Magisterarbeit, 2014
86 Seiten, Note: 2,0
3 Historischer Hintergrund des Genres
3.2 Die Lange Geschichte der SF
3.3 Eine Kurze Geschichte der SF
3.4 Gernsback und die Geburt der Genre SF
4 Analyse ausgewählter spanischer SF Literatur
4.1 Einsatzmöglichkeiten von Wissen und Technologie:
4.2 Mundos en el Abismo
4.3 Sagrada: La Dama Dragón
5 Ausblick
Literaturverzeichnis
Interview mit Juan Miguel Aguilera
Literatur und Wissenschaft. Das sind zwei Begriffe, die heutzutage nicht unbedingt miteinander in Verbindung gebracht werden. Natürlich gibt es die Literaturwissenschaft, doch um die soll es hier nicht gehen. Die Wissenschaft soll in ihrer Gesamtheit betrachtet werden, alle ihre Zweige umfassend. Und die Literatur? Der Begriff Literatur soll sich hier vielmehr als Unterhaltungsliteratur verstehen. Folglich dreht sich diese Arbeit um die Zusammenführung von Wissenschaft und Unterhaltungsliteratur. Das ist eine Kombination, die nicht oft gesehen geschweige denn bewusst wahrgenommen wird. Doch existiert eine Literaturgattung, die besonderen Wert auf die Textualisierung von Themen der Wissenschaft und der Technologie legt. Die Science Fiction, abgekürzt SF.
Der Begriff Science Fiction legt nahe, dass Wissenschaft, und somit auch Technologie, eng mit dem Genre verbunden sind. Richten wir uns nach Lück, so meint Science „Wissenschaft, Forschung und Entdeckung, fantastische technische Neuerungen und Abenteuer im Weltraum“ (1977, S. 236). Doch was steckt wirklich dahinter? Wie werden Wissenschaft und Technologie betrachtet? Finden wir in der Science Fiction Technologie die wir selbst benutzen? Die wir möglicherweise in einigen Jahren benutzen könnten? Oder sind die beschriebenen Technologien so absurd, dass sie nur als fantastisch angesehen werden können?
Wie finden wir die reale Wissenschaft in der SF widergespiegelt? Spiegelt sie sich überhaupt oder wird der Begriff im Genre nur benutzt um fantastische Ideen mit scheinbarer Realitätsnähe auszuschmücken? Die Frage nach der Realitätsnähe der in der Science Fiction Literatur beschriebenen Wissenschaft und Technologie entpuppt sich als kritisch, denn der Teil Fiction „meint literarische Erfindung und spannende Handlung, action“ (Lück, 1977, S. 236).
Zusammenfassend lässt sich damit erkennen, dass das betrachtete Genre aus zwei gegen-poligen Basen besteht. Zum einen Wissenschaft (Science) und zum anderen Fiktion, also Fantastik. Daher kann das Genre im deutschen auch als „wissenschaftliche Fantastik“ beschrieben werden, was das Paradoxon der inneren Gegensätzlichkeit verdeutlicht (Lück, 1977, S.11)[2]. Wie geht die Science Fiction mit diesem Paradoxon um? Im Versuch der Klärung dessen empfiehlt sich zunächst der Versuch einer Genre-Definition. Mithilfe der Bemühung um eine Definition lassen sich viele Besonderheiten herausstellen und man gewinnt einen ersten Einblick in die Komplexität des Genres. Um diesen wiederum auf den Grund gehen zu können, braucht es eine Untersuchung der Entwicklungsgeschichte. Hier ergibt sich jedoch bereits die nächste Schwierigkeit. Es gibt viele Theorien über das Alter und die Entstehung der SF. Die älteste behauptet, das Genre sei so alt wie die Literatur selbst, während die jüngste die Gründung der SF in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts legt. Glücklicherweise kontrastieren sich die Theorien hauptsächlich in Fragen der Bezeichnung und der Relevanz verschiedener Einwirkungen, was sie im Grunde kompatibel macht. So ist für den einen Science Fiction, was für den andern ein Vorgänger des Genres, Proto-Science Fiction, oder gar Fantastik ist. Das scheint auf den ersten Blick schwer verständlich, doch basiert die Science Fiction im Grunde auf der Fantastik, was bedeutet, dass sie sich nicht gegenseitig ausschließen. Durch die Erforschung der Geschichte der SF wird klar, dass sie stetigen Veränderungen unterliegt. Auslöser der Umgestaltung sind meist Entdeckungen in der Forschung, die Weltbild-verändernde Folgen nach sich ziehen. In der Betrachtung der jüngeren Geschichte kristallisiert sich eine US-amerikanische Dominanz des Marktes und daraus resultierende Abhängigkeiten heraus. Daneben offenbart sich der schwere Stand der SF in Spanien, bedingt durch die politische und gesellschaftliche Geschichte des Landes. Die spanischen SF Autoren waren und sind doppelt marginalisiert (das Genre besaß nie große Popularität und englischsprachige Autoren verkauften sich besser), doch schafften sie es zunehmend die spanische SF in eine größere Autonomie zu leiten. Mit der Unabhängigkeit integrierten sich eigene, landestypische Themen und eine eigene Art der Textualisierung von Wissenschaft und Technologie. Die Verbundenheit zur angelsächsischen SF bleibt dennoch bestehen, allerdings mit erhöhter Gleichrangigkeit. Wie sich Wissen und Technologie nun genau in der SF niederschlagen wird dem nachfolgend auf den Grund gegangen. Dabei werden Unterschiede zwischen der Bemühung zur Realitätstreue und notwendiger Fiktionalität aufgedeckt. Abschließend wird der Einfluss von Wissenschaft und Technologie auf die Science Fiction anhand ausgewählter Beispiele erörtert.
„[V]iajes en tiempo, en espacio, por el interior del cuerpo humano, la abundante literatura de viajes reales e imaginarios, siempre ha satisfecho nuestra necesidad de lo nuevo y lo sorprendente“ Juan Miguel Aguilera[3]
Man sollte meinen eine Definition für das Genre der Science Fiction zu finden sei kinderleicht, vor allem da jedermann eine ganz bestimmte Idee dazu in seinem Kopf hat. So mag, aufgrund dieser Idee dem einen oder anderen möglicherweise sogar der Versuch, eine Definition schriftlich niederzulegen, überflüssig erscheinen.
Sobald man allerdings ansetzt um diese, doch so genaue Idee auf Papier zu bringen, erfolgt die Überraschung auf dem Fuße. Was anfangs so klar erschien, so deutlich von anderem abzugrenzen war, beginnt plötzlich zu verschwimmen und die Idee beginnt zu verschwinden. Die klaren Grenzen verfliegen und zurück bleibt nur das Wissen, eine doch so exakte Idee davon zu haben was Science Fiction eigentlich ist. Hier beginnt unsere Reise in dem Versuch der ursprünglichen Idee auf den Grund zu gehen und sie schriftlich zu definieren und festzuhalten.
