, die Schüler mit einer Behinderung brauchen, infrage gestellt wird [.] bekennt sich aber zur Vielfalt der Förderorte und damit auch künftig zu Förderschulen.“ (SMK, 2015). Trotz dessen besuchen immer mehr SchülerInnen mit besonderem Förderbedarf eine Regelschule in Sachsen. Hier wird zwischen mehreren Formen der .integrativen Unterrichtung' unterschieden. Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf nehmen entweder in vollem Umfang am Unterricht einer allgemeinbildenden oder berufsbildenden Schule teil und gehören auch dieser Schule an oder sie bleiben SchülerInnen einer Förderschule und besuchen in einzelnen Unterrichtsfächern den Unterricht einer benachbarten Schule. Darüber hinaus ist auch eine kooperative Form möglich, indem eine oder mehrere Klassen der Förderschule im Schulgebäude einer benachbarten Schule unterrichtet und gemeinsame Aktivitäten im Schulalltag sowie Begegnungen im Freizeitbereich organisiert werden (SBI, 2013). Im Schuljahr 2013/2014 gingen 28,3 Prozent der verhaltensauffälligen, lern- oder körperbehinderten SchülerInnen im Freistaat nicht mehr auf eine separate Förderschule. Fünf Schuljahre zuvor hatte der Inklusionsanteil noch bei 16,4 Prozent gelegen. Sachsen liegt jedoch trotz des Anstiegs noch hinter dem Bundesdurchschnitt in Höhe von 31,4 Prozent.
Tab. 1. Quoten sonderpädagogischer Förderung im Zeitverlauf in Prozent - 2000 bis 2013/2014 (nach Klemm, 2015, S. 59)
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Die quantitative Weiterentwicklung im Hinblick auf gemeinsames Lernen kann durch weitere Kennziffern erkannt werden. Im Schuljahr 2013/2014 wurden trotz gesunkener Schülerzahlen bei rund 25800 SchülerInnen der Klassenstufe 1 bis 10 ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert, wobei die Förderquoten auf 8,5 leicht anstieg. Inzwischen besucht fast jeder dritte dieser SchülerInnen eine Regelschule. Der Integrationsanteil differenziert sich in den einzelnen Förderschwerpunkten deutlich und zeigt, dass „fast ausschließlich Kinder mit 'zielgleichem' Rahmenlehrplan integriert werden“ (Preuss-Lausitz, 2011). Wie auf Bundesebene so gilt auch im Freistaat Sachsen, dass eine höhere Bildungsstufe eine geringere Chance auf Inklusion mit sich bringt. Liegt der Inklusionsanteil in sächsischen Kitas noch bei 81,4 Prozent und an Grundschulen bei 39,4 Prozent, so besucht nur jeder Fünfte der rund 3.400 Förderschüler der Sekundarschule ein Gymnasium (Bildungsmonitor, 2015).
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Abb. 1: Anteil der integrativ unterrichteten SchülerInnen eines Förderschwerpunktes an der Gesamtschülerzahl des jeweiligen Förderschwerpunktes in Sachsen in Prozent (SMK, 2015)
Im bundesweiten Vergleich ist besonders der geringe Anteil an SchülerInnen des Förderschwerpunkts Lernen, die inklusiv unterrichtet werden, auffällig. So werden deutschlandweit 35,2 Prozent der SchülerInnen des Förderbereichs Lernen inklusiv beschult, in Sachsen sind es nur 4,9 Prozent. Sachsen meldet gleichzeitig eine Exklusionsquote, welche sich im Rücklauf befindet, das heißt, der Anteil der SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, welche eine Förderschule besuchen, ist auf 6,1 Prozent leicht gesunken. Der bundesweite Trend zeigt ebenso wie in Sachsen steigende Inklusionsanteile. Spitzenreiter im innerdeutschen Vergleich ist Schleswig-Holstein, 2013/2014 besuchten hier 60,5 Prozent aller SchülerInnen eine Regelschule. Eine hohe Dynamik verzeichnet Hamburg. Lag der Inklusionsanteil im Schuljahr 2010/2011 noch bei 24,4 Prozent, so ist dieser drei Schuljahre später um das doppelte gestiegen (59,1%). Die einhergehenden Veränderungen nehmen in allen Bundesländern erhebliche finanzielle Mittel in Anspruch. In einer Studie der Bertelsmann-Stiftung liegen dazu erstmals konkrete Berechnungen und Zahlen vor. Der Bedarf an personeller Ausstattung wird in Sachsen mit ca. 1600 zusätzlichen Lehrkräften beziffert, zudem wurde im Vergleich zum Schuljahr 2009/2010 ein zusätzlicher Bedarf von jährlich