Bachelorarbeit, 2018
41 Seiten, Note: 1,0
1 Einleitung
2 Streicherklassen in Theorie und Praxis
2.1 Begriffsdefinition Streicherklasse
2.2 Ursprünge und Entwicklung des Streicherklassenunterrichts in Deutschland
2.3 Arbeit mit Streicherklassen
2.3.1 Didaktische Methoden und Prinzipien
2.3.2 Herausforderungen für Lehrpersonen
2.4 Beispielhafte Vorstellung relevanter Streicherschulen
2.4.1 „Alles für Streicher“ Band 1 und 2; Neil A. Kjos Music Co (Verlag); 2007; Gerald E. Anderson, Robert S. Frost
2.4.2 Leitfaden Streicherklasse. Schülerheft von Martin Müller Schmied, Ute Adler; Helbling Verlag;
2.4.3 Kurzer Vergleich und Zwischenfazit
2.5 Unterrichtsmodelle aus der Praxis
2.5.1 Drei-Jahres-Modell Maria-Ward-Gymnasium München
2.5.2 Wahlunterricht Ludwig-Uhland-Grundschule Langenau
2.5.3 Vergleich der Modelle
3 Fazit und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Seit Jahren gehören jegliche Arten von Musikplattformen zu unseren alltäglichen Begleitern und sind für die meisten Menschen kaum noch wegzudenken. Ob man sich nun für ein monatliches Entgelt Zugang zu Amazon Music oder Spotify erkauft oder das kostenlose, vielfältige Angebot an Musik durch YouTube wahrnimmt, der Zugang zu einer nahezu unbegrenzten Menge an alter und neuer Musik ist fast jeder Person unseres Kulturkreises möglich. Bereits Kleinkinder können z.B. durch die App YouTube Kids auf altersgerechte Musik zugreifen. Im Gegensatz dazu ist die Barriere, selbst zu musizieren, hoch und eine musikalische Ausbildung genießen zu dürfen bleibt vor allem bildungsärmeren Schichten verwehrt. Nach Claudia Spahn1 musizieren lediglich 17% der deutschen Bevölkerung selbst. Um die gesellschaftlichen Wertvorstellungen gegenüber der klassischen Musik im Allgemeinen langfristig zu verändern und die Jugendbewegung zu mobilisieren, veranstalten viele Berufsorchester mittlerweile Workshops und Konzerte, um Kinder und Jugendliche für Musik, aber auch für den Beruf zu begeistern.
Neben diesen Initiativen lässt sich in den letzten Jahren ein stetiges Wachstum des Angebots von Musikklassen in unterschiedlichen Arten und Formen verzeichnen. Dieses steigende Angebot hat als Ursache den Trend, seine Kinder wieder vermehrt musikalisch ausbilden zu lassen.
Davon profitieren vor allem die vielfältigen Modelle der Streicherklassen, seien es in Form von Klassenunterricht, als Kooperation mit Musikschulen, als Initiative von Musikschulen und viele mehr. Dass das Angebot an Streicherklassen stärker als zuvor ansteigt, führt auch Katharina Bradler aus: „Die Jahre nach der Jahrtausendwende kennzeichnen einen großartigen quantitativen Aufschwung: es wurden kontinuierlich neue Streicherklassen gegründet. Die statistischen Daten weisen einen stetigen Anstieg nach, im besonderen Maß seit ca. 2005“2.
Trotz dieser Prosperität gibt es bis heute kaum verwertbare Literatur, welche sich ganzheitlich mit dem Thema auseinandersetzt und einen Überblick über die verschiedenen Konzeptionen von Streicherklassen schafft. Das liegt mitunter daran, dass das Thema an Universitäten nicht oder nur kaum präsent ist. Dadurch können Vorurteile und Vorbehalte von Lehrenden, wie z.B. die gängige Meinung, zielbringender Instrumentalunterricht sei nur in Einzel- oder Zweiergruppen möglich, nicht oder nur schwer abgebaut werden. Auch Eltern haben so Schwierigkeiten, sich über die verschiedenen Möglichkeiten und Konzepte von Streicherklassen hinreichend zu informieren.
Ziel dieser Arbeit ist es also, Musikpädagogen und Interessierten einen Querschnitt über das Thema Streicherklasse sowie angewandten Modellen aus der Praxis zu geben, diese kurz zu vergleichen und damit eine Perspektive neben den beiden gängigen Säulen Orchester und Privatunterricht in einer Musikschule oder als Selbstständiger zu eröffnen. Insbesondere soll diese Arbeit die Perspektiven der Lehrenden hinsichtlich der Potentiale beleuchten.
Neben der Begriffsdefinition der Streicherklasse wird zu Beginn dieser Arbeit die Entstehungsgeschichte erläutert. Anschließend wird auf die Arbeit mit Streicherklassen in Bezug auf Didaktik und Methodik eingegangen. Hieraufhin werden zwei unterschiedliche Schulen und zwei Unterrichtsmodelle näher betrachtet. Abschließend wird ein Fazit gezogen und ein kurzer Ausblick auf die Zukunft der Streicherklasse gegeben, abgerundet durch Wünsche und Anregungen der Interviewten. In den drei geführten Interviews wurden dem Musikschulleiter der Musikschule Langenau J. Sziel, dem Schulleiter des Maria-Ward-Gymnasiums Dr. H. Gruber und der Leiterin der Streicherklassenabteilung an dem Maria-Ward Gymnasium M. O’Reilly vorher ausgearbeitete Fragen gestellt. Im Rahmen der Interviews geben sie Auskünfte hinsichtlich ihrer Arbeit, den Modellen und Erfahrungen sowie Wünschen und Kritikpunkten.
Streicherklassen sowie Bläser- und Chorklassen gehören seit Jahrzehnten zum Schulalltag in Deutschland. Immer mehr Schulen bieten diese Art, ein Instrument zu erlernen, in den verschiedensten Formen und Konzepten an. Dabei ist zu erwähnen, dass Streicherklassen nicht erst in den letzten Jahren, sondern in abgewandelter Form bereits im 15. Jahrhundert aufgekommen sind. Neben Deutschland entwickelten sich Streicherklassen auch in den USA und England, jedoch unter anderen Voraussetzungen und mit anderen Zielen. Häufig wird in diesem Zusammenhang auf Paul Rolland und sein Illinois String Research Project an der University of Illinois in den 1970er Jahren verwiesen3, welcher im Volksmund unter Pädagogen als einer der Begründer der Streicherklassen gilt. In England entstanden Vorstufen der Streicherklasse bereits im 19. Jahrhundert. Diese Violinklassen gehörten dem sogenannten Maidstone Movement an4. Die Geschichte, wie auch alle Formen der Ausprägung, Umsetzung und Interpretation, ebenso wie Unterrichtsmaterialien und -schulen, ist ein bisher wenig beleuchtetes und sehr großes Gebiet. Im Folgenden werden einige dieser Punkte erläutert, zusammengefasst, verschiedene Modelle, Konzepte und Unterrichtsschulen vorgestellt und verglichen, um Lehrenden wie auch Eltern, Schülerinnen, Schülern und Interessierten einen Einblick in die Arbeit mit Streicherklassen geben zu können.
Im Allgemein lässt sich feststellen, dass es zumeist zwei Hauptbegrifflichkeiten gibt, mit denen Pädagogen und Lehrende, aber auch Schülerinnen und Schüler in Berührung kommen. Neben dem Begriff „Streicherklassenunterricht“ wird auch der Begriff „Klassenmusizieren mit Streichinstrumenten“ häufig verwendet5. Klassenmusizieren wird im Allgemeinen als Überbegriff für etwaiges Musizieren im Rahmen des schulischen Wahlpflicht-, Pflicht-, oder Kursunterrichts definiert. Dieser beinhaltet also verschiedene Formen und Konzepte sowie methodische und didaktische Ansätze. Wahlpflichtunterricht bedeutet, dass man aus einem bestimmten Fachbereich, in diesem Fall Musik, aus verschiedenen Lehrangeboten eines auswählen muss. Dies impliziert, dass man nicht die Wahl hat, ob man an angebotenen Musikklassen teilnehmen möchte, sondern lediglich, welche der Möglichkeiten man auswählt, also Streicher-, Bläser- oder Chorklasse. Pflichtunterricht legt im Vorhinein fest, dass Streicherklassenunterricht belegt werden muss, da es denselben Stellenwert einnimmt wie Mathematik- oder Deutschunterricht und somit von jeder Schülerin und jedem Schüler besucht werden muss. Unter dem Begriff Kursunterricht versteht man im Allgemeinen Unterricht, der außerhalb und meistens nach der Schule angeboten wird, frei gewählt werden kann und nicht belegt werden muss.