Auf der Suche nach der Idee dessen, was Science Fiction ist, empfiehlt es sich zu Beginn die Definitionsversuche verschiedener Wörterbücher zu mustern, da diese das öffentliche Verständnis von SF widerspiegeln. Die hierfür durchgeführte transareale Beobachtung der englischsprachigen, deutschsprachigen und spanischsprachigen Räume[4] gibt zu erkennen, dass Abweichungen in der Bedeutungserklärung minimal sind und die Musterung der Definitionen tief-eingewobene transnationale Charakteristika des Genres preisgibt. Exemplarisch soll die Definition der offiziellen Webseite der Real Academía Española zur Darstellung dienen. Hier findet man unter dem Begriff der ciencia ficción folgende Bedeutung: „Género de obras literarias o cinematográficas, cuyo contenido se basa en hipotéticos logros científicos y técnicos del futuro“ (www.rae.es, 23.10.2013). Die Definition der RAE hat einen gewissen Wiedererkennungswert im Duden wie auch im Oxford Dictionary, da sich alle drei Definitionen auf den Inhalt beziehungsweise die Themen von Science Fiction Literatur berufen. Diese beruhen auf (wissenschaftlich-technischen) Errungenschaften der Menschheit, die hypothetischer und damit fiktionaler Natur sind.
Ein entscheidender Fehler muss in den öffentlichen Definitionen jedoch vermerkt werden. Die Gemeinsamkeiten der Definitionen weisen auf wichtige Bestandteile der SF hin, unter anderem die Bezüge zu Fiktionalität, Technologie, Wissenschaft, Zeit- und Raumreisen. Allerdings werden diese mit dem „magischen Wörtchen“ Zukunft in Verbindung gebracht. Das wirft die Frage auf, muss SF in der Zukunft spielen? Ist SF immer zukunftsorientiert?
Wenn dem so wäre, wird damit ein kritisches Problem aufgeworfen. Durch die bedingungslose Zukunftsorientierung, die ich als „Star Wars-Problem“[5] bezeichnen möchte, werden Werke, die in der öffentlichen Meinung klar der SF zugeordnet werden, von selbiger ausgeschlossen. Eben das wäre der Fall bei den Star Wars Filmen, die allesamt in der Eröffnungssequenz den Ort und die Zeit des Geschehens als „[a] long time ago in a galaxy far, far away...“ festlegen (Decker und Eberl, 2011, S. 147). Damit ist klar, die Geschichte, die vor langer Zeit, in einer weit entfernten Galaxie, und damit nicht in der Zukunft, spielt, würde demnach nicht Teil der SF formen. Auch wenn Star Wars Filme starke Verbindungen zu Fantastik, Religion und Mystik aufweisen, so lassen sie sich dennoch eindeutig als Science Fiction deklarieren, alleine auf dem Faktum beruhend, dass sie aus einer „technisch fortgeschrittenen galaktischen Gesellschaft“ bestehen (Vgl. Decker und Eberl, 2011, S. 147). Als Konsequenz ist daraus zu ziehen, dass die bisherigen Auslegungen zum Genre Science Fiction unzureichend sind.
Um das Genre besser erfassen zu können, muss die Materie im folgenden Schritt mittels der Fachliteratur durchleuchtet werden. Bei intensiver Untersuchung springt dem Forschenden ein besonderer Umstand deutlich ins Auge. In vielerlei Hinsicht herrscht „Uneinigkeit“ und vieles im Feld der SF ist und bleibt damit offen zur Diskussion (Schlobinski und Siebold, 2008, S. 7). Trotz allem, oder vielleicht gerade deswegen, lassen sich aus der Situation verschiedene maßgebliche Schlüsse ziehen.
Zum ersten: Es gibt keine brauchbare, umfassende Definition! Wie Alpes schon so treffend bemerkt: „[H]ier fangen die Schwierigkeiten schon an. Gewiss, Definitionsversuche gibt es mehr als genug, die Fachleute tun sich jedoch schwer dabei“ (1980, S. 25). Die Fachwelt ist in vielen Bereichen der SF in Diskussionen verstrickt, doch diese, meine Aussage begründet sich auf einer der wenigen Konstanten im SF Universum. Sie wird, unter anderem durch Peter Nicholls bestätigt. Dieser fügt außerdem hinzu, dass die vielen, sich voneinander unterscheidenden, Definitionsversuche teilweise Bedingungen aufstellen, die sich gegenseitig widersprechen und niemals eine Einigung über eine einzige umfassende Definition erzielt werden kann (Vgl. Nicholls, 1979, S. 159). Nicholls Erweiterung bildet eine gute Überleitung zur Schlussfolgerung Nummer Zwei, denn es kann keine umfassende Definition erstellt werden, weil die SF kein homogenes Genre ist.
Seed beschreibt sie als „one of the most extensive and varied kinds of modern literature” (Seed, 2008, S. 1). Als „género totalizante“ stellt Sánchez-Conejero fest, dass die SF nicht nur einige, sondern alle Fragen über das menschliche Sein behandelt (Vgl. Sánchez-Conejero, 2009, S. 7). Dadurch wird die Science Fiction Literatur zu einem ausgedehnten Fachgebiet, „covering many possible materials, many possible approaches to those materials, and many possible ways of handling them.” (Allen, 1977, S. 15). Die logische Konsequenz daraus ist, so macht Allen deutlich, dass eine Kategorisierung in Subgenres sehr hilfreich wird (Vgl. Ebd.).
Doch warum wird die SF als solch ein mannigfaltiges Genre angesehen? Der Grund dafür liegt in der Geschichte der SF. Sie wuchs nämlich im Laufe der Zeit aus der Mischung verschiedener Genres (von Utopien bis hin zu „space adventures“) zusammen (Vgl. Clute und Nicholls, 1993, S. 314).
Des Weiteren lassen sich, aufgrund der Dichotomie von Science und Fiction, drei verschiedene Blickwinkel auf das Genre ausmachen. An den beiden Extremen finden sich, zum einen die Sichtweise, die den Schwerpunkt auf den Literatur-Charakter beziehungsweise die Nicht- (Natur-) Wissenschaftlichkeit legt, und zum anderen die hierzu oppositionelle Sichtweise, die die Wissenschaftlichkeit als Kern der SF betont. Als dritter Blickwinkel gilt die Mischung der ersten beiden. Die beiden extremen Sichtweisen können nicht kompromisslos vertreten werden, da sie sich gegenseitig auflösen würden, daher sollten sie eher als Tendenzen der Autoren und Fachleute gesehen werden.