rund 114 Millionen Euro, die in voller Höhe ab dem Schuljahr 2020/2021 anfallen, berechnet (Klemm, 2012). In seiner Berechnung geht Prof. Klemm davon aus, dass die bisherige Förderung der beeinträchtigen und verhaltensauffälligen Kinder vom Umfang her künftig auch in Regelschulen geleistet wird. Für Maßnahmen der „Integration“ haben die jeweiligen sächsischen Schulträger derzeitig die Möglichkeit finanzielle Landesmittel zu beantragen. Für diesen Zweck, etwa den Ausbau der Barrierefreiheit, wurden im Jahre 2010 ca. 123.400 Euro genehmigt (Preuss-Lausitz, 2011). Für die inhaltliche Umsetzung der UN-BRK legte am 13.05.2011 der damalige sächsische Kultusminister Wöller einen Drei-Punkte-Plan vor, mit dem die UNKonvention schrittweise umgesetzt und die integrative Unterrichtung erhöht werden soll. Dazu rief er im August 2011 das Expertengremium „Inklusion“ ins Leben (SMK, 2012), welche sich noch heute mit „Empfehlungen zur Weiterentwicklung der individuellen Förderung von Schülern mit Behinderungen bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf sowie zur Ausgestaltung des sächsischen Schulsystems in Hinblick auf die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen“ beschäftigt. Die ExpertInnen skizzieren nächste Schritte zum Aufbau eines inklusiven Bildungssystems in Sachsen, die im Folgenden auszugsweise wiedergegeben werden:
- Anpassung der rechtlichen Grundlagen zur sonderpädagogischen Förderung an die Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention
- Vorrangige Beschulung von SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf an der Regelschule
- Angebot eines zieldifferenten Unterrichts nicht nur an Grundschulen, sondern auch in der Sekundarstufe I und II
- Die Entscheidung der Eltern über den Lernort des Kindes ist für die Schulaufsicht bindend
- Bereitstellung von zusätzlichen Mitteln durch den Freistaat Sachsen zur barrierefreien Gestaltung der Schulen
- Öffnung der bestehenden Förderschulen für SchülerInnen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf und Weiterentwicklung zu Kompetenzzentren für Beratung, Prävention und Unterrichtsarbeit (vgl. SMK, 2012)
Ein weiterer Teil der Maßnahmen zur Umsetzung der UN-BRK in Sachsen ist der Schulversuch ERINA, mit dem in vier Modellregionen Wege zum gemeinsamen Lernen behinderter und nicht-behinderter Kinder erprobt werden. Dieser Schulversuch wird durch eine zentrale Steuergruppe beim SMK begleitet. Die externe Projektleitung wird durch die Landesarbeitsstelle Sachsen e.V. wahrgenommen, die Universität Leipzig übernimmt die dauerhafte wissenschaftliche Begleitung (SMK, 2012). Am 12. Januar 2016 veröffentlichte das Sächsische Kultusministerium auf ihrer Internetpräsenz neue Pläne und Vorschläge einer Gesetzesnovellierung im Bildungssektor, deren Ergebnisse spätestens im Schuljahr 2017/2018 in Kraft treten sollen. Der bisherige Entwurf sieht dabei vor, dass die Förderschulpflicht abgeschafft wird. SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen Lernen und geistige Entwicklung sollen hierbei zunehmend inklusiv an Oberschulen, welche die räumlichen und personellen Rahmenbedingungen erfüllen, unterrichtete werden. Bis Ende des Schuljahres 2019 sollen 300 zusätzliche LehrerInnstellen entstehen, zudem beinhaltet der Gesetzentwurf mehr Möglichkeiten der Mitbestimmung für Schüler, Eltern und Schulträger (SMK, 2016). Zwei Monate zuvor verabschiedete das sächsische Bildungskabinett eine Förderrichtlinie zum Thema Inklusion. Sie beinhaltet, dass „Allein 51 Millionen Euro [...] ab kommenden Schuljahr für den Einsatz sogenannter Inklusionsassistenten an Schulen bereitgestellt werden“ sollen (Sächsische Zeitung, 2015), und sieht weitere Millioneninvestitionen im Bereich der Kindertagesstätten vor. Ein vollständiger Landesaktionsplan wird im Jahr 2016 fertiggestellt und derzeitig durch eine sächsische interministerielle Arbeitsgruppe unter Beteiligung der Akteure der Behindertenhilfe sowie der kommunalen Spitzenverbände entwickelt (Lange, Kliese & Kluge, 2016).
