Bachelorarbeit, 2018
45 Seiten, Note: 1,3
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Theoretische Grundlagen
2.1. Zentrale Begriffe
2.2. Zweitspracherwerbstypen
2.3. Hypothesen zum Zweitspracherwerb
2.3.1. Kontrastivhypothese
2.3.2. Identitätshypothese
2.3.3. Interlanguagehypothese
2.3.4. Kontruktivismus
2.3.5. Konnektionismus
2.3.5.1. Modell der Sprachganzheit
3. Sprachförderung durch Literacy-Erfahrungen
3.1. Literacy (Erziehung)
3.2. Literacy und Vorlesen
3.3. Dialogisches Lesen
3.3.1. Methode
3.3.2. Sprechgestaltung
3.3.3. Dialogisches Lesen mit mehrsprachigen Kindern
4. Die prosodische Sprechgestaltung
4.1. Die Bedeutung der Stimme
4.2. Personaler Sprechstil im pädagogischen Kontext
4.3. Prosodie
4.3.1. Merkmale der Prosodie
4.3.2. Komponenten der Prosodie
4.4. Die kommunikativen Funktionen der Prosodie beim Vorlesen
4.4.1. Linguistische Funktion
4.4.2. Expressive Funktion (Involviertheit)
4.4.3. Strukturierende Funktion (Strukturierung)
4.4.4. Pragmatische Funktion (Partnerorientierung)
4.5. Sprachförderung beim Vorlesen durch prosodische Gestaltung
5. Zusammenfassung und Fazit
Literaturverzeichnis
DaZ - Deutsch als Fremdsprache
DBL - Dialogisches Bilderbuchlesen
Kinder brauchen Kinderbücher. Sie brauchen Bücher für ihre kognitive, emotionale und sprachliche Entwicklung (vgl. Apeltauer 2012, S. 8). Literale Sprache enthält ein reiches Sprachangebot und ist somit für die sprachliche Entwicklung eines Kindes unumgänglich. Dabei nimmt das Vorlesen eine besonders tragende Rolle ein. Erwachsene, Eltern sowie pädagogische Fachkräfte, können durch ihre Sprechgestaltung während des Vorlesens auf die sprachliche Entwicklung des Kindes Einfluss nehmen, denn „es ist die menschliche Stimme, die Literatur zu allererst für Kinder interessant macht“ (List 2015, S. 37).
Ausgehend von dieser Hypothese soll es sich bei dieser Arbeit um die Bedeutung der Stimme bzw. der Sprechgestaltung beim Vorlesen von Kinderbüchern handeln. In vielen Spracherwerbstheorien wird davon ausgegangen, dass die menschlichen Stimmen den Ausgangspunkt für den kindlichen Spracherwerb bilden. Dies lässt sich auch in die Welt der Literatur übertragen.
Dem Erwerb früher Schriftsprachkompetenzen wird in der Gesellschaft ein immer höherer Stellenwert bzw. eine immer größere Notwendigkeit zugeschrieben. Durch das Kennenlernen von Medien sowie Kinderbüchern werden Kinder an die Schriftsprache herangeführt. Insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund benötigen besondere Unterstützung in ihrer Literalisierung, die sie im Elternhaus womöglich nicht bekommen können (vgl. Stadnik 2011, S. 6). Das Vorlesen von Kinderbüchern stellt dabei eine gute Möglichkeit dar, um Kinder früh sprachlich zu fördern und an die Schriftsprache heranzuführen (List 2015, S. 37f.).
Dabei stellt die Stimme einen einflussreichen Faktor dar. Die Stimme bzw. die prosodische Gestaltung stellt neben der verbalen und nonverbalen Gestaltung einen von drei Gestaltungsmitteln der Selbstpräsentation dar und kann bzw. muss in pädagogischen Settings bedacht eingesetzt werden, um eine sprachanregende Umgebung für das Kind zu schaffen (vgl. Miosga 2006, List 2015, S. 37f.). Daraus ergeben sich folgende Leitfragen: „I nwiefern kann das Vorlesen von Kinderbüchern durch den Einsatz von prosodischen Gestaltungsmitteln zur Förderung des Zweitspracherwerbs unterstützt werden?" Diese aufgestellte Fragestellung soll am Ende der Arbeit nochmals betrachtet und beantwortet werden.