Streicherklassenunterricht oder Klasseninstrumentalunterricht hingegen beschreibt ausschließlich Unterricht, welcher im Rahmen des normalen Pflichtunterrichts an allgemeinbildenden Schulen stattfindet. Dieser wird mit dem Ziel unterrichtet, ein Instrument aus der Familie der Streichinstrumente systematisch und über einen längeren Zeitraum zu erlernen. Dieses Angehören zur selben Instrumentenfamilie ist besonders wichtig, da es sich beim Streicherklassenunterricht nicht um Ensemblespiel, sondern um Anfängerunterricht im Klassenverband handelt.
An diesem Vorgehen hat sich auch über den Zeitraum der letzten 600 Jahre kaum etwas verändert. Dies wird im folgenden Kapitel näher betrachtet.
Erste Aufzeichnungen, in denen Instrumentalunterricht beschrieben ist, finden sich bereits im 15. Jahrhundert. Dieser fand, wie auch später im 16. und 17. Jahrhundert, hauptsächlich an allgemeinbildenden Schulen statt. Zu dieser Zeit war Instrumentalunterricht ausschließlich den höheren Ständen Klerus und Adel vorbehalten und somit der breiten Masse von Bauern und später auch Bürgern verwehrt geblieben. Der Unterricht war zu diesem Zeitpunkt in die kirchliche Tradition eingebunden und diente dem kirchlichen Zwecke.6
Besonders ausgeprägt und häufig fand dieser erste Klassenunterricht in bayerischen und württembergischen Klosterschulen statt, in welchen Orchester und Ensembles gebildet wurden, um die Regeln und Inhalte der Kirchenmusik zu erlernen und in Gottesdiensten und Festivitäten mitzuwirken. Außer der Tatsache, dass dieser Unterricht stattgefunden hat, sind genauere Unterrichtsinhalte nicht überliefert, wodurch die genaue Umsetzung bis heute im Dunkeln liegt.
Mit dem Aufkommen der bürgerlichen Musikkultur im 18. sowie 19. Jahrhundert verlagerte sich der Instrumentalunterricht vom ausschließlich kirchlichen Zweck auf den außerschulischen Bereich und wurde somit unabhängig vom Klerus. Es fand zunehmend Privatunterricht statt, sodass durch diese Abkopplung erstmals der Beruf des Instrumentallehrers in Erscheinung trat.
„Instrumentaler und vokaler Musikunterricht […] [fand] in immer zahlreicher sich ausbreitenden privaten und öffentlichen Musikinstituten, Musikschulen und Konservatorien statt“7.
Kooperationsprojekte und die darauffolgende Durchführung von Gruppeninstrumentalunterricht waren bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst Einzelerscheinungen, führten jedoch mit zunehmendem Wachstum zur Weiterentwicklung der Musik- und Instrumentalpädagogik. Im 20. Jahrhundert verlagerte sich der Schwerpunkt. Ausgelöst durch unter anderem den ersten Weltkrieg und der Suche nach neuen Erziehungsmodellen, entwickelte sich die Instrumentalpädagogik von dem Streben nach Perfektion in der Musik hin zu dem Ziel einer fundierten musischen Ausbildung und dem Spaß am Musizieren. Hier soll Leo Kestenberg mit seiner sogenannten Kestenbergreform erwähnt sein8, der mit seinen Reformbestrebungen die bisherige Musikkultur erneuern wollte. Sein Ziel war es, jedem Kind eine umfangreiche musikalische Ausbildung zukommen zu lassen, die Persönlichkeit und die Gemeinschaftsfähigkeit auszubilden und zu fördern. Die steigende Professionalisierung der Musiklehrer, Schulmusiker und Privatlehrer führte 1923 schließlich, neben dem Anstieg des Instrumentalunterrichts, zur Gründung der ersten Musikschule für Jugend und Volk. Ins Leben gerufen wurde sie von Fritz Jöde.
Während des Nationalsozialismus stieg der Bedarf an Instrumentallehrenden weiter an, welche außerhalb und innerhalb der Schule eingesetzt wurden. Hauptsächlich wurde der Unterricht von Streichinstrumenten und Volksinstrumenten gefördert, dabei wurde der Unterricht häufig in Gruppen abgehalten. In dieser Zeit entstanden 50 weitere Musikschulen, in welchen neben instrumentalem Gruppen- auch Einzelunterricht stattfand9.
Nach Ende des Nationalsozialismus blieben die meisten Musikschulen erhalten, auch die Inhalte des Faches Musik blieben die gleichen und man versuchte an die Kestenbergreform anzuschließen. Die Entwicklung der Jazz-, Pop- und Rockkultur führte in den kommenden Jahren zum Auseinanderklaffen zwischen den Präferenzen im außerschulischen Bereich und dem Musikunterricht in der Schule. Dies wiederum hatte in den 70er Jahren eine Aufbruchsstimmung in der Pädagogik zu Folge, aus der sich eine Fülle von unterschiedlichen Konzepten bildeten. Mit der Neukonzeption des Unterrichts, welche vom Deutschen Bildungsrat im Strukturplan für das Bildungswesen festgelegt wurde10, bemühte man sich um Chancengleichheit, sodass Schüler unabhängig von ihrer Herkunft ein Instrument erlernen konnten. Dieser Gedanke und die Tatsache, dass die Gesamtschule im Rahmen der Konzeption in Tagesschulen umgewandelt wurde, bot einmal mehr die Gelegenheit, den Instrumentalunterricht in den Schulalltag mit einzubinden. Die dauerhafte Trennung von Instrumentalunterricht und schulischem Musikunterricht war unter diesen Umständen nicht länger haltbar. Jedoch zeigte sich, dass Vorstellung und Umsetzung in diesem Punkt weit auseinanderklafften. Neben Lehrermangel fehlten zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich fundierte Konzepte für den instrumentalen Gruppenunterricht. Trotz des schleppenden Anlaufens der Zusammenarbeit von Schulen und Musikschulen vermehrten sich die Meinungen, dass beide Institutionen dauerhaft enger vernetzt werden und zusammenarbeiten sollten.
In den 1970er bis 1990er Jahren entstanden unterschiedliche Ansätze des aktiven Musizierens im Klassenverband, Vorreiter waren hier Ulrich Günther und Thomas Ott, die 1978 einen ersten Versuch unternahmen. Erste reine Streicherklassen entstanden in der 1990er Jahren in Deutschland. Die eigentliche Einführung der Streicherklasse lässt sich zeitlich auf das Jahr 1991 datieren, beginnend mit dem Pilotprojekt der Akademie der Musikpädagogik, betreut von Donald Miller und Bernd Zingsem11.
In der Arbeit mit Streicherklassen erwartet den Instrumentallehrenden zumeist eine große Gruppe von bis zu 30 Schülerinnen und Schülern. Eine heterogene Gruppe dieser Größenordnung ist für die meisten Lehrenden noch eine Seltenheit und gehört bei den Wenigsten zum Berufsalltag. Neben den einzelnen Individuen, welche sich besonders im Jugendalter in sehr unterschiedlichen Entwicklungsstadien befinden, muss der Lehrende nicht nur die Fähigkeit besitzen, auf Einzelne einzugehen, sondern auch mit vorhandenen Gruppendynamiken und -strukturen umzugehen wissen. Weiterhin ist in der Arbeit mit Streicherklassen die Fähigkeit, mehrere oder möglichst alle Streichinstrumente zumindest in ihren Grundzügen spielen zu können, von Vorteil.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Prinzipien der Rolland-Methode
Basierend auf Paul Rollands Streicherklassenkonzept und seinen Grundprinzipien, siehe hierzu auch „Abbildung 1: Prinzipien der Rolland-Methode“12, entwickelten sich verschiedene Methoden und Prinzipien, welche bis heute Anwendung in der Praxis finden. Eine der relevantesten Methoden ist das sog. Team Teaching. Hierbei unterrichten mindestens zwei Lehrkräfte eine Klasse. Dies bewährte sich nach O’Reilly in den letzten Jahren. „Der Vorteil bei dieser Methode besteht darin, jedem Schüler ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Betreuung zukommen zu lassen“13.
Um im Vorhinein definierte Inhalte und Ziele (wie beispielsweise eine Aufführung oder ein Konzert) mit bestimmten Musikstücken zu erreichen, ist Paul Rollands „Prinzip der Kleinschrittigkeit“ von wesentlicher Bedeutung, ergänzend hierzu kann auch „Abbildung 1: Prinzipien der Rolland-Methode“ betrachtet werden. Durch die feingranulare Vermittlung von Lerninhalten wird jeder Schülerin und jedem Schüler das Vorankommen in der Gruppe ermöglicht. „Wichtig ist, dass die Schüler durchgehend in das Unterrichtsgeschehen einbezogen werden“14.
Besonders zu Beginn der Ausbildung im Streicherklassenunterricht nimmt das Klavierspiel eine zentrale Rolle ein. Aufgrund der wenigen Fertigkeiten am jeweiligen Instrument ist eine ausdrucksvolle und lebendige Begleitung durch das Klavier von großer Bedeutung. Um Langeweile auf Seiten der Schüler vorzubeugen, welche durch einfache Stücke z.B. auf der leeren Saite entstehen kann, ist es möglich mit virtuosen Begleitmelodien das gesamte Stück lebendiger zu gestalten15.
Die Kodály-Methode der relativen Solmisation bietet eine gute Ergänzung zu den etablierten Rolland-Prinzipien. Dabei werden die Tonstufen auf bestimmte Silben gesungen und von gewissen Haltungen der Hand begleitet, dies ist zur Veranschaulichung auch in „Abbildung 2: Handzeichen Solmisation“16 graphisch dargestellt. Dadurch sind sowohl haptische, als auch visuelle und auditive Erfahrungen in den Lernprozess eingebunden. Durch den vielfältigen Einsatz unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen können die vermittelten Lerninhalte schneller aufgenommen und langfristig abgespeichert werden17.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Handzeichen Solmisation
Zusammengefasst helfen, neben den in diesem Kapitel vorgestellten, viele weitere Methoden und Prinzipien dem Lehrenden bei der Vermittlung des Unterrichts, ebenso wie den Kindern, indem sie diesen das Lernen erleichtern, die Inhalte vertiefen und im Allgemeinen den Unterricht ansprechend und motivierend gestalten.
Die verschiedenen Aspekte, welche für Lehrpersonen Herausforderungen darstellen, lassen sich relativ einfach unter dem Begriff „Individualität“ zusammenfassen. Die Schülerinnen und Schüler in einer Streicherklasse haben unterschiedliche Begabungsschwerpunkte, darunter die Fein-/ Grobmotorik und die Auffassungsgabe, wie auch Interessensschwerpunkte. Bedingt durch die unterschiedlichen Entwicklungsstände innerhalb einer Klasse, welche heutzutage sehr divergent ausfallen, werden dem Lehrerteam ein gutes pädagogisches Gespür für den Einzelnen und seine Persönlichkeit, die Gruppe und entstehende Gruppendynamiken abverlangt. Auf alle Schülerinnen und Schüler sollte eingegangen werden, ohne jedoch andere zu vernachlässigen, sowohl in der Einzelwahrnehmung, als auch generell durch Unterbeschäftigung. Besonders hervorzuheben ist die Problematik, dass musikalische Vorkenntnisse, z.B. durch musikalische Früherziehung oder das Erlernen eines Instruments, oftmals nicht vorhanden sind und in Folge dessen differente Ausbildungsstände vorliegen. Während der zwei- oder dreijährigen Ausbildung und fortschreitender Ausbildungszeit vergrößert sich die Schere zwischen jenen, die ihre musikalischen und instrumentalen Kenntnisse und Fähigkeiten weiter ausbauen und jenen, die trotz der Dauer keine signifikanten Fortschritte erzielen können. Ungeachtet des auf Dauer immer größer werdenden Gefälles ist es die Aufgabe des Lehrkörpers, jede Schülerin und jeden Schüler weiterhin in die Gruppe zu integrieren, diese jedoch in ihrer Gesamtheit stetig voran zu bringen. Erschwert wird diese Arbeit durch häufig fehlende oder kaum vorhandene Grundkenntnisse der Gruppenunterrichtspädagogik auf Seiten der Lehrenden. „Die Ohren müssen immer offen sein, die Augen sollten alles sehen“ ist dabei das Credo von Michelle O’Reilly18.
Soziale Kompetenzen wie die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion, als auch die Fähigkeit von Selbstverantwortung und Eigeninitiative sind neben Flexibilität, Belastbarkeit und Durchhaltevermögen essentiell. Obwohl Musik häufig als eigene Sprache bezeichnet wird, sind zwischenmenschliche Kommunikationsformen und -fähigkeiten aufgrund der komplexen Abstimmungsprozesse zwischen den Lehrenden von fundamentaler Bedeutung. Das gemeinsame Lernen („die Sache“), das Individuum („der Einzelne“) und die Gruppe („das Wir“) sollen nach dem von Ruth Cohn 1975 entwickelten Konzept „Gruppensystem der Themenzentrierten Interaktion (TZI)“ im Gleichgewicht sein19.
Um die zuvor beschriebenen Konflikte beziehungsweise Herausforderungen lösen zu können ist ein hohes Maß an Toleranz, Offenheit und Kritikfähigkeit vonnöten. Ebenso sind die Fähigkeit zu empathischem Verhalten sowie Einfühlungsvermögen, um konstruktive, jedoch nicht angreifende Kritik zu äußern, wichtige Qualifikationskriterien. Nach den didaktischen Methoden und Prinzipien und den möglichen Herausforderungen für Lehrende ist ein weiterer essentieller Aspekt die Betrachtung von möglichen Lehrmaterialien. Diese werden im folgenden Kapitel behandelt.
Streicherschulen gehören zu den persönlichen Begleitern auf dem Weg, ein Instrument zu erlernen. Die Veranschaulichung der korrekten Haltung, das Vermitteln von musiktheoretischen Grundlagen und in der Schwierigkeit stetig steigende Stücke sind wesentliche Inhalte, die eine Streicherschule in der Regel vermitteln sollte. Im Laufe der Jahre veröffentlichten eine Reihe von Pädagogen Unterrichtsschulen, sodass heute auf ein breites Spektrum verschiedenster Werke zurückgegriffen werden kann.
Im Folgenden werden zwei ausgewählte Unterrichtsschulen hinsichtlich ihres Aufbaus, der Inhalte und der Darstellung betrachtet, gefolgt von einem kurzen Vergleich und einem Zwischenfazit.
Die erstmals im Jahr 1985 erschienene Streicherschule „Alles für Streicher: eine umfassende Streicherschule“ der Autoren Gerald E. Anderson und Robert S. Frost gehört zu den frühen Unterrichtswerken der Streicherklassen-Pädagogik. Betrachtet wird hierbei die deutschsprachige Zweitauflage aus dem Jahr 1996. Neben diesem Schülerheft für alle vier Streichinstrumente wurden außerdem ein Klavier-Begleitheft mitsamt den Partituren zu den Stücken und ein Theoriearbeitsheft veröffentlicht.
Das Erscheinungsbild des Heftumschlags ist durch Detailphotografien von Streichinstrumenten in der Mitte des Deckblattes ästhetisch und ansprechend gestaltet. Auf der Rückseite werden mögliche ergänzende Werke des Autors Robert S. Frost präsentiert, welche sich gut in den fortlaufenden Unterricht einbinden lassen.
Aufgrund des Fehlens einer Gliederung kann sich der Lehrende oder der Spielende keinen Überblick über das Werk und seinen Aufbau zu verschaffen. Auffällig ist, dass die Streicherschule nicht in Kapitel oder erkennbare Lektionen unterteilt ist, sondern lediglich eine Durchnummerierung aller Lieder und Übungen vorgenommen wurde, wobei sich mit steigender Nummer der Schwierigkeitsgrad erhöht.
Die optische Darstellung der Inhalte beschränkt sich auf schlichten schwarz-weiß – Druck mit wenigen rot hinterlegten Merkfeldern. Verwendete Bilder zur Veranschaulichung sind ebenfalls in schwarz-weiß gehalten. Das Gesamterscheinungsbild ist dadurch wenig ansprechend.
Zu Beginn werden Pflege und Teile des jeweiligen Instruments erläutert, gefolgt von Grundlagen der Musiktheorie. Nachteilig zu sehen ist die Tatsache, dass nach Einführung der leeren Saiten zu wenige Lieder vorhanden sind, bevor die Arbeit mit den Fingern der linken Hand beginnt. Auch hier sind auffallend wenige Übungen und Stücke aufgeführt. In der Praxis zeigte sich, dass gerade für größere Gruppen eine Vielzahl an Übungen notwendig ist, um jeder Schülerin und jedem Schüler ausreichend Gelegenheit zum Erlernen der neuen Fähigkeiten zu geben. Dementsprechend ist bei Verwendung der Streicherschule eine Ergänzung um weitere Materialien, insbesondere um abwechslungsreiche Orchesterstücke, erforderlich. Hinweise und Arbeitsaufträge erinnern zwischen einzelnen Stücken, markiert durch Sternchen, den Spielenden an verschiedene Gepflogenheiten oder geben ihm Aufgaben zur Theorie. Durch eine kleinere Schriftgröße sind diese jedoch relativ unauffällig und werden erst bei genauer Betrachtung der einzelnen Seiten sichtbar. Damit regen diese kaum zum eigenständigen und kreativen Umgang mit der Streicherschule an. Ein Auszug aus diesem Schülerheft ist auch in „Abbildung 3: Auszug aus „Alles für Streicher““ zu sehen20.
Trotz dieser teilweise negativen Aspekte ist festzuhalten, dass aufgrund der strukturierten und verständlichen Ein- und Fortführung, besonders in Bezug auf die Vermittlung der theoretischen Inhalte, alle Schülerinnen und Schülern bei ihrem individuellen Wissensstand einsteigen und eine gute Grundlage aufbauen können.
Für das Unterrichtswerk „Streicherklasse“, verfasst von Ute Adler und Martin Müller Schmied und im Jahre 2017 erstmals veröffentlicht, wurden zum ersten Mal digitale Medien in ein analoges Werk miteinbezogen. Durch die online verfügbaren Hörbeispiele und Lehrvideos wird die voranschreitende Entwicklung der Digitalisierung aufgegriffen und die Schülerinnen und Schüler in den ihnen vertrauten Medien angesprochen und damit zur Nutzung animiert.
Das Deckblatt erscheint in einem kräftigen Orange mit einem Bild eines jungen Musikers, auf der Rückseite findet sich ein Text, welcher die Kinder direkt anspricht und Vorfreude auslösen soll.
[...]
1 Vgl. Spahn, Claudia: Musikergesundheit in der Praxis: Grundlagen – Prävention – Übungen, in: Henschel Verlag, Leipzig 2015, S. 93 ff.
2 Vgl. Spahn, Claudia: Musikergesundheit in der Praxis: Grundlagen – Prävention – Übungen, in: Henschel Verlag, Leipzig 2015, S. 117
3 Verband deutscher Musikschulen: Musikbetonte Grundschule – Modelle für Kooperationen, 15.05.2009, https://www.musikschulen.de/medien/doks/mk09/AG%209.pdf. Zugriffsdatum: 30.06.2019.
4 Deverich Robin K: The Maidstone Movement – Influential British Precursor of American Public School Instrumental Classes, 01.04.1987, https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.2307/3345167. Zugriffsdatum: 25.06.2019.
5 Vgl. Bradler, Katharina: Streicherklassenunterricht: Geschichte - Gegenwart - Perspektiven, in: Wißner, hrsg. Von Rudolf-Dieter Kraemer, Forum Musikpädagogik Band 127, Augsburg 2014, S. 136 ff.
6 Vgl. Roske, Michael: Umrisse einer Sozialgeschichte der Instrumentalpädagogik, in: Bärenreiter, hrsg. Von Richter, Christoph: Instrumental- und Vokalpädagogik 1: Grundlagen, 1993, S. 163
7 Vgl. Pfeffer, Martin: Zur Geschichte des Ensemblespiels in allgemeinbildenden Schulen, in: Wißner, hrsg. Von Rudolf-Dieter Kraemer/ Wolfgang Rüdiger: Ensemblespiel und Klassenmusizieren in Schule und Musikschule. Ein Handbuch für die Praxis, Forum Musikpädagogik Band 41, Augsburg 2005, S. 14
8 Vgl. Kestenberg, Leo: „Gesammelte Schriften“, in: Rombach, hrsg. von Wilfried Gruhn, Freiburg 2009
9 Vgl. Stumme, Wolfgang: Die Musikschule im 20. Jahrhundert – Bericht eines Zeitzeugen, in: Möseler, hrsg. Von Karl-Heinz Reinfandt: Die Jungendmusikbewegung. Impulse und Wirkungen, Wolfenbüttel/Zürich 1987, S. 256
10 Academic dictionaries and encyclopedias: Strukturplan für das Bildungswesen, o.J., https://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/1340222. Zugriffsdatum: 30.06.2019.
11 Vgl. Bradler, Katharina: Streicherklassenunterricht: Geschichte - Gegenwart - Perspektiven, in: Wißner, hrsg. Von Rudolf-Dieter Kraemer, Forum Musikpädagogik Band 127, Augsburg 2014, S. 64 ff.
12 Klasse(n)Streicher e.V.: Rolland-Methode, o.J., http://www.streicherklassen.de/rolland_methode.html. Zugriffsdatum: 15.07.2019.
13 Antwort v. O’Reilly Michelle, Maria-Ward-Gymnasium, Leiterin Streicherklassen: Streicherklassen im Interview v. 12.06.2019
14 Antwort v. O’Reilly Michelle, Maria-Ward-Gymnasium, Leiterin Streicherklassen: Streicherklassen im Interview v. 12.06.2019
15 Bradler, Katharina: Streicherklassenunterricht: Geschichte - Gegenwart - Perspektiven, in: Wißner, hrsg. Von Rudolf-Dieter Kraemer, Forum Musikpädagogik Band 127, Augsburg 2014, S. 128 ff.
16 St. Jakobus Haus: Mit Stimme und Bewegung zu musikalischen (Selbst)Bewusstsein: Eine Einführung in die Solmisation, 2017, https://www.jakobushaus.de/sites/default/files/content/2017_Stimme.pdf. Zugriffsdatum: 22.07.2019.
17 Bradler, Katharina: Streicherklassenunterricht: Geschichte - Gegenwart - Perspektiven, in: Wißner, hrsg. Von Rudolf-Dieter Kraemer, Forum Musikpädagogik Band 127, Augsburg 2014, S. 220 ff.
18 Persönliche Mitteilung v. O’Reilly Michelle, Maria-Ward-Gymnasium, Leiterin Streicherklassen: Streicherklassen im Interview v. Juni 2019
19 Spahn, Claudia: Musikergesundheit in der Praxis: Grundlagen – Prävention – Übungen, in: Henschel Verlag, 2015, S. 85
20 stretta music (1): Alles für Streicher 1, o.J., https://www.stretta-music.com/anderson-frost-alles-fuer-streicher-1-nr-137515.html. Zugriffsdatum: 22.07.2019.
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