Der Schulsport erhält im deutschen Bildungssystem einen wichtigen Teil des schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrags, wobei die pädagogische Bedeutsamkeit sich durch Bewegung ereignet und somit eine gewisse Sonderstellung im schulischen Kanon einnimmt. Der Sportunterricht bildet einen Kernbereich des Schulsports und kann einen besonderen Beitrag zu Erfüllung wichtiger überfachlicher Erziehungsaufgaben der Schule (Gesundheitsförderung, soziales Lernen, Werteerziehung) leisten. Die Umsetzung der Ziele waren und sind stets von einer heterogenen Schülerlandschaft geprägt. SchülerInnen mit unterschiedlichsten motorischen, kognitiven oder emotionalen Fähigkeiten und Fertigkeiten bringen individuelle Voraussetzungen in den Unterricht hinein. Nach Tiemann ist diese Heterogenität jedoch kein neuzeitiges Phänomen (2012, S. 168). In den letzten Jahrzehnten wurde der Umgang mit diesen verschiedenen Leistungsvoraussetzungen eher als Notwendigkeit und Hindernis aufgefasst. Die Trennung der Menschen mit und ohne Behinderung im Sport wurde erstmals Mitte der 1970er durch integrative Ansätze im Sport durchbrochen. Ziel war es, Freizeitangebote für das gemeinsame Sporttreiben von Menschen mit und ohne Behinderung zu schaffen, um Berührungsängste abzubauen und soziale Integration voranzutreiben. In dieser Zeit wurden viele integrative Modellprojekte entwickelt, die sich im Laufe der Zeit entweder zu eigenen Integrationsvereinen oder zu Abteilungen in Regelsportvereinen umwandelten und noch heute Bestand haben (Fediuk, 2008.). Die ersten sportdidaktisch fruchtbaren Beiträge zur Integrationsthematik tauchten Anfang der 1990er Jahre auf, zu dieser Zeit allerdings unter Verzicht des Integrations- bzw. Inklusionsbegriffs. Zwei Befürworter und Unterstützer der Integration waren Bettina Wurzel und Willibald Weichert, welche die Integrationsdebatte fortan stark prägten (ebd.). Wurzel setzte sich für ein übergreifendes und unabhängig vom Einzelfall anerkanntes didaktisches Konzept als Basis des heterogenen Sportunterrichts ein, explizit für den mehrperspektivischen Sportunterricht im gemeinsamen Unterricht von nichtbehinderten und behinderten SchülerInnen (Wurzel, 2001). Sie bilanzierte die einschlägigen Beiträge zu Beginn der Integrationsdiskussion seit etwa Mitte der 80er Jahre. Die allgemein hohe Wertschätzung der Integrationskraft des Sports, die Zuerkennung besonderer Integrationsleistungen des Sports sowie die Selbstverständlichkeit mit der diese dem Schulsport zugesprochen wurde, können als Kernaussagen ihrer Arbeit getroffen werden. Dem Sportunterricht wurde aufgrund günstiger Rahmenbedingungen, das heißt er sei weniger als andere Fächer reglementiert, sogar eine Vorreiterrolle in der fachbezogenen Integrationsdebatte zugeschrieben (Wurzel, 1991). Weicherts Beiträge und Überlegungen handelten von Quantität und Qualität des gemeinsamen Handelns behinderter und nichtbehinderter Menschen, die auf immer höhere Niveaus von Bewegungsbeziehungen und damit auch qualitativ höhere Stufen der Integration zielen. Ein guter Umgang mit Vielfalt und eine Abkehr vom kategorialen Denken sind nach derzeitiger didaktischer