Als Anhänger der wissenschaftlich betonten Seite findet sich beispielsweise Edward James wieder, der klarstellt: „Rather than emerging from the adventure pulps, science fiction was an outgrowth of the popular-science movement“ (James, 2003, XVII). Bailey gibt dem Standpunkt eine historisch erweiterte Note, in dem er auf Kepler's Science Fiction verweist: „[T]he scientific integrity contributed by Kepler was now in, now out of, the stories” (Bailey, 1974, S. 23). Also Wissenschaft spielte einmal mehr, ein andermal weniger eine Rolle. Einer bei dem sie eine weniger große Rolle spielte, war der französische Schriftsteller Cyrano de Bergerac, der zwar auch teilweise an Wissenschaft interessiert war, dem es aber mehr darum ging seine Leser zu belustigen und Sitten und Manieren seiner Gegenwart satirisch widerzuspiegeln (Vgl. Bailey, 1974, S.18). Trotz allem weisen seine Texte eine gewisse Wissenschaftlichkeit auf, denn sonst würden sie von der Fachwelt nicht zur SF gezählt werden. Daraus lässt sich kurz gesagt schließen, es herrschte und herrscht Uneinigkeit darüber, inwieweit Science Fiction mit der realen Wissenschaft zusammenhängt oder nicht.
Nach eingängiger Untersuchung stellen wir fest, die exakte Beschreibung dessen, was SF ist, bereitet auch hier Probleme. Woran liegt das? Eine brauchbare Definition des Genres ist schwierig aufgrund der historischen Entwicklung des Genres und der Genre-Überschneidungen. Darum, und weil sie uns einiges über das Verhältnis von realer Wissenschaft zur SF sagen kann, ist es ratsam einen Blick auf die Geschichte der SF zu werfen. Währenddessen wird ebenfalls auf die Subgenres eingegangen, deren Blütezeit in der Regel einer bestimmten Epoche in der Evolutionsgeschichte der SF zugeordnet werden kann. Es lässt sich mutmaßen, dass genau aufgrund dieser „Evolution“ des Genres und der damit verbundenen immer wiederkehrenden Erneuerung und Veränderung desselben sich auch die Definition verändern und anpassen musste. Ob das wirklich der Fall ist, klärt sich im historischen Überblick.
Wollen wir von der Geschichte der Science Fiction sprechen, so treffen wir gleichermaßen auf Probleme der Spezifizierung wie bereits in dem Versuch eine Definition niederzulegen. Es herrscht weitläufig eine Kontroverse darüber, wann das Genre seinen ersten Atemzug macht. Dies beginnt schon mit der Zerrissenheit darüber, welche als essentielle Genre-Faktoren gesehen werden sollen. So ist es nicht erstaunlich, dass verschiedene Theorien zur SF-Geschichte ans Licht kamen. Die Wichtigsten möchte ich hier zusammenfassen und im Sinne einer möglichst detailgetreuen aber dennoch klar und einfach gehaltenen Übersicht darlegen. Den vielleicht wichtigsten Faktor, der in aller SF und in deren Entstehungs-theorien eine Rolle spielt, und in gewisser Form in einem Werk vorkommen muss um als SF betrachtet werden zu können, möchte ich hier akzentuieren. Der Grundstock aller Science Fiction Literatur besteht aus der Textualisierung von Wissen und Technologie. In welcher Weise jedoch Wissen und Technologie textualisiert werden, ist ein Thema großer Diskussion, das ich versuchen werde in dieser Arbeit zu verdeutlichen. Fakt ist, beides, Technologie und Wissen(-schaft), formen Teil der SF seit Anbeginn des Genres und begleiten diese durch alle nachfolgenden Epochen. Bis heute ist deren Verarbeitung in der SF Literatur ungebrochen.
Mit Hilfe der geläufigen Theorien erstelle ich ein einfaches Schema, in dem die wichtigsten Grundlagen zu Entstehung und Verlauf des Genres demonstriert und der Zusammenhang zu Wissen und Technologie klar werden sollen.
Zunächst einmal ist zu erwähnen, dass die SF voriger Jahrhunderte, etwa bis zu Beginn der Gernsback-Ära[6], in der Literatur üblicherweise als transnational[7] betrachtet wird. Noch im 19. Jahrhundert werden die Autoren verschiedener Nationalitäten im selben Kontext miteinander aufgeführt und interpretiert. Bestes Beispiel hierfür sind die „dos verdaderos padres de la ciencia ficción”[8] Jules Verne und H. G. Wells (Hernúñez, 2012, S. 27). Hernúñez ist nur einer von vielen, die beide Autoren eng miteinander verknüpfen, obwohl sie doch so verschieden voneinander sind. Nicht nur, dass der eine aus Frankreich und der andere aus Großbritannien stammte, sondern auch ihre Literatur und deren Bezug zu Wissen und Technologie waren von Grund auf andersartig.
So finden wir in Costello, einen Vergleich beider Autoren und deren Meinung über den jeweils anderen. H. G. Wells empfindet keinerlei literarische Ähnlichkeiten zwischen den vorausschauenden Erfindungen“ Vernes und seinen eigenen Fantasie-Geschichten (Vgl. Costello, 1978, S. 185). Verne wiederum behauptet „I make use of physics. He invents “ (Ebd. S. 186). Wie man sieht, beide distanzierten sich von den Werken des jeweils anderen und hätten sie nicht als einem gemeinsamen Genre zugehörig empfunden. Dennoch werden ihre Werke ein und demselben Genre, der Science Fiction, oder besser gesagt, der „European scientific romance“ zugeordnet (Gunn, 2009, S. 39). Laut Gunn unterscheiden sich die innereuropäischen wissenschaftlichen Romanzen, seien sie aus Großbritannien, Frankreich oder Deutschland, kaum, denn:
“[I]n those nations, the history of the future is seen as a continuation of a long past history rooted in Classical Greece and Rome, extrapolating clearly perceptible social and technological progress continually blighted and hindered by the tendency of neighboring nations to fight and invade one another.” (Gunn, 2009, S. 39)
Somit wird aufgrund der gemeinsamen Vergangenheit, der gemeinsamen Entwicklung und der daraus resultierenden Weltsicht von einer einheitlichen europäischen SF-Literatur gesprochen.
Wiederum eine Trennung dieser „einheitlichen“ SF-Literatur kommt in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zum Ausdruck. Das hängt im Besonderen mit der Entwicklung der US-amerikanischen Science Fiction zusammen, angestoßen durch Hugo Gernsback. Von hier an finden wir in der Literatur eine Unterteilung in kontinentale Entwicklungen beschrieben. US Science Fiction auf der einen und Europäische Science Fiction auf der anderen Seite. Die USA, so erkennt Gunn, sahen ihre Vergangenheit als wesentlich verschieden von der Europäischen an. Zusammengefasst läuft sie auf eine Westwärts Bewegung hinaus, die einen Fokus auf Pionierarbeit, das Gefühl der Grenze, Grenzüberschreitung und Kolonisierung in sich führt. Dabei wird die mythisch europäische Vergangenheit durch den Colt Revolver des Cowboys oder Abenteurers ersetzt und eine Zukunft der Expansion heraufbeschwört, dessen letzte Grenze die Eroberung des Weltraums darstellt (Vgl. Gunn, 2009, S. 39, f.). Diese Auffassung bildete die Basis für die Abspaltung der US-Science Fiction von der europäischen Mainstream-Science Fiction, die sich in der Erschaffung der Genre-SF, äußerte. 1926 wurde sie publik, als das erste Genre-Magazin Amazing Stories erschien (Vgl. Clute und Nicholls, 1993, S. 569). Doch dies ist nur eine der vielen Dichotomien, die tief in der Science Fiction Literatur verwurzelt sind.