Zunächst soll dafür in Kapitel Zwei eine theoretische Grundlage zum Zweitspracherwerb aufgestellt werden, wobei zentrale Begriffe, Zweitspracherwerbstypen und zuletzt Zweitspracherwerbstheorien vorgestellt werden. Insbesondere werden dabei die neueren Hypothesen des Konstruktivismus und Konnek- tionismus sowie das Modell der Sprachganzheit betrachtet.
Im dritten Kapitel Sprachförderung durch Literacy-Erfahrungen, wird herausgestellt, inwiefern das Vorlesen von Kinderbüchern gewinnbringend für den kindlichen Zweitspracherwerb ist. Dabei werden in Kapitel 3.1. die englischen Begriffe Literacy und Emergent-Literacy sowie die Literacy-Erziehung betrachtet, wobei es um das Hineinwachsen in die Welt der Schriftsprache geht. In Kapitel 3.2. wird dies mit dem Vorlesen in Verbindung gesetzt. In dem Zusammenhang wird im darauffolgenden Kapitel die Methode des Dialogischen Lesens in ihrer Methode, der Betrachtung der Sprechgestaltung und des dialogischen Lesens mit mehrsprachigen Kindern vorgestellt.
Das vierte Kapitel stellt den Hauptteil dieser Arbeit dar und beschäftigt sich insbesondere mit der Sprechgestaltung. In Kapitel 4.1. wird zunächst die Bedeutung der Stimme beim Vorlesen von Kinderbüchern herausgestellt, wobei nochmals auf das Dialogische Lesen Bezug genommen wird. In Kapitel 4.2. wird die Bedeutung des personalen Sprechstils im pädagogischen Kontext hervorgehoben, woraufhin im Folgenden der Begriff der Prosodie näher erläutert wird. In Kapitel 4.3.1. und 4.3.2. werden dazu kurz die Merkmale und Komponenten der Prosodie vorgestellt. Im darauffolgenden Kapitel werden schließlich die kommunikativen Funktionen der Prosodie in ihrer Unterteilung der linguistischen Funktion (Kapitel 4.4.1.), expressiven Funktion (Kapitel 4.4.2), strukturierenden Funktion (Kapitel 4.4.3) sowie der pragmatischen Funktion (Kapitel 4.4.4) erläutert und auf die Situation des Vorlesens bzw. auf die Sprechgestaltung der vorlesenden Person angewendet. Dabei werden drei Kategorien (In- volviertheit, Strukturiertheit und Partnerorientierung) herausgestellt, die für eine sprachanregende Gestaltung beim Vorlesen sorgen. Im darauffolgenden Kapitel 4.5. wird näher herausgearbeitet, inwiefern die involvierte, partnerorientierte und strukturierte Sprechgestaltung beim Vorlesen den kindlichen Zweitspracherwerb anregt. Dazu wird außerdem auf das Sprachganzheitsmodell von Walter Rolf Bindel zurückgegriffen, um auf die verschiedenen Ebenen des Spracherwerbs einzugehen.
Die zentralen Aussagen werden im letzten Kapitel der Arbeit zusammenfassend betrachtet, ein Fazit gezogen und die anfangs gestellte Leitfrage beantwortet.
Für die in dieser Arbeit behandelten Themen soll in diesem Kapitel eine theoretische Grundlage aufgestellt werden, auf die sich im Folgenden bezogen werden kann. Es werden zuerst zentrale Begriffe wie Erstsprache, Zweitsprache, Mehrsprachigkeit und Fremdsprachigkeit erläutert. Daraufhin folgen Grundlagen zum Zweitspracherwerb. In Kapitel 2.2. werden zunächst die Zweitspracherwerbstypen Simultaner und Sukzessiver Bilingualismus vorgestellt, woraufhin in Kapitel 2.3. bekannte Theorien bzw. Hypothesen zum Zweitspracherwerb vorgestellt werden. Es wird die Kontrastivhypothese, die Identitätshypothese, die Interlanguagehypothese sowie der Konstruktivismus und der Konnektionis- mus vorgestellt. Im Rahmen des konnektionistischen Ansatzes wird in einem weiteren Unterpunkt das Modell der Sprachganzheit von Prof. Dr. phil. Walter Rolf Bindel erklärt.