Auffassung fundamental. Nach Meinung der ExpertInnen (z.B. Tiemann, 2012) wird durch das Kategorisieren und das Zusprechen von bestimmten Defiziten eine Etikettierung der behinderten SchülerInnen veranlasst. Dabei wird aber oft übersehen, dass auch andere Kinder und Jugendliche der Regelschule Förderbedarf besitzen. So kann zum Beispiel auch ein sehr leistungsstarkes Kind besondere Bedürfnisse haben. Ein inklusiver Unterricht, der die individuellen Potentiale von allen SchülerInnen berücksichtigt, kann eine unglaubliche Bereicherung darstellen. So können Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund beispielsweise Sportspiele und Regeln aus ihren Kulturen einbringen oder ergänzen. Die Unterschiedlichkeit jedes Einzelnen sollte daher als Anregung und Bereicherung für die Lern- und Entwicklungsprozesse aller verstanden werden (Tiemann, 2012). In der Planung und Durchführung eines binnendifferenzierenden, methodisch-didaktisch reflektierten Sportunterrichts müssen die ungleichen physischen und motorischen Eigenschaften der Schülerinnen und Schüler genauso berücksichtigt werden, wie die individuellen motivationalen und kognitiven Voraussetzungen. Methodische Empfehlungen, die allein mit nur einer Vielfaltskategorie verbunden werden, sind demnach oft nicht ausreichend. Tiemann sieht eine positive Einstellung der Lehrperson als Schlüsselposition zum Gelingen von inklusivem Schulsport und weißt gleichzeitig auf die Bereicherung und positive Herausforderung von Unterricht mit vielfältigen SchülerInnen hin. Bundesweit wird bereits an Hochschulen und in Studienseminaren in beiden Phasen der SportlehrerInnenausbildung die Heterogenität schulischer Lerngruppen praxisnah vermittelt (Joeres & Seuser, 2012), wie z.B. an der Universität Leipzig, wo dies durch verschiedene Kurse in der Sportpädagogik geleistet wird. So wird die Thematik der Heterogenität in einem Modul der Sportdidaktik ausdifferenziert betrachtet und gestützt durch Praxisbeispiele den Sportstudenten vermittelt. Auch in Modulen der Bildungswissenschaften wird „Inklusion“ als Oberthema behandelt. Für die Umsetzung eines pädagogisch sinnvollen inklusiven Schulsports in der alle SchülerInnen einer Lerngruppe optimale Lernergebnisse in einem sozial befriedigenden Lernklima erreichen, müssen die benötigten personellen, räumlichen, materiellen und finanziellen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Aus sportdidaktischer Sicht sind in den letzten Jahren einerseits zweifellos Fortschritte hin zu einer Sportpädagogik der Vielfalt zu erkennen, beispielsweise die Entstehung und Fortführung eines gesamtsächsischen Inklusionssportfestes (Ausschreibung im Anhang 1), die Gründung der „AG Inklusion“ der Sportministerkonferenz im Jahre 2013 oder die Entstehung der „AG Handlungsempfehlungen zur Inklusion im Schulsport“ der KMK (SOD, 2014). Die beiden AGs verfolgen die Aufgabe der „Strategieentwicklung, Rollenklärung und die Koordination der Maßnahmen im Bereich Inklusion“ (ebd.). Andererseits müssen auch offene Fragen und Gefahren benannt werden, z.B. derzeitige ,Grenzen' der Inklusion sowie Konsequenzen aus dem Paradigmen- wechsel in der Sonderpädagogik.