Soweit wurden Jules Verne, H.G. Wells und Hugo Gernsback erwähnt, drei Autoren, die exakt in dem kritischen Zeitraum (19. und Anfang des 20. Jahrhundert) lebten, der heftige Diskussionen auslöst was die Geschichte der SF Literatur angeht. Auf der Suche nach dem Ursprung der Science Fiction Literatur möchte man schon fast scherzhaft anmerken, es fänden sich mehr Theorien über den Ursprung, als Autoren die sich mit dem Thema auseinander setzen.
Für einen ersten Überblick empfiehlt sich der Denkansatz von Roberts, der zunächst eine Grobgliederung vornimmt. Hierbei gibt er zwei Herangehensweisen an, die sich auf einem unterschiedlichen Verständnis der Wesensart der SF gründen. Eine Möglichkeit betont die Jugend und relative Neuheit der SF, die andere betont die altertümliche Seite derselben (Vgl. Roberts, 2006, S. 37, f.). Das erscheint zunächst paradox, erklärt sich aber sobald man tiefer in die Materie eingedrungen ist.
Für den Beginn sollte man sich daran halten, dass die Sicht auf SF als antik durch seine Nähe zur Fantastik gestützt wird. Die Betonung der relativen Neuheit hingegen stützt sich auf die Verbindung der Literatur mit Wissenschaft und Technologie und deren Systematisierung im 19. Jahrhundert. Diese gegensätzliche Verbindung Fantastik-Wissenschaft macht sich in vielen Bereichen der SF bemerkbar.
Glücklicherweise unterscheiden sich die meisten Theorien lediglich darin, dass sie eine bestimmte Ära als Beginn festlegen, und lassen sich daher gut chronologisch einordnen, was ich im Folgenden angehe. Es liegt nahe, die Geschichte der SF nach diesen verschiedenen Zeitaltern festzulegen, die sich grob in 5 Epochen einteilen lassen. Diese lassen sich nochmals in zwei Gruppen eingliedern. Die erste Kategorie „Lange Geschichte der SF“ widmet sich der Entstehungsgeschichte und deren verschiedener Ansätze und der zweite Block „kurze Geschichte“ konzentriert sich auf die Entwicklungsstufen der modernen Sf.
Als Startschuss wird die Theorie der „mystischen“ Science Fiction behandelt, die der Science Fiction als Literatur das bei weitem höchste Alter zuordnet. Darauf folgt die These der „Kopernikanischen“ Science Fiction, die den Ursprung des Genres als eng verbunden mit der neuen Weltanschauung des Kopernikus sieht. Schließlich folgt die Auffassung, SF sei Kind der Industriellen Revolution. Eng damit verbunden ist die Auslegung der SF als „junges“ Literatur-Genre, das die Geburt der SF in der modernen, von US-Amerika beeinflussten Entstehung der „Genre-Sf“ sieht. Durch ihre geschichtliche Nähe zueinander sind die letzten beiden Thesen Objekt heißer Diskussionen. Tatsächliches Erstlingswerk, dessen Datum und Autor der den Anbruch in die Ära der modernen SF auslöst, variiert von Fachmann zu Fachmann. Unterdessen lässt sich zumindest eine Übereinkunft postulieren: Spätestens ab 1926, durch Hugo Gernsbacks Genre-Definition, gilt die SF als das „moderne“ Genre, das es heute ist.
Bleibt noch die bisherig letzte Periode zu erwähnen, nämlich die der postmodernen SF, die an die moderne SF anknüpft. Allerdings ist auch hier Vorsicht geboten. Die Bezeichnung der Zeitabschnitte als lediglich „modern“ und „postmodern“ kann irreführend sein, denn tatsächlich erfährt die SF auch im 20. Jahrhundert enorme Veränderungen, die sich, wie wir sehen werden, in den verschiedenen Subgenres niederschlagen.
Versucht man den Ursprung und die Vorgänger der SF zu finden, so erlaubt eine der Sichtweisen auf die SF, deren Spuren bis in die frühesten literarischen Werke der Menschheit zurückzuführen. Diese Sichtweise betont, dass die SF sich aus Fantastik, Religion, Mythen und Sagen sowie philosophischen Spekulationen zusammengesetzt hat.
Da die Science Fiction allerdings im besonderen Maße eine Verbundenheit mit Wissenschaft und Technologie beherbergt, stellt sich die Frage: Wo steckt die Wissenschaft in den alten Sagen und Legenden, die angeblich Vorgänger der SF sein sollen?
Hernúñez begegnet diesem Punkt geschickt mit einer weiteren Frage: „Wann beginnt die Wissenschaft?“ (Vgl. Hernúñez, 2012, S. 28). Die Antwort, die er darauf gibt, scheint zunächst paradox, entpuppt sich aber als logisch. Zum einen bestätigt er die Jugend des Genres indem er zugibt, dass zweifelsfrei die industrielle Revolution und „los consiguientes progresos científicos y técnicos“ das Aufblühen der „ciencia ficción“ im 19. Jahrhundert erklären (Ebd.). Zum anderen weist er jedoch auch darauf hin, dass „no puede ignorarse que antes la ciencia existía, aunque se llamase alquimia, y antes magia“ (Ebd.).
Wichtige Punkte, die daraus deutlich werden, sind, dass die Wissenschaft ein, dem Menschen inhärenter Wesenszug ist und schon seit Anbeginn der Literatur zu finden ist, wenn auch im Kleid der Alchemie oder Magie. Je mehr Wissen in der realen Welt angehäuft wurde, desto mehr konnte die Magie in der Literatur durch dieses Wissen ersetzt werden. So entwickelten sich aus fantastischen Geschichten, Science Fiction Geschichten.
Die SF ist somit ein antikes Genre mit weitreichenden Vorläufern. Das ist eine Auffassung, die unter anderem durch Gunn unterstützt wird. Laut ihm hat die Science Fiction „strong roots in fairy tale“ (Gunn, 2009, S.18). Fernerhin fügt Aguilera hinzu: „[L]os espacios desconocidos siempre son completados por la fantasía“, womit die Fantasie in der SF immer dann Fuß fasst, wenn die Wissenschaft keine Erklärung mehr findet, also zumindest im Hintergrund allgegenwärtig ist (Aguilera, 2006, S. 1).
Der zweite Punkt der in Hernúñez's Erklärung deutlich wird, ist die Veranschaulichung des sich stetig verändernden Charakters der SF, indem er die Epoche der vielleicht extremsten Wandlung des Genres hin zur „modernen SF“, fokussiert. Auch trifft er eine Unterscheidung zwischen moderner und „vor-moderner“ SF, die Methode, die sich meiner Meinung nach durchgesetzt hat, da sie die vor-moderne oder „Proto-science fiction“ mit dem Genre verbindet, jedoch Spielraum zum Verdeutlichen von Unterschieden lässt (Martín Rodríguez, 2012, S. 2). Als Proto-Science Fiction gilt laut Clute und Nicholls alles was vor 1926, also vor der Entstehung der Genre-SF, geschrieben wurde (Vgl. Clute und Nicholls, 1993, S. 965).
Das früheste von Hernúñez gefundene Werk, das sich der Proto-Science Fiction zuordnen lässt, ist der Gilgamesh Epos, der schon vor mehr als 3.700 Jahren geschrieben wurde (Hernúñez, 2012, S. 19). Zum Großteil fantastisch und sagenhaft, enthält der Epos jedoch ein Element, das klar der SF zuzuordnen ist. Und zwar baut „el héroe sumerio Gilgamesh“, der weder Gott noch Dämon, sondern ein ganz „normaler“ Mensch ist, mit seinen eigenen Händen ein riesiges Schiff (Hernúñez, 2012, S. 19). Der Mensch übernimmt somit die Rolle des „Erschaffers“ und Erfinders, der in den frühen Jahren etwas „unbeholfen“, auch des Öfteren mal mit Hilfe von Magie, später mit immer mehr wissenschaftlicher Basis die Grenzen des Möglichen überwindet. Somit wohnt der Grundgedanke der SF bereits dem Gilgamesch Epos inne. Des weiteren merkt Koon an, dass in Gilgamesh „apocalyptic themes“ zu finden sind (Koon, 2010, S. 7). Diese Verarbeitung der Apokalypse oder besser „the dream of the apocalypse“ ist laut Ketterer „the myth of science fiction“ (Ketterer, 1974, S. 15). Den Begriff der Apokalypse möchte ich hier kurz erläutern, denn er wird nicht (nur) streng auf die biblische Idee der Apokalypse bezogen[9], sondern auch metaphorisch aufgefasst: „[T]he myth of the end of man, of the transcencendence or transformation of the human“ (Ebd.). Im weiteren Sinne behandelt die Apokalypse damit nicht nur die Auslöschung des Menschen im Sinne eines gewalttätigen Akts, sondern auch seine mögliche Evolution auf eine andere Ebene des Seins, mit der der Mensch, so wie er sich heute auffasst, nicht mehr existieren wird oder kann[10].
Ein besonderes Thema, die Reise zum Mond, Vorgänger des heute in der SF üblichen „vuelo espacial“, tauchte bereits in den „ancestrales leyendas chinas“ und dem hinduistischen Mahabarata auf und diente als immer wiederkehrendes Thema in der Entwicklungsgeschichte der SF (Moreno und José, 1999, S. 71). Ob diese Werke nun SF-Werke sind oder lediglich Erzählungen aus denen die SF später maßgebliche Eckpunkte extrahieren wird, ist und bleibt Inhalt fachmännischer Diskussionen. Spuren der Themen derer sich die SF bedient, können, so Nicholls, sogar soweit verfolgt werden, dass ihre „origen se pierde en los antiguos mitos de la tradición oral“ und sie damit als so alt gelten können, wie die Literatur selbst (Hernúñez, 2012, S. 29). Dieser Meinung gegenüber steht der Gedanke, die vor-antike Literatur sei zu universell um genaueres festhalten zu können.
Im Gegensatz zu Hernúñez glaubt Alpes den Beginn der SF erst in der Antike zu finden, da Werke wie Homer[11] und der Gilgamesh Epos Archetypen sind, die jede Literatur für sich beanspruchen kann (Vgl. Alpes, 1980, S. 27). In der Antike hatte sich die Literatur schon etwas mehr spezialisiert, und Verwandtschaften zur SF sind leichter auszumachen, denn
„seit der Zeit des klassischen Griechenland besteht ein beträchtlicher Teil der Literatur aus phantastischen Reisen, Utopien, Satiren, Spekulationen, Märchen und Sagen. In ihnen allen sind mehr oder weniger rudimentäre Formen der späteren SF und Fantasy enthalten. […] die man heute zu den Vorfahren der SF zählt” (Alpes, 1980, S. 28).
In Zustimmung erklärt Hernúñez, die griechische Mythologie „superabunda“ in Verweisen auf SF inhärente Themen, wie beispielsweise die Geschichte von „Pigmalión“, der seine Frauenstatue so perfekt aus-modelliert, dass sie zum Leben erwacht (Hernúñez, 2012, S. 36). Zugegebenermaßen ist die Technik nicht ausgereift, aber die Idee „tote Materie“ zum Leben zu erwecken, erinnert, von technischer Seite aus betrachtet, stark an den Bau eines Androiden. Weiterhin findet sich gemäß Hernúñez in „Dédalo“ der klassische Erfinder wieder, der Automaten, die hölzerne Kuh von „Pasífae“, das Labyrinth von Kreta und schließlich ein Fluggerät aus Adlerfedern baute (Hernúñez, 2012, S. 35).[12] Als besonders wichtig für die in den kommenden Jahrhunderten folgende SF, sind jedoch die Utopien und phantastischen Reisen hervorzuheben. Plato's Republik gilt hierbei als erste Utopie, die wissenschaftliches Material einfließen lässt, ein Sachverhalt der später von Thomas More wieder aufgegriffen wird (Vgl. Bailey, 1974, S. 24). Mehr noch gilt, Platos Republik (380-370 v. Chr.) übt gemeinhin einen Einfluss auf die ihm folgenden „utopian writers“ aus (Booker und Thomas, 2009, S. 75). Er schildert eine theoretische Zivilisation, „los Atlantes“, fortgeschritten, im Reichtum schwimmend und ein „imagen de la sociedad perfecta“, die durch eine Erdumwälzung vernichtet werden (Hernúñez, 2012, S. 36). Besonders sein fundamentales politisches Prinzip der Herrschaft durch die „enlightened elite“, kurz gesagt, die Philosophen, findet sich dabei in utopischen als auch anti-utopischen[13] Nachfolgern wieder (Booker und Thomas, 2009, S. 75). Allerdings sein Plädoyer, die individuelle Freiheit zum größeren Wohlergehen aller zu opfern, stößt eine später viel behandelte Diskussion an und steht verdeutlichend für eine inhärente Problematik des utopischen Modus im Zusammenspiel von Gesellschaft und Individuum (Vgl. Ebd.). Eine der ersten Geschichten der Raumfahrt wird bereits 165 n. Chr. In Lukianos von Samosatas Wahre Geschichten illustriert und gilt damit als Vorreiter der späteren „Voyages Imaginaires“ Frankreichs im 18. und 19. Jahrhundert (Vgl., Alpes, 1980, S. 28). Hernúñez fügt an, „de toda Antigüedad“ sei „Luciano“ der stärkste Repräsentant der „protociencia ficción“, in dessen „ La historia verídica“ es den Protagonisten unter anderem auf den Mond verschlägt und er dort eine Zivilisation von Außerirdischen kennen lernt (Hernúñez, 2012, S. 39, f.). Somit finden wir das SF-Thema des Außerirdischen bereits in der Antike diskutiert. Allerdings gerät dieses bald durch den „oscurantismo“ des Mittelalters in Vergessenheit bis schließlich die „viajes cósmicos in der Renaissance wieder einen Aufwind erfahren (Moreno und José, 1999, S. 71).
Der nächste wichtige Schritt in Richtung moderne SF nimmt seinen Ursprung in den wissenschaftlichen Arbeiten von Nikolaus Kopernikus, die das Ptolemäische geozentrische Weltbild durch das heliozentrische Weltbild ersetzten, was gewaltige Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Menschen und seines Umfeldes hatte (Vgl. Stanford Encyclopedia of Philosophy, 22.03.2014). Laut dem Routledge Companion to Science Fiction wird genau dieser Umstand als Grundlage der SF gesehen. Der Beginn der SF wird an die kolossale Veränderung des mittelalterlichen Weltbildes und das Aufkommen der wissenschaftlichen Erklärung und Beweisführung durch Kopernikus (um 1600) geknüpft (Vgl. Bould, 2009, S. 4). Die SF wird damit in der Basis mit dem neu erkannten Weltbild (die Erde kreist um die Sonne, die Möglichkeit anderer erdähnlicher Planeten im Universum) und der zugehörigen Erforschung des Universums mittels wissenschaftlicher Methodik verbunden. Und so schlägt sich die „Copernican revolution“ in der SF nieder, da sie „in some sort of defining relationship“ mit der Wissenschaft existiert (Bould, 2009, S. 4). Aufgrund dieser Beziehung argumentiert Bould, dass die SF in dem Moment zum Vorschein kommt, in dem auch die Wissenschaft, so wie wir sie heute verstehen, beginnt (Vgl. Bould, 2009, S. 4).
Wie schon in den vorherigen Ursprungstheorien sichtbar, steht auch hier zur Diskussion, welches Werk und welcher Autor als Initialzündung für die SF gelten sollten. Zu den prominentesten Anwärtern zählen Thomas More, Johannes Kepler und Francis Bacon. Das gesagt, sollte angemerkt werden, dass spätestens ab den Zeitpunkt, an dem die Wissenschaft aus heutigem Standpunkt als solche erkannt wird, auch viele der SF Schreiber als Wissenschaftler tätig waren und mit den neusten Theorien und Erkenntnissen vertraut waren. Unter dieser Voraussetzung erscheint auch logisch, dass die SF Autoren nicht als Einzelkämpfer gesehen werden sollten die mit ihren Ideen allein auf weiter Flur standen, sondern aus einem wissenschaftsbewussten Umfeld stammten.
So konstatieren Brake und Hook, dass Keplers Somnium[14], der erste SF Text überhaupt, publik wird, kurz bevor Galilei seine Erfindung das Teleskop fertigstellt und somit das neue Universum, welches das Teleskop enthüllen wird, antizipiert. (Vgl. Brake und Hook, 2007, S. 245). Kepler, der ebenso als Wissenschaftler tätig war, zeigt eine parallele Ideenentwicklung zu Galilei auf (Vgl. Scholes und Rabkin, 1982, S. 134). Beide forschten, aufbauend auf den Ideen von Kopernikus, die „geometría astronómica“ vorantreibend und die „errores de Cópernico“ korrigierend, woraus unter anderem die heute geltenden „leyes del movimiento planetario“ entstanden (Scholes und Rabkin, 1982, S. 134). Aufbauend auf der Forschungsarbeit von Galilei und Kepler wird Newton später unter anderem das Gesetz der universellen Gravitation entwickeln, womit er wiederum Grundsteine für die Arbeiten Albert Einsteins und dessen Relativitätstheorie legt (Vgl. Scholes und Rabkin, 1982, S. 135, f.).
Keplers Somnium gibt das Universum, wie es von Kopernikus dargestellt wurde, wieder, übt eine Zurschaustellung der „new physics“ aus und öffnet als „space voyage of discovery“ ganz nebenbei eines der Hauptthemen der SF, nämlich die Begegnung mit dem Außerirdischen oder besser gesagt dem Anderen (Vgl. Brake und Hook, 2007, S. 248). Damit vereint er den „fictional travelogue“ aus der Zeit der griechischen Antike mit der neuen Weite des Universums und deren möglichen Bewohnern.
Neben Kepler wird auch Thomas More und seinem Werk Utopia (1516) nachgesagt, dass es Züge der SF in sich trägt. Bailey erkennt, dass Utopia seit Platos Republik das erste Schriftstück mit utopischem und wissenschaftlichem Inhalt ist (Vgl. Bailey, 1974, S. 24).
Außerdem kann es als erstes europäisches Buch mit einem modernen Bewusstsein und der entsprechenden Zeitauffassung gesehen werden, in dem die Anfänge des Kapitalismus, durch die Veränderung des Produktionsmodus hin zur Massenanfertigung, den Zustand unserer Existenz vollkommen verändern (Vgl. Gunn, 2009, S. 27). Laut Gunn reflektiert More damit erste Anzeichen des Wandels von Feudalismus zu Kapitalismus, der seine Anfänge in der Gesellschaft des 17. Jahrhunderts haben würde (Vgl. Ebd.). Die moderne Wissenschaft formte einen essenziellen Teil dieser Revolution und mit ihr entwickelte sich die SF (Vgl. Ebd.). Dieser Sachverhalt spiegelt sich in Francis Bacons Schrift New Atlantis wieder, die eine utopische Gesellschaft beschreibt, die sich auf experimenteller Wissenschaft gründet und sich dank Wissenschaft und Technik in ständiger Entwicklung befindet, was eine gewaltige Bewusstseinsveränderung verdeutlicht, bedenkt man, dass die Gesellschaft in Utopia noch von Unveränderlichkeit geprägt war (Vgl. Gunn, 2009, S. 27).
Somit skizzieren die „fictional travelogues“ und Utopien von More, Kepler, Bacon, Godwin und Bergerac (nur um die bekanntesten zu nennen) den Weg des „scientific triumph“ auf literarischer Ebene (Brake und Hook, 2007, S. 252). Damit einher geht die Nutzung der „scientific method“[15], die von hier an auch im literarischen Bereich in ein stärkeres Licht rückte (James, 2003, S. 15). Wie hier schon in der Unterteilung Utopie - fiktionaler Reisebericht (Abenteuergeschichte) zu sehen ist, kann die Science Fiction nicht als Genre im engeren Sinne behandelt werden. Vielmehr wuchs und wächst sie aus der Verflechtung unterschiedlicher Genres zusammen (Vgl. Clute und Nicholls, 1993, S. 314). Im Falle des 17. Jahrhunderts waren das noch zum Großteil Utopie und in zunehmenden Maße der fiktionale Reisebericht, der seine Inspiration aus tatsächlichen Reiseberichten zog, die wiederum metaphorisch in der SF genutzt wurden um die Verbindung von Wissenschaft und dem sich entwickelnden Kapitalismus darzustellen.
Wieso die Wissenschaft im Kapitalismus eine Rolle spielt lässt sich bereits in den frühsten Anfängen desselben erkennen, da die Möglichkeit Langzeitseereisen[16] große Teile des Planeten für den europäischen Handel und damit für den kapitalistischen Modus öffnete (Vgl. Brake und Hook, 2007, S. 246). Eine große Rolle spielte der ökonomische Faktor. So wurde beispielsweise mithilfe der Astronomie und Geographie für bessere Navigationsgeräte gesorgt, damit durch bessere Navigation mehr Zeit und dadurch Geld gespart werden konnte (Vgl. Ebd.).
Aufgrund der langen Reisen musste im Vorhinein eine bessere Planung vorgenommen werden, was zur Systematisierung von vielen Lebensbereichen führte. Dies betraf auch mehr und mehr die Wissenschaft, die immer exakter wurde und in neue Bereiche vordrang, was sich wiederum auf die SF auswirkte. Daher bleibt anzumerken: Die SF existierte zwar schon vorher, aber mit der industriellen Revolution wird sie systematisiert und zum ersten Mal als wirklich eigenständig vom Fantastischen und Mythischen angesehen.
Des Weiteren sorgte die schnelle technologische und damit auch gesellschaftliche Veränderung, die zum ersten Mal innerhalb der Lebensdauer eines Menschen auftrat, dafür, dass so mancher begann, sich eine Zukunft vorzustellen, die von seiner gegenwärtigen oder vergangenen Position abweicht (Vgl. Gunn, 2009, S. 27). Als Resultat all dieser Veränderungen hatten sich bis zum 18. Jahrhundert die grundlegenden Themen der SF für die Autoren geöffnet: Darunter zählt Gunn die Raumfahrt, wundersame Erfindungen und Entdeckungen und die Zukunft (Vgl. Gunn, 2009, S. 27). Damit können alle Werke, die unter diese Kategorien fallen zur SF oder „scientific romance“ gerechnet werden, solange sie versuchen ihre Spekulationen auf der zeitgenössischen Wissenschaft zu gründen (Bould, 2009, S. 6).
Wie zuvor erwähnt, werden diese langen Entwicklungsjahre der Wissenschaft, und damit auch der SF, eher als innereuropäisch verbundene Phänomen gehandelt und weniger als regional abgeschottete Besonderheiten. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sicherlich spielt eine Rolle, dass das Gefühl des „Nationalstaates“, wie er heute existiert, zur damaligen Zeit nicht so verbreitet war, schon gar nicht unter den Wissenschaftlern, die rege innereuropäische Kontakte führten.
Beherzigen wir diese Annahme und betrachten nun gesondert Spanien im nach-kopernikanischen Zeitraum, so ist festzustellen, dass auch hier Anzeichen für eine Entwicklung der SF zu identifizieren sind. Obwohl Díez ein karges Bild zeichnet was die SF dieser Etappe angeht, so findet er doch einen kuriosen Vorgänger, „una novela útopica de Antonio de Guevara, El libro áureo de Marco Aurelio o Relox de Príncipes (1527)“, der die innereuropäische Verbundenheit verdeutlicht (Díez, 2003, S. 3).
Bould fügt dem ein weiteres utopisches Werk eines spanischen Autors hinzu, denn Juan Luis Vives veröffentlichte bereits ein Jahr zuvor „Subventions for the Poor (1526)“, darin einen (fiktiven) Plan für einen utopischen Sozialstaat in seinem Heimatland Spanien beschreibend (Bould, 2009, S. 10). In Anbetracht dessen, dass Sir Thomas Mores Utopia 1516[17] publiziert wurde, kann man Boulds Ausspruch „More's new genre caught on fairly quickly“ ungehindert zustimmen, da ihm zufolge Juan Luis Vives „borrowed explicitly from More“ (Bould, 2009, S. 10). Ich behaupte, selbige Beziehung zu More kann auch für die utopische Novelle von Antionio Guevara geltend gemacht werden. Demnach lässt sich festhalten, dass der englische Schriftsteller More beiden Autoren bekannt war, was ein klares Indiz für innereuropäische Kommunikation darstellt.
Die Präsenz eines dritten Textes, Crotalón, geschrieben im gleichen Jahrhundert und 1552 anonym veröffentlicht (Bould, 2009, S. 6), demonstriert, dass ebenfalls in Spanien die Entwicklung der SF ihre Spuren hinterließ, auch wenn diese nicht so zahlreich sein sollten wie in anderen Ländern. Besonders interessant wird Crotalón dadurch, dass es dem zu seiner Zeit noch jungen kopernikanischen Weltbild favorisierend gegenübersteht. Diese Favorisierung wird deutlich durch die Perspektive des Textes, in dem der Protagonist vom Mond auf die Erde herabschaut um die menschliche Dummheit satirisch zu kritisieren (Vgl. Bould, 2009, S. 7). Dazu sollte erklärt werden, die Perspektive vom Mond auf die Erde wird erst durch das kopernikanische Weltbild möglich, da erst dieses den Weltraum für (hypothetische) Reisen öffnet. Dadurch entsteht natürlich auch ein Konflikt mit der Kirche, die noch am alten Weltbild festhält. Die Macht der Kirche und Inquisition in Spanien im 16. Jahrhundert erklärt somit, weshalb es der Autor dieses Werkes vorzog anonym zu bleiben.
Indessen ist auch klar, Spanien befindet sich im 16. und 17. Jahrhundert auf der Höhe der Zeit. Das Königreich ist Weltmacht, was sich auch in der SF belegt, die dadurch nochmals ihren Reflektionscharakter beweist. Dies wird schon im Titel von „Francis Godwin's space-journey adventure” klar: „The Man in the Moon or, a Discourse of a Voyage Thither by Domingo Gonsales, the Speedy Messenger (1638)” (Bould, 2009, S. 6). Allein die Tatsache, dass Godwin einen Spanier als Protagonisten wählt, sagt einiges über die politischen Machtverhältnisse der Epoche aus. Die Spanier (und die Portugiesen) galten in der Zeit in der Godwin schrieb als Herren der Weltmeere, „ejemplos de viajeros“ der „superpotencia de la época“ was sie zu perfekten Protagonisten für seine Abenteuergeschichte machte (Sainz-Cidoncha, 1976, S. 85). Diese Dynamik finden wir heutzutage umgekehrt. Seit der Gernsback Ära üben die USA einen enormen Einfluss auf die SF Literatur aus, darüber hinaus gelten sie als einer der fortschrittlichsten Staaten, wozu die Mondlandung Mitte des 20. Jahrhunderts nicht wenig beitrug. Sainz-Cidoncha merkt dazu an, dass heute aus dem selben Grund die spanische SF „protagonistas con nombre anglosajon“ bevorzugen, da diese führend in den „exploraciones astrales“ sind (Sainz-Cidoncha, 1976, S. 85). Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Protagonisten der spanischen SF des 20. und 21. Jahrhunderts zu Hauf englisch-anmutende Namen tragen und die Autoren, zumindest zeitweise, auf englisch-klingende Pseudonyme zurückgriffen.
Abgesehen von der Vormachtstellung der Spanier in der Seefahrt spielen andere Faktoren eine größere Rolle darin, warum die Präsenz der SF-Vorgänger in Spanien so dürftig ist.
Díez beschreibt sie als „peculiaridades de la idiosincrasia local“, die sich durch die spanische Geschichte ziehen und die unter anderem das Desinteresse an der Wissenschaft an sich beinhalten (Díez, 2003, S.2). Außerdem herrsche eine „desconfianza“ der Spanier gegenüber der Fantastik (Sánchez-Conejero, 2009, S. 137). Diese äußert sich in einer der bekanntesten spanischen Schriften aus dem 17. Jahrhundert, dem Don Quijote, dessen Wahnsinn durch das Lesen von fantastischen Büchern erklärt wird (Vgl. Santoro Domingo, 2006, S. 318). Dieses lächerlich machen der Fantasie bezeugt die lange spanische Tradition des „mistrust of fantasy“ und der Präferenz des Realismus in der Literatur (Vgl. Santoro Domingo, 2006, S. 318). Als letzten Grund fügt Díez die mangelhafte literarische Qualität vieler Werke bis in die Achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts an, die eine Ablehnung des Genres in gewisser Weise verständlich machen würde (Vgl. Díez, 2003, S.2).
Sicherlich lässt sich einiges dieser sogenannten lokalen Eigenart auf die religionspolitischen Verhältnisse dieser Zeit beziehen. Die religiösen Machthaber standen der Wissenschaft und damit auch der SF kritisch gegenüber. Viele wissenschaftliche Neuerungen waren in der katholischen Kirche nicht gerne gesehen, da sie ihr Weltbild und ihre Machtposition zu erschüttern drohten.
Somit möchte ich formulieren, dass die durchgängige Neigung der spanischen Gesellschaft zum Realismus und die, über den Weltveränderern drohende Inquisition Hauptfaktoren für die spärliche Produktion von Science Fiction sind. Hinzu kommt im Ausklang des Siglo de Oro der Verlust der Weltmachtstellung und der damit verknüpfte Niedergang, deren Probleme in einer vom Realismus geprägten Literatur Niederlegung finden und kaum Platz für Science Fiction – Träumereien lassen. Schauen wir im Vergleich nach Großbritannien im selben Zeitraum, so sehen wir, dass genau diese zwei Faktoren sich entscheidend gegenüberstehen. Während in Spanien die katholische Kirche als unangefochtener Machthaber verbleibt, fördert der in Nordeuropa auflodernde Protestantismus ein liberaleres, freieres, wissenschaftlicheres und „fantastisches“ Denken, da sich hier solcherlei Diskussionen für den Verfasser als wesentlich weniger riskant entpuppen (Vgl. James, 2003, S. 16). Außerdem markiert der Verfall des spanischen Weltreiches den Aufstieg des Vereinigten Königreiches mit einer dazugehörigen positiven zukunftsgerichteten, vielleicht sogar träumerischen Denkweise, die sich mit spanischer Melancholie kontrastiert.
Diese zukunftsgerichtete Denkweise wurde durch die zunehmende Industrialisierung, vor allem im 19. Jahrhundert, aber auch schon zuvor, gefördert. Die sozialen Verhältnisse und der einsetzende Kapitalismus, vor etwa 300 Jahren, ermöglichten eine mit der Zeit immer schnellere Technologisierung einhergehend mit enormen gesellschaftlichen Veränderungen, die beide wiederum in großem Maße vom „capitalist mode of production“ abhängig sind (León, 2011, S. 123). Schlobinski und Siebold sehen dabei vor allem die “Herausbildung neuer technischer Berufe”, die eine “interessierte Leserschaft” mit sich brachten, als begünstigend für die SF und werten somit, “bei aller Heterogenität ihrer literaturgeschichtlichen Bezugspunkte und Quellen”, die SF vor allem als “Reaktion auf die Entfaltung des modernen Industriezeitalters” (Schlobinski und Siebold, 2008, S. 102).
Lombardo fasst die Ereignisse der Epoche passend zusammen, indem er auf Clute verweist: „For Clute, the beginnings of science fiction coincide with the emergence of the idea of secular progress and the belief in realistically possible progressive changes in the future due to sciene and reason.“ (Lombardo, 2008, S. 11). Allerdings fügt er einen wichtigen Punkt hinzu, den man bedenken sollte. Das Industriezeitalter scheint ihm weniger der Beginn, als eine Periode der drastischen Veränderung der SF zu sein: „What changed in the modern era were the standards of knowledge and truth. In Europe and elsewhere, in the pre-scientific era, truth was based upon faith and belief in holy texts, as well as prophesies and divine revelations“, womit er Quellen nennt, die nach modernen Standards als der Fantastik zugehörig angesehen werden (Lombardo, 2008, S. 11). Infolgedessen kann alle vorhergehende SF-ähnliche Literatur mehr als fantastische, magische Erzählung und weniger als tatsächliche SF gesehen werden. Das ist eine Sichtweise, die auch Scholes und Rabkin unterstützen, wenn sie angeben, dass „algunos historiadores han tratado de encontrar antecedentes más antiguos de la ciencia ficción”, darunter die imaginären Reiseromane und utopischen Novellen, dies aber als sekundär einordnen neben der Bedeutsamkeit der „mutación que constituye su específica cualidad genérica” aufgrund derer die “ciencia ficción” eine “forma literaria inequívocamente moderna” ist (Scholes und Rabkin, 1982, S. 16). Es waren vor allem der technologische Fortschritt und die fantastischen Möglichkeiten, die die Zukunft damit bot und die immer mehr an Realitätsnähe zunahmen, die dafür sorgten, dass neue Erzählformen (wie die SF) auftauchten. (Vgl. Scholes und Rabkin, 1982, S. 16).
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