Bachelorarbeit, 2017
43 Seiten, Note: 1,7
1. Einleitung
2. Sucht
2.1 Sucht und Abhängigkeit – Begriffsbestimmung
2.2 Psychoaktive Substanzen
2.3 Hintergründe und Entstehungszusammenhänge
2.3.1 Bio-psycho-soziales Modell
2.3.2 Neurobiologische Modelle
2.3.3 Psychoanalyse der Sucht
2.3.4 Sucht durch Komorbidität
3. Suchtselbsthilfe
3.1 Meilensteine der Entwicklungsgeschichte
3.2 Gruppen und Verbände heute
3.3 Definition
4. Wirksame Prinzipien und Prozesse in Selbsthilfegruppen
4.1 Prinzipien der Selbsthilfegruppe
4.2 Prozesse und Aktivitäten
4.3 Umgang mit Rückfällen
5. Selbsthilfe und Soziale Arbeit
6. Fazit
Literatur
Abbildung 1: Bio-Psycho-Soziales Modell (Eigene Darstellung)
Sucht und Abhängigkeit ist ein allgegenwärtiges Thema in unserer Gesellschaft. Laut des Bundesministeriums für Gesundheit sind 4,7 Millionen Menschen in Deutschland abhängig von Alkohol, Medikamenten oder illegalen Drogen. Das Ministerium bezieht sich dabei auf die repräsentativen Zahlen des Epidemiologischen Suchtsurvey 2015, dessen Hochrechnungen zur Folge etwa 1,8 Millionen erwachsene Menschen in Deutschland alkoholabhängig sind, während 1,6 Millionen Menschen einen missbräuchlichen Konsum betreiben. Weitere 2,3 Millionen Menschen gelten als abhängig von Medikamenten, rund 600.000 Menschen von Cannabis und anderen illegalen Drogen (vgl. Bundesministerium für Gesundheit 2017). Bilitza bezieht auf die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen, deren Erhebungen zur Folge 7,8 Millionen Menschen einen riskanten Konsum mit Alkohol aufweisen, davon 1,5 Millionen Menschen mit einer Alkoholabhängigkeit und 2,4 Menschen mit behandlungsbedürftigem missbräuchlichem Konsum. Sucht gilt damit als eine der häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland (vgl. Bilitza 2009: 16). 74.000 Menschen sterben jährlich an den Folgen von Alkoholkonsum, 140.000 Menschen an den Folgen des Tabakrauchens, einer oft unterschätzen, weil allgemein akzeptierten Droge. Tretter geht davon aus, dass mit zwei Angehörigen pro Person hinzugerechnet etwa 18 Millionen Menschen in Deutschland von der „Volkskrankheit“ Sucht betroffen sind (vgl. Tretter 2016: 4). Da Suchtkrankenhilfe ein Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit ist, entstehen hierüber Berührungspunkte auch zur Selbsthilfe, obwohl diese per Definition ohne professionelle Helfer auskommt. Dabei ist die Effizienz der Suchthilfe immer stärker davon abhängig, wie gut es gelingt, betroffene Menschen sowohl sozial wie auch beruflich zu integrieren. Der (Wieder-)Aufbau tragfähiger sozialer Netzwerke und die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben sind entscheidend für den Erfolg von Suchtbehandlungen. Selbsthilfegruppen haben große Potenziale für die psychosoziale Versorgung und die Re-Integration Suchtkranker, dies ist zum einen erkennbar an der immer stärkeren Verbreitung von Selbsthilfegruppen, die im dritten Kapitel der Arbeit Betrachtung findet. Für Deutschland wird angenommen, dass ungefähr die Hälfte aller Alkoholabhängigen schon einmal eine Selbsthilfegruppe aufgesucht hat, das sind nach Schätzungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen ca. 550.000 bis 750.000 Menschen (vgl. Fuchs et al. 2012: 259). Ihr hoher Nutzen für Betroffene, aber auch für das gesamte Gesundheitssystem, hat dazu geführt, dass Selbsthilfe zum heutigen Zeitpunkt sowohl auf struktureller Ebene durch Selbsthilfekontaktstellen als auch auf finanzieller Ebene durch die Förderungsrichtlinien beispielsweise der Krankenkassen, unterstützt wird. Selbsthilfe hat sich vor allem im Suchtbereich als eigenständiger Bestandteil in der therapeutischen Kette von Beratung, Therapie und Nachsorge etabliert, wodurch es auch im Interesse der Disziplin der Sozialen Arbeit ist, die Potenziale von Selbsthilfe zu erfassen und zu erforschen.