Inklusion zu ermöglichen bedeutet, Barrieren weitestgehend vollständig abzubauen. Dabei sind keinesfalls nur räumliche (Zugangs) Barrieren gemeint, sondern gleichermaßen auch sprachliche Barrieren (Abgrenzung Integration-Inklusion), soziale Barrieren (wie Berührungsängste, Vorurteile, Diskriminierung), aufgabenbezogene Barrieren (z.B. im Hinblick auf 11 Sportarten, Spielabläufe, usw.) oder institutionelle Barrieren wie bestimmte Zugangsvoraussetzungen (etwa für die Mitgliedschaft in einem Verein oder für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt). Das sächsische Bildungs- und Schulsystem sieht sich in den nächsten Jahren mit einer großen strukturellen und finanziellen Weiterentwicklung bzw. Wandlung des Abbaus von Barrieren konfrontiert. Auf politischer Ebene führt die regierende CDU-Fraktion bis zur Gegenwart ein ambivalentes Verhältnis zum Inklusionsprojekt. Gleichsam hemmend wirkt die große Zufriedenheit mit den im Freistaat etablierten Förderschulen, welche in puncto Sachausstattung und Betreuungsmöglichkeiten tatsächlich, auf den ersten Blick die komfortablere Option bieten, beispielweise für Kinder mit Sinnesbehinderung (Lange, Kliese & Kluge, 2016). Diese Rahmenbedingungen stellen in vielen Schulformen noch erhebliche physische Barrieren dar, obwohl sie als „ein vergleichsweise einfacher Schritt auf dem Weg zur inklusiven Gesellschaft“ (Gaede, 2013) angesehen werden. Ulf Preuss-Lausitz weißt in seinem „Gutachten zum Stand und zu den Perspektiven inklusiver sonderpädagogischer Förderung in Sachsen“ (2011) auf viele Barrieren und damit verbundene derzeitige Grenzen von erfolgreichem inklusivem (Sport) Unterricht hin. Grundsätzlich hält er die realen politischen und bildungsstrukturellen Rahmenbedingungen für große Hindernisse. Die „inclusive education“ stellt einen Widerspruch zum gegliederten deutschen bzw. sächsischen Schulsystem dar und fordert mehr als eine Integration von SchülerInnen in Regelschulen bzw. Oberschulen. Mit dem im Aktions- und Maßnahmeplan formulierten Definition inklusiver Bildung folgt Sachsen nicht dem Verständnis von Inklusion, welche die UN-BRK vorgibt: Während die UN-Konvention fordert, alle Kinder, und nicht nur diejenigen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, in den Blick zu nehmen, fokussiert Sachsen seine Bemühungen zu inklusiver Bildung auf SchülerInnen mit Behinderungen. Gleichzeitig wird die Überzeugung ausgedrückt, das Schulsystem müsse differenzierend gestaltet sein. Zu dieser Überzeugung gehört auch eine grundsätzliche Absage an eine Abschaffung der Förderschulen (vgl. KMK, 2015). Ein Hauptproblem derzeitiger inklusiver Praxis, kann im Widerspruch von steigenden Inklusionsanteilen und gleichzeitig steigenden Förderquoten gefunden werden. Preuss- Lausitz (2011) sieht das „Dilemma der Problematik von Förderbedarfs-Zuschreibungen“ (S.35) als Grund dieser widersprüchlichen Entwicklung. Demnach verringerte sich Hemmschwelle für die Zuschreibung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs seit dem Wegfall einer verpflichtenden Überweisung in eine Förderschule, da SchülerInnen nicht mehr an Institutionen gebunden sind. Preuss-Lausitz sieht zudem die Einstellung zum Thema Inklusion, der sächsischen Lehrkräfte, welche ihren sonderpädagogischen Abschluss in der DDR ablegten, als kritisch und sieht es „sinnvoll, zumindest kurz auf bestimmte Struktur- und Theoriemomente zu verweisen, die als Barrieren für [...] Inklusion nachwirken“ (S.27). Die fehlende positive Überzeugung zum Gelingen der Inklusion „verbunden mit der Nach-Wende-Bereitschaft zur verstärkten Selektion, erklärt möglicherweise, dass heute in den neuen Bundesländern überdurchschnittlich häufig Kindern mit Auffälligkeiten im Lern- und Sozialverhalten mit dem Hinweis auf ihre Beeinträchtigung einerseits Förderbedarf zugeschrieben wird, andererseits sie weitgehend in Förderschulen überwiesen werden. Viele Lehrkräfte - der allgemeinen wie der Förderschulen -, aber auch manche Eltern, Schulärzte, Schulpsychologen und lokalen Medien haben möglicherweise Schwierigkeiten sich vorzustellen, dass innere Differenzierung lernwirksam für alle gestaltet werden kann.“ (Preuss-Lausitz, 2011, S.28-29)
Die Aus- und Weiterbildung der LehrerInnen für das sensible Thema der Inklusion ist eine Aufgabe bildungspolitischer Strukturen, um zentrale sonderpädagogische Kompetenzen und Kenntnisse zu vermitteln. Eichfeld (2011) kritisiert die Bemühungen des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus in seinem „Länderbericht Sachsen“. Der 2008 entstandene „Zertifikatskurs Integrativer Unterricht“ (ZINT), welcher einen zweijähriges Programm an Fortbildungen beinhaltet, sei „nicht mit ausreichender Nachhaltigkeit untersetzt. Konkret: Nach erfolgreichem Abschluss des Kurses bekommen die Lehrkräfte zwar ein Zertifikat aber die „neuen Integrations-Experten“ erhalten keinerlei Abminderungsstunden, Beratungsaufgaben (mit entsprechender Zusatzvergütung), keine Abordnungen, keine Aufwertungen, etc.“ (Eichfeld, 2011) Die gegenwärtige Fortbildungsphilosophie trägt demnach wenig zu einer konstruktiven Weiterentwicklung schulischer Inklusion in Sachsen bei. Die Ausbildungsstruktur von LehramtsanwärterInnen bezieht sich vor allem auf die Hochschule der Universität Leipzig und der Technischen Universität Dresden. 4339 angehende LehrerInnen, somit mehr als 50% aller Lehramtsstudenten, studieren an der Universität Leipzig und bilden den größten Anteil dieser Gruppe (SLS, 2014). Durch die LehrerInnbildungsreform, welche seit 2013 in Sachsen umgesetzt wird und zur Rückkehr in Staatsexamensstrukturen führte, bietet sich die „optimistische Chance“ (Eichfeld, 2011), dass verbindliche Lehrveranstaltungen zu inklusiven und/oder sonderpädagogischen Themen für alle Lehramtsstudenten angeboten werden. Die erste Phase der LehrerInnenausbildung war zuvor „kaum untersetzt mit konkreten verbindlichen integrativen/inklusiven Lehr-Lern-Inhalten“ (ebd.).
Als empirische Sozialforschung werden Untersuchungen bezeichnet, welche einen bestimmten Ausschnitt der sozialen Welt beobachten, um dadurch zur Weiterentwicklung von Theorien beizutragen. Dies geschieht, indem sie angeleitet von Theorien die soziale Realität be- obachten und aus den Beobachtungen theoretische Schlüsse ziehen. Je nach Forschungsgegenstand und Ziel einer Untersuchung kommen in der empirischen Bildungsforschung, wie auch in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, unterschiedliche empirische Forschungsmethoden zur Anwendung. Während quantitative Methoden für ein deduktives Vorgehen und eine Strategie stehen, die durch standardisierte Datenerhebungen und die Anwendung statistischer Tests auf diese Daten nach Kausalzusammenhängen sucht, wird mit qualitativen Methoden theoriegeleitet und induktiv nach Kausalzusammenhängen geforscht (Gläser & Laudel, 2010). Die Wahl der Untersuchungsmethode für diese Arbeit wird sich dem qualitativen Ansatz der mündlichen Befragung zu Nutze machen, da das Erkenntnisinteresse nicht auf numerische Ergebnisse zielt, sondern auf subjektive Einschätzungen, Meinungen und Haltungen von Personen, konkret LehrerInnen in Sachsen. Als Erhebungsmethode wird das leitfadengestützte Experteninterview genutzt, die Datenauswertung basiert auf der qualitativen Inhaltsanalyse aufbauend auf der von Mayring (2008) vorgeschlagenen Technik der Strukturierung. Die mündliche Befragung orientiert sich hierbei an einem thematischen Leitfaden, welcher dem Interview Struktur und Übersicht gibt. Die Reihenfolge und Gestaltung der Fragen sind flexibel und die Antwortmöglichkeiten der Interviewpartner uneingeschränkt. Durch diese Form des Interviews werden eine hohe Inhaltsvalidität und ein tieferer Informationsgehalt der Ergebnisse gesichert (Atteslander, 2008). Die Qualität der Forschungsergebnisse wird mittels Gütekriterien abgesichert. Mayring betont, dass die Gütekriterien immer den Methoden angepasst sein müssen und fasst sechs allgemeingültige Gütekriterien der qualitativen Sozialforschung zusammen: Verfahrensdokumentation, Argumentative Interpretationsabsicherung, Nähe zum Gegenstand, kommunikative Validierung, Regelgeleitetheit und Triangulation.
Die Stichprobenfindung in der qualitativen Forschung begleitet eine andere Rolle als die in der quantitativen Forschung. Während bei Forschungen mit Hilfe standardisierter Fragebögen eher die statistische Repräsentativität im Vordergrund steht, so ist bei der qualitativen, eher nichtstandardisierten Erhebung, die Relevanz der untersuchten Subjekte maßgeblich. Untersucht wird die inhaltliche Repräsentativität: Der Aspekt der Individualität spielt also eine größere Rolle (Mayer, 2009). Um Aussagen über die Inklusionsentwicklung im sächsischen Bildungssystem treffen zu können, wurden die Interviewpartner vorher per deduktivem Sampling (Fragebogen) ausgewählt, sodass eine inhaltliche Repräsentativität gewährleistet wird. Somit sind bereits Kenntnisse über Personen, die potentiell Informationen zur Fragestellung liefern könnten, vorhanden. Die Auswahl der Befragten wird aus dem theoretischen Vorwissen deduziert, so können gezielt die Personen ausgewählt werden, die dem Stichpro- 14 benplan entsprechen (Merkens, 1997). Die Datenerhebung zur Auswahl der LehrerexpertInnen fand in vier verschiedenen Schulen (drei Schulen im Landkreis Bautzen, eine im Landkreis Leipzig) im Zeitraum 13.01.2016 - 05.02.2016 statt. Zu den befragten Schulformen gehörten ein Gymnasium, eine Grundschule, eine Oberschule und eine Oberschule in freier Trägerschaft. Die LehrerInnen sollten bezüglich Schulform und Anzahl ihrer bisherigen Schuljahre variieren, jedoch beide Erfahrungen im Umgang mit SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf nachweisen und Fort- bzw. Weiterbildung zum Thema Inklusion absolviert haben. Eine Fokussierung auf die Schulformen der staatlichen Regelschulen und der privaten Sekundarschulen in Sachsen, ist damit zu begründen, dass eine Inklusionsentwicklung nur in einer Schule nachzuvollziehen ist, welche auch Integration/Inklusion aktiv betreiben kann. Alle Förderschularten fielen somit aus dem Suchraster für ExpertInnen heraus. Die konkrete Auswahl der beiden ExpertInnen erfolgte durch selbsterstellte Kriterien, welche durch folgende Eigenschaften gekennzeichnet sind:
- die Lehrkraft unterrichtet mindestens seit sieben Jahren an einer sächsischen Schule
- die Lehrkraft unterrichtet seit dem Schuljahr 2008/2009 ohne Unterbrechung als SportlehrerInn in einer Schule in Sachsen (schulartunabhängig)
- die Lehrkraft kann Erfahrungen mit dem Unterrichten von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf (Förderschwerpunkt Lernen, Sprache, emotional-soziale Entwicklung, geistige Entwicklung, etc.) im Unterrichtsfach Sport nachweisen
- die Lehrkraft hat so viele Fortbildungen wie möglich zum Thema „Inklusion“ besucht
Von 22 befragten sächsischen Lerhkräften erreichten drei Lehrpersonen den Expertenstatus. Zwei der Expertinnen unterrichten in einem Gymnasium, sodass eine Person dieser Schulform durch mich frei gewählt werden konnte. Der zweite Interviewpartner arbeitet an einer Oberschule in freier Trägerschaft.
Um einerseits die Durchführung und Auswertung der Interviews im vorgegebenen Rahmen einer Bachelorarbeit handhabbar und überschaubar zu halten, andererseits eine ausreichend große Menge an Daten und Informationen zu erhalten, wurde die Anzahl der geplanten Interviews auf zwei begrenzt. Die Datenerhebung wurde durch leitfadengestützte Experteninterviews erreicht. Die Interviews wurden zwischen 13.02.2016 und 2.03.2016 außerhalb der Arbeitszeit der Befragten durchgeführt. Die LehrerInnen wurden anfangs darüber informiert, dass zur Wahrung der Anonymität weder sie selbst noch ihr Arbeitgeber namentlich genannt würden. Ihre Zustimmung zur digitalen Aufzeichnung des Gesprächs mittels eines Diktiergeräts (Smartphone) wurde eingeholt. Zum Einstieg in das Thema wurde ihnen vor Beginn der Aufzeichnung die Grafik „Entwicklungsphasen der Sonderpädagogik“ (nach Indlekofer, 2013) vorgelegt und kurz erläutert. Die für die Untersuchung relevanten Leitfragen ergaben sich aus den zuvor aufgelisteten, unter 1.2 aufgeführten Kernfragestellungen F1 bis F3. So zielen die Fragen 4 bis 10 des Interviewleitfadens (vgl. Anhang 2) auf eine Beantwortung der F1, Frage 11 bis 14 auf F2, die Fragen 4 bis 16 erbringen ebenfalls mögliche Informationen zur F3. Mit den Fragen 1 bis 4 soll der Interviewpartner für das Thema sensibilisiert werden und gleichzeitig werden biographische Bezüge zum Thema Inklusion klar. Die beiden abschließenden Fragen 15 und 16 stellen den Zukunftsbezug resümierend durch subjektive Einschätzungen dar.
Tab. 2: Untersuchungsdesign
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
3.3 Methodenauswahl
Die Form des nichtstandardisierten Interviews, bei dem die interviewende Person das Gespräch mit einer vorüberlegten und vorbereiteten Liste offener Fragen führt, wurde deshalb gewählt, weil in einer solchen Interviewform mehrere unterschiedlichen Themengebiete zum Oberbegriff der „Inklusionsentwicklung im sächsischen Bildungssystem“ behandelt werden können, gleichzeitig können auf diese Art auch einzelne, genau bestimmbare Informationen erhoben werden (Gläser & Laudel, 2010). Der Befragte wird anders als bei biographischen Interviews nicht als Einzelfall, sondern als Repräsentant einer Gruppe (Lehrerkollegium) in die Untersuchung einbezogen. Dies schränkt die Bandbreite der potentiell relevanten Informationen, die der Befragte liefern soll, deutlicher als bei anderen Interviewarten ein. Dem Leitfaden kommt bei dieser Interviewform deshalb eine starke Steuerungsfunktion in Hinblick auf den Ausschluss unergiebiger Themen zu. Der Experte übernimmt „die spezifische Rolle des Interviewpartners als Quelle von Spezialwissen über die erforschenden Sachverhalte“ (ebd.). Zum Sachverhalt der Inklusionsentwicklung in Sachsen bekamen LehrerInnen ebenso einen Expertinnenstatus zugeordnet. Diese Zuordnung verlief nicht zufällig, sondern wurde durch einen Kriterien geleiteten Fragebogen (Anhang 3) ermittelt.
Gläser und Laudel haben ein Verfahren entwickelt, welches nicht nur Häufigkeiten analysiert, sondern die Extraktion komplexer Informationen aus Texten ermöglicht und dabei während des gesamten Analyseprozesses für unvorhergesehene informationen offen bleibt (vgl. Gläser & Laudel, 2010). Aus den theoretischen Vorüberlegungen und basierend auf den Fragestellungen über die Inklusionsentwicklung in Sachsen wird ein Suchraster in Form eines Kategoriensystems konstruiert. Hierbei wird eine gezielte Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen getroffen. Die gebildeten Kategorien und die zugeordneten Textbausteine werden zur Beantwortung der Forschungsfrage herangezogen. Die Extraktion der Informationen (Anhang 6) aus den zwei vorliegenden transkribierten Interviews erfolgte softwaregestützt mit MAXQDA 12.
MAXQDA 12 [Release 12.1.0)]
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Abb. 2: Codieren mittels MAXQDA12. Screenshot)
Über die „Liste der Codes“ wurde ein Kategoriensystem mit Codes und Subcodes erstellt und verwaltet. Die Oberkategorien wurden bereits beim Erstellen des Theorieteils der Arbeit vor der Durchführung der Interviews aus der Theorie heraus deduktiv entwickelt. Die Unterkategorien wurden dann später anhand des Interviewmaterials induktiv gebildet. Basierend auf den theoretischen Vorüberlegungen wurden zunächst folgende Codes festgelegt: biographisches, Veränderungen, Fort-Ausbildung und Inklusionspraxis. Während der Extraktion wurden die dazugehörigen Subcodes erstellt: Expertenstatus (biographisches), Gründe, all- gemein Schule, Schulsport (Veränderungen), Kollegium, persönlich (Fort- und Ausbildung), zukünftig, schulintern, Sportunterricht, Probleme und Barrieren (Inklusionspraxis). Eine zweite Schicht der Unterkategorie ergab sich aus dem Subcode Probleme und Barrieren mit den Codes ,Lösungsvorschläge' und ,Gründe'. Um das Verständnis der einzelnen Kategorien zu erleichtern und einen Überblick zu verschaffen, ist die Erstellung eines Kategoriensystems (Anhang 5) notwendig. Das System definiert die einzelnen Unter- und Oberkategorien und verdeutlicht dies durch ausgewählte Beispiele.
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