Der Begriff der Erstsprache wird im internationalen Kontext, insbesondere in der wissenschaftlichen Literatur zum monolingualen Spracherwerb benutzt. Analog dazu gibt es den Begriff der Muttersprache, bei dem es sich jedoch um eine weniger wertfreie Terminologie handelt. „Unter Erstsprache wird im Allgemeinen die Sprache verstanden, die ein Individuum zuerst erworben hat - sowohl bei ein- als auch bei mehrsprachigen Individuen“ (Scharff Rethfeldt 2013, S. 31).
Der Begriff der Zweitsprache lässt schwer eingrenzen, da er mehrdeutig genutzt wird. In der deutschsprachigen Literatur wird der Begriff der Zweitsprache bzw. des Zweitspracherwerbs häufig benutzt, um Individuen zu beschreiben, die eine weitere Sprache erwerben, nachdem sie bereits in wesentlichen Grundzügen eine Sprache erworben haben (vgl. Chilla 2010, Kracht 2001; zit. n. ebd.). In der Forschung kann jedoch keine einheitliche Terminologie gefunden werden, da nicht eindeutig ist, „wo die zeitliche Grenze zwischen dem simultanen Erwerb zweier Erstsprachen und dem sukzessiven Erwerb von Erst- und Zweitsprache zu setzen ist“ (Klein 2001; zit. n. ebd.). Die genannten Erwerbstypen werden im nächsten Kapitel näher erläutert.
Der Begriff der Mehrsprachigkeit schließt die Menschen ein, die in mehr als einer Sprache Fähigkeiten in mindestens einer sprachlichen Modalität verfügen. Somit gelten Kinder auch dann als mehrsprachig, wenn sie eine weitere Sprache verstehen, aber nicht selber sprechen können (vgl. ebd., S. 28). Es wird darüberhinaus in frühe und späte Mehrsprachigkeit unterschieden.
„Unter frühen Mehrsprachigen sind jene Individuen zu verstehen, die im Laufe ihrer Sprachentwicklung, d.h. ... zwischen den Zeitpunkten der Geburt und der Pubertät, regelmäßig Input in mehr als einer Sprache erhalten und auf diesen entsprechend ihre Möglichkeiten adaptiv reagieren ...“ (ebd.).
Auf die Erläuterung der späteren Mehrsprachigkeit wird in dieser Arbeit verzichtet, da sie nicht relevant ist. Es ließen sich weitere Definitionen zur Erläuterung der Erst- und Zweitsprache sowie der Mehrsprachigkeit hinzufügen. Die verwendeten Erläuterungen sollen jedoch nur zur kurzen Definition dienen.
Abschließend lässt sich noch die Fremdsprachigkeit von den bisher aufgeführten Terminologien abgrenzen. Das Lernen einer Fremdsprache findet meistens in einer gesteuerten Unterrichtssituation statt, welches bewusst und auf Grundlage bereits bestehender Sprachgrundlagen stattfindet. Dies steht im Gegensatz zu dem Erst- und Zweitspracherwerb, welcher für Kinder eher unbewusst, implizit und ungesteuert ablaufen sollte (vgl. ebd., S.33).
Bevor die Theorien und Hypothesen des Zweit- und Mehrspracherwerbes betrachtet werden, sollten die unterschiedlichen Erwerbstypen der Zweitsprache berücksichtigen werden. „Eine Sprache zu erwerben heißt nicht nur einzelne Wörter dieser Sprache zu lernen, sondern insbesondere ihr strukturelles Regelsystem zu erschließen und Sprache situations- und diskursangemessen nutzen zu können“ (Niebuhr-Siebert & Baake 2014, S. 23). Dieser Erwerb hängt von verschiedenen Faktoren ab. Das Alter bzw. der Zeitpunkt, wenn das Kind mit der Zweitsprache in Kontakt kommt, ist entscheidend für den Verlauf des Spracherwerbs (vgl. ebd.).
Im Folgenden werden die Charakteristika des simultanen Erwerbs zweier Sprachen (simultaner Bilingualismus) und der sukzessive kindliche Zweit- spracherwerb (sukzessiver Bilingualismus) erläutert. Der e rwachsene Zweit- spracherwerb oder auch später Zweitspracherwerb lässt sich davon noch klar 4 abgrenzen, da dieser erst im Erwachsenenalter stattfindet und sich deutlich von den kindlichen Zweitspracherwerbsformen unterscheidet (ebd.).
Unter simultanem Bilingualismus fallen Kinder, die von Geburt an im Rahmen einer mehrsprachigen Erziehung zwei Sprachen parallel erlernen. Meistens sprechen die Eltern auf unterschiedlichen Sprachen mit ihrem Kind. Man geht davon aus, dass der Erwerb beider Sprachen im Wesentlichen ähnlich wie beim monolingualen Spracherwerb verläuft (vgl. ebd., S. 25).
Sukzessiver Bilingualismus bedeutet, dass Kinder nach einem monolingualen Erstspracherwerb im Alter zwischen dem vierten Lebensjahr und dem Jugendalter eine zweite Sprache erwerben (vgl. Meisel 2011, Thoma & Tracy 2006; zit. n. ebd., S. 25). Die Zweitsprache kommt somit erst dann hinzu, wenn in der ersten Sprache wesentliche Erwerbsschritte schon vollzogen wurden. Im Vergleich zum Erstspracherwerb lassen sich einige Unterschiede im Verlauf aufzeigen. „Die Sprachkompetenz eines Kindes, welches Deutsch sukzessiv als Zweitsprache erwirbt, ist nicht vergleichbar mit derjenigen Sprachkompetenz eines monolingual aufwachsenden Kindes ...“ (ebd., S. 27). Die Erwerbsbedingungen und die Merkmale sind dabei andere (vgl. ebd.).
In der Zweitspracherwerbsforschung gibt es mittlerweile einige verschiedene Hypothesen und Theorien, die versuchen, den Zweitspracherwerb zu erläutern. Jede existierende Spracherwerbstheorie wird aus einem anderen Kontext betrachtet und macht somit deutlich, dass der Zweitspracherwerb, so wie der Erstspracherwerb, ein sehr komplexes Bedingungsgefüge darstellt. „Die Hypothesen zeigen ..., dass eine Entwicklung in der Forschung stattgefunden hat, die sich auf unterschiedliche Grundannahmen zurückführen lassen“ (Kalkaval-Ay- din 2015, S. 25). Die bekanntesten Theorien führen auf die grundlegenden Erstspracherwerbstheorien (Behaviorismus, Nativismus, Kognitivismus, Interaktionismus) zurück. Im Folgenden werden zuerst diese drei ältesten Hypothesen zum Zweitspracherwerb (die Kontrastivhypothese, die Identitätshypothese und die Interlanguagehypothese) vorgestellt. Daraufhin folgt die Erläuterung der neueren Ansätze (der konstruktivistische Ansatz und der konnektionistische Ansatz).
Eine der ältesten Theorien ist die Kontrastivhypothese . Diese wurde in den 1940er Jahren von Fries und Lado auf der Grundlage der schulischen Fremdsprachforschung entwickelt und gilt als Lerntheorie behavioristischen Ursprungs (vgl. Scharff Rethfeldt 2013, S. 70; Kalkaval-Aydin 2015, S. 13). Das Hauptaugenmerk liegt auf dem Transfer zwischen der Erstsprache in die Zweitsprache. Es wird davon ausgegangen, dass die Erstsprache den Erwerb der Zweitsprache beeinflusst und beispielsweise versucht wird, Regeln und Elemente der Erstsprache in die neu erlernte Sprache zu übertragen. „Der Transferprozess wird in positiven und negativen Transfer unterschieden“ (ebd, S.71). Unter positivem Transfer wird verstanden, dass aufgrund von Ähnlichkeiten der Sprachen Regeln und Elemente übertragen werden können, da sie übereinstimmen. Spricht man von einem negativen Transfer, bedeutet dies, dass fehlerhafte Übertragungen der Regeln und Strukturen stattfinden und es dadurch zu Sprachfehlern in der Zweitsprache kommt (vgl. ebd.).
Die genannte Theorie gilt zwar seit den 1970ern als widerlegt (vgl. Bausch u. Kasper 1979; zit. n. Scharff Rethfeldt 2013, S.71), jedoch wird sie als relevant angesehen, da die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Sprachen sowie die Transfers aufgezeigt und beschrieben werden (vgl. Scharff Rethfeldt 2013, S. 71).
Im Gegensatz zu der Kontrastivhypothese geht die Identitätshypothese davon aus, dass die Zweitsprache unabhängig von der Erstsprache erlernt wird. Sie „beruht auf dem nativistischen Ansatz von Chomsky [und (Anm. d. Verf.)] ... ist in der Annahme begründet, dass der Zweitspracherwerb denselben Gesetzmäßigkeiten folgt wie die Erstsprache“ (Kalkaval-Aydin 2015, S. 20). Es werden, laut dieser Theorie, wie auch in der Erstsprache, systematisch Hypothesen über die Strukturen und Regeln der Sprache gebildet und eine eigene Identität angenommen. „So werden Fehler nicht als negativ, sondern als Entwicklungsstadien des typischen Lernprozesses ... betrachtet“ (Scharff Rethfeldt 2013, S. 71.).
Die letzte der drei älteren Theorien nennt sich die Interlanguagehypothese und wurde von dem amerikanischen Professor und Linguisten Larry Selinker 1972 entwickelt. „Sie besagt, dass der Lerner beim Erwerb einer Zweitsprache ein spezifisches Sprachsystem herausbildet“ (ebd, S.71f.), sogenannte Interlanguages. Dies geschieht durch kognitive und kommunikative Prozesse (ebd.). Das Sprachsystem entwickelt sich laut dieser Theorie in verschiedenen psycholinguistischen Prozessen. So werden, wie bei der Kontrastivhypothese, Regeln und Strukturen aus der Erstsprache in die Zweitsprache übernommen, eigene Strategien zur Bildung und Überprüfung entwickelt und korrekt erworbenen Regel in Bereiche übertragen, in denen sie keine Gültigkeit besitzen. Diese Theorie scheint somit eine Mischung aus den vorausgegangenen Hypothesen zu sein und wird auch heute noch häufig zur Erklärung des Zweitspracherwerbs benutzt (vgl. Scharff Rethfeldt 2013, S. 71f., Niehbur-Siebert & Baake 2014, S. 37f. & Kalkaval-Aydin 2015, S. 22f.).
In den letzten 20 bis 30 Jahren hat sich der Konstruktivistische Erklärungsansatz für die Sprachentwicklung als Alternative zu traditionellen linguistischen Theorien herauskristallisiert. Der Konstruktivismus des Zweitspracherwerbs setzt am cognitive approach an und fokussiert die kognitiven Lernmechanismen, „die dem Kind im Spracherwerb allgemein in der sozialen Interaktion zur Verfügung stehen“ (Niebuhr-Siebert & Baake 2014, S. 41). Der sprachliche Input des Umfeldes wird hier als die entscheidende und wichtigste Komponente für den Erwerb der Sprache gesehen. Der Input kann durch Lern- und Mustererkennungsfähigkeiten vom Kind anschließend so ausgewertet werden, dass sich grammatische Strukturen und Regeln erschließen und diese sich immer mehr erweitern. „Dem Ansatz zufolge operiert das Gehirn auf der Basis konstruktivistischer Selbstorganisation“ (vgl. ebd).
Der Ansatz des Konnektionismus entstand in der Kognitionswissenschaft in Abgrenzung zum Kognitivismus (Miosga et al. 2011, S.133). Es wird innerhalb dieses Forschungsparadigmas davon ausgegangen, dass „sich die Information verarbeitenden Netzwerke aus „unintelligenten“ Komponenten - den Neuronen - 7 zusammensetzten, welche durch ihre Eigenschaft kognitive Fähigkeiten erzeugen“ (ebd.). Das bedeutet, dass das Gehirn als ein kooperatives System betrachtet wird, welches Informationen parallel verarbeiten kann (vgl. Varela et al. 1995; zit. n. Miosga et al. 2011, S. 134). Außerdem wird davon ausgegangen, dass das neuronale Netzwerk selbstgenerierend funktioniert. Jedoch sei das Gehirn kein einheitlich strukturiertes Netzwerk. „Für unterschiedliche Fähigkeiten entstehen unterschiedliche Netzwerke“ (ebd.). Lokale und „einfache“ Probleme können sich somit zu Netzwerken höherer Ordnung zusammenfügen und Lösungen für komplexere Probleme, wie den Spracherwerb, emergieren. In diesem Zusammengang stellt somit Emergenz einen zentralen Begriff für die Theorie dar (vgl. ebd.). Nach diesen Erkenntnissen „ist eine Inputorientierte Modellierung möglich“ (Fuchs 2011, S. 51). Lernmechanismen, wie Assoziation und Nachahmung, gelten als grundlegende Spracherwerbsformen (vgl. Miosga et al. 2011, S. 134).
Innerhalb der Zweitspracherwerbsforschung gibt es auch einige Modelle, die mittels neurologischer Befunde versuchen, den Erwerb der Zweitsprache zu erklären, z. B. das deklarativ-prozendurale Modell von Michael Ullmann und das Activation-Treshold-Modell von Michel Paradis (vgl. Niehbur-Siebert & Backe 2014, S. 42f.). Grundsätzlich wurde durch neurologische Studien festgestellt, dass im Gehirn zwei Bereiche für die Speicherung und Verarbeitung von Sprechdaten verantwortlich sind (das Wernicke- und das Broca-Areal). Als ein bedeutsamer Einfluss auf den Zweitspracherwerb wurde das Alter zum Zeitpunkt des Erwerbs benannt. „Während bei den frühen Zweitsprachigen beim Vorlesen starke Überlappungen der Aktivierungen im Broca-Areal zu identifizieren sind, gibt es bei den späten Zweitsprachigen nur einzelne Aktivierungen im Broca-Areal“ (ebd., S. 44). Diese Erkenntnis bedeutet, dass Kinder mit frühem Zweitspracherwerb ähnliche Hirnaktivitäten zeigen, wie in ihrer Erstsprache (vgl. ebd.).
Auch nach der Sprachtherapeutin Dr. phil. Dipl. Päd. Andrea Fuchs kann davon ausgegangen werden, dass der frühe Zweitspracherwerb, insbesondere der simultane Erwerb, in ähnlichen Schritten verläuft, wie der monolinguale Spracherwerb (Fuchs 2011, S. 52). Beim sukzessiven Erwerb einer Sprache kann der Verlauf auch sehr ähnlich sein. „Es muss allerdings davon ausgegangen werden, dass Kinder nicht im eigentlichen Sinne zwei parallele und identische Systeme für beide Sprachen aufbauen“ (ebd.). Die Umwelt und der Kontakt mit unterschiedlichen Themenbereichen kann beispielsweise Einfluss auf den Erwerb des lexikalischen Sprachgebrauchs haben. Die Sprachkompetenz kann so je nach Thema und Kommunikationspartner/in variieren (vgl. ebd.).
Aufbauend auf dieser theoretischen Basis des Konnektionismus lässt sich das Modell der Sprachganzheit von Rolf Walter Bindel hinzunehmen, welches insbesondere Ansätze für die Praxis, also für die pädagogische Intervention herausstellt, woraus sich sprach- und kommunikationsförderliches Handeln ableiten lassen. Das Modell basiert auf den Whole Language Approach und erweitert diesen Ansatz bzw. integriert die Ansicht, dass in der Kommunikation immer interdependente Prozesse auf verschiedenen Ebenen stattfinden: Auf der linguistischen, kommunikativen, kognitiven, sozialen und personalen Ebene (vgl. Bindel 2002; zit. n. Miosga et al. 2011, S. 133).
Das Modell hat zum Ziel, die sprachliche Ebene des Kindes zu fördern und innerhalb pädagogischer Settings hinsichtlich der sprach- und kommunikationsförderlichen Elemente zu analysieren und zu gestalten. Es bietet auch einen Beitrag zur förderlichen Kommunikation und Interaktion mit heterogenen Gruppen von Kindern, beispielsweise für eine Gruppe von Kindern mit unterschiedlichen Erstsprachen (vgl. ebd., S. 133ff.).
Der zentrale Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist, dass „Sprache und Sprechen als Entwicklungsdimension nicht isoliert betrachtet, sondern in allen ihren Modalitäten sowie in ihren personalen und sozialen Bezügen gesehen [werden (Anm. d. Verf.)]“ (Miosga et al. 2011, S. 135). Bindel geht davon aus, dass das Erlernen von linguistischen Merkmalen abhängig von den sozialen, emotionalen und kognitiven Zusammenhängen ist. „Zudem wird ... der „inneren Sprache“ eine besondere Bedeutsamkeit beigemessen“ (Bindel 2006; zit. n. ebd.). Interesse an Kommunikation, Empathie, Fantasie sowie die Fähigkeit, innere Vorstellungsbilder bilden zu können, werden von Bindel als weitere Faktoren zum Sprachenlernen genannt (vgl. ebd.).
Die Kompetenzbereiche (soziale, personale, kommunikative, kognitive und linguistische Kompetenz) werden nach Bindel in sprachlich- kommunikativen Situ- ationen aktiviert, die nach der konnektionistischen Sicht durch Dependenz und Interdependenz gekennzeichnet sind (vgl. ebd., S. 136).
Die soziale Kompetenz beschreibt die Fähigkeit des Einfühlvermögens auf den Gesprächspartner. Diese Kompetenz soll der Synchronisation des eigenen sprachlich-kommunikativen Verhaltens helfen. Eine Interventionsmaßnahme kann die gemeinsam Ko-Konstruktion der Situation darstellen (vgl. ebd.).
Bei der personalen Kompetenz geht es um den Selbstausdruck, die Initiative, die Aktivität und den Affekt. „Das Vorhandensein einer Mitteilungs- und Verstehensintention wird als grundlegende Voraussetzung verstanden, um sprachlich kommunikativ aktiv zu werden“ (ebd.). Auf dieser Ebene ist besonders das Hervorrufen positiver persönlicher Erfahrungen hilfreich (vgl. ebd.).
Die kommunikative Kompetenz spricht die kommunikative Anforderung durch verschiedenen Gesprächspartner an. Es geht dabei auch um die Gestaltung der Rede, der Sprache, die innere Haltung, etc. „Zentral ist hier die SprecherHörer-Rolle in sehr unterschiedlichen Sprechakten“ (ebd.).
Die kognitive Kompetenz beschreibt die Prozesse wie Gedächtnis, Fantasie, und Aufmerksamkeitsfähigkeit zum Sprachverstehen. Diese Kompetenzen der Entfaltung von Vorstellungsbildern und Fantasien können durch Reflexion, Rekonstruktion und Planungsprozesse der sprachlichen Aktivitäten bestärkt werden (vgl. ebd.).
Unter der linguistischen Kompetenz wird die Beherrschung aller sprachlichen Ebenen verstanden (Syntax, Semantik, Morphologie, Lexikon, Prosodie, etc.). Innerhalb eines intervenierenden pädagogischen Settings wird hier insbesondere die Arbeit an der Präsentation der Sprache zur Bedeutung. Allerdings ist nach diesem Modell auch zu beachten, dass eine isolierte sprachliche Äußerung ohne Berücksichtigung der anderen Kompetenzen nicht als sinnvoll erachtet wird (vgl. ebd.).
Zusammenfassend bietet die Perspektive des konnektionistischen Ansatzes und des sprachganzheitlichen Modells neue Ansichten über den Spracherwerb von Kindern und insbesondere über die Handlungsmöglichkeiten für die pädagogische Praxis (zur Sprachförderung) (vgl. ebd.).
Die stets zunehmende Anzahl an Kindern mit Migrationshintergrund in Deutschland zeigt die „Notwendigkeit innovativer didaktischer Konzepte zur Sprachförderung und Heranführung aller Kinder an Schriftkultur und ... Schriftlichkeit - auch in der Zweitsprache Deutsch“ (Wieler 2015, S. 119). Seit den ersten veröffentlichten Ergebnissen der PISA-Studie im Jahr 2001 scheint die frühe Förderung von Sprachkompetenzen immer mehr in den Fokus gerückt zu sein (vgl. Roux 2005, S.1, Apeltauer 2010, S.1). Die Schriftsprachkompetenz wird als „Bedingung für die Weiterentwicklung eigenen Wissens sowie eigener Fähigkeiten gesehen und ermöglicht dem Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ (Hurrelmann 2002, S. 16; zit. n. Stadnik 2011, S. 6).
Teilhabe an der Schrift- und Sprachkultur zu haben, bedeutet, ein Teil der Gesellschaft zu sein. Dies ist besonders für Kinder mit Migrationshintergrund bzw. Kinder, die Deutsch nicht als ihre Erstsprache erlernt haben, wichtig. Aufgrund dessen sollte ein Schwerpunkt der sprachlichen Förderung die Anbahnung an Literacy darstellen (vgl. Stadnik 2011, S. 6).
Um die Bedeutsamkeit der frühen Erfahrungen mit Büchern, Schriftsprache und gesprochener Sprache herauszustellen, werden im Folgenden die Begriff der Literacy (Erziehung) und Emergent Literacy vorgestellt. In Kapitel 4.2. wird der Zusammenhang zwischen der Literacy-Erziehung und des Vorlesens erläutert, um einen Zusammenhang zwischen Dialogischem Lesen und der (Emergent-) Literacy für den Zweitspracherwerb zu ziehen. Diese Methode zum Umgang mit dem Medium Bilderbuch wird dann in Kapitel 4.2. differenziert vorgestellt, woraus wichtige Erkenntnisse zum Vorlesen, der Sprechgestaltung und der Sprachförderung gezogen werden können.
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