Daher möchte ich im Rahmen dieses Beitrags der Fragestellung nachgehen, welche Bedeutung Suchtselbsthilfegruppen für die Krankheitsbewältigung Suchtkranker haben. Unter Krankheitsbewältigung wird hier das Erreichen einer „zufriedenen und dauerhaften Abstinenz“ verstanden. Die Erfolge von Suchtbehandlungen werden oftmals am Indikator der Rückfälligkeit gemessen, dies ist jedoch eine verkürzte Sichtweise, denn alleine das Suchtmittel wegzulassen ist noch kein Zeichen für tatsächliche Gesundung. Vielmehr bedarf es weitreichender Veränderungen im psychosozialen Umfeld, für viele geht es darum, ein neues Netzwerk zu finden, Zugehörigkeit und Anerkennung zu erfahren und einen neuen Sinn im Leben zu finden, was auch mit der spirituellen Ausrichtung vieler Suchtselbsthilfegruppen korrespondiert. Weitere Themen sind die eigene Erkrankung anzuerkennen und zu akzeptieren, mit den spezifischen Tücken der Suchterkrankung umgehen zu können und auch Krisensituationen und Rückfälle zu meistern. Vor allem in den Gruppen der Anonymen Alkoholiker spielt die Krankheitseinsicht eine wesentliche Rolle. Die Beantwortung der Frage erfolgt auf der Basis einer literaturbasierten Forschung. Da es sich um eine Arbeit im Rahmen des Studiums der Sozialen Arbeit handelt, wird eine gendersensible Sprache verwendet. Im ersten Teil werden neben allgemein gültigen Definitionen von Sucht und Abhängigkeit sowie den Diagnosekriterien nach dem ICD-10 (Kapitel 2.1), die Hintergründe und Entstehungszusammenhänge von Suchterkrankungen erläutert (Kapitel 2.3). Besondere Betrachtung findet das neurobiologische Modell sowie psychoanalytische Annahmen zur Suchtgenese. Das Kapitel zur Suchtselbsthilfe beginnt mit einem historischen Abriss (Kapitel 3.1), in dem die wesentlichen Meilensteine in der Entwicklung hervorgehoben werden. Daran anschließend erfolgt eine Betrachtung der Suchtselbsthilfe-Landschaft in Deutschland heute (Kapitel 3.2) und eine Definition für Selbsthilfegruppen (Kapitel 3.3). In Kapitel 4 werden wirksame Prinzipien und Prozesse herausgearbeitet und der Umgang mit Rückfällen in der Selbsthilfe thematisiert. Im vorletzten Kapitel wird dem Zusammenhang zwischen Selbsthilfe und Sozialer Arbeit (Kapitel 5) nachgegangen, bevor im anschließenden Fazit (Kapitel 6) eine kritische Würdigung des vorgelegten Beitrags erfolgt.
Das Kapitel „Sucht“ beginnt mit einer Definition der Begrifflichkeiten Sucht und Abhängigkeit sowie den Diagnosekriterien nach dem ICD-10 (Kapitel 2.1). Im Weiteren folgt eine Erläuterung zu psychotropen Substanzen, deren Wirkungen und einigen gesellschaftlichen Aspekten zu Drogen (Kapitel 2.2). Im Anschluss werden ausgewählte Modelle zur Entstehung einer Alkohol- bzw. Drogenabhängigkeit dargestellt (Kapitel 2.3).
Der Bedeutung nach kommt der Begriff „Sucht“ nicht, wie man vielleicht meinen könnte, von „Suchen“ sondern von „siechen“ was so viel wie „Krankheit“ bedeutet. Von dieser ursprünglichen Bedeutung stammen Begriffe wie Gelbsucht oder Schwindsucht oder aber auch „Trunksucht“ (vgl. Heckmanna 2013: 944). Gleichwohl scheint eine Assoziation von „Sucht“ und „Suchen“ nicht abwegig – so beschreibt Heinz-Peter Röhr das Suchtphänomen nach 30 Jahren psychotherapeutischer Tätigkeit in einer Fachklinik für Suchtkranke als eine „Hungerkrankheit“ – die Suche, nach Liebe und Anerkennung, die gleichwohl einem inneren Loch sei, dass sich nicht füllen ließe (vgl. Röhr 2007: 11). Für Gross steht fest, dass hinter jeder Sucht eine Sehnsucht steckt; „Die Suche nach Sinn – nach Sinnlichkeit und nach Sinnhaftigkeit“ (vgl. Bell-D’Avis 2005: 10). Tretter assoziiert Sucht und Suche vor dem Hintergrund des süchtigen Verhaltens, das auch als Antrieb zum Suchen nach einem anderen Zustand oder einer anderen Welt verstanden werden kann (vgl. Tretter 2017: 107). Eine Assoziation der Begriffe Sucht und Sehnsucht findet auch bei Teischel statt, der Philosoph und Psychotherapeut ist der Ansicht, dass Krankheit, so auch Sucht, die verzweifelte Sehnsucht eines Menschen nach Angenommen sein ist (vgl. Teischel 2014: 8). Eben dieses Angenommensein finden süchtig abhängige Menschen in ihrer Droge, die ihnen als Ersatzobjekt für Liebe und Geliebtwerden dient (vgl. Tretter 2017: 107). Soweit die philosophischen und psychoanalytischen Assoziationen, die sich beliebig fortführen ließen und bereits bei Freud eine Rolle spielten, der in der Droge das „ideale Liebesobjekt“ sah. Tatsächlich beschreiben viele süchtige Menschen ihre Droge als den Teil in ihrem Leben, der immer für sie da gewesen sei (vgl. z.B. Röhr 2007 15ff).
Der als umgangssprachlich eingestufte Begriff der Sucht wurde 1969 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durch den Begriff der Abhängigkeit ersetzt. Der Begriff Abhängigkeit konnte sich jedoch im deutschen Sprachraum nicht durchsetzen, Sucht ist daher nach wie vor ein gängiger Begriff in der Fachliteratur und wird auch in dieser Arbeit Verwendung finden (vgl. Kitzinger 2015: 28). Zum Begriff „Sucht“ oder auch Abhängigkeit oder Abhängigkeitssyndrom gibt es unterschiedliche Definitionen, die in ihrem Kern aber den gleichen Vorgang/Zustand beschreiben. Im medizinischen Sinn wird Sucht definiert, als ein seelischer eventuell auch körperlicher Zustand, der dadurch gekennzeichnet ist, dass ein Mensch trotz körperlicher, seelischer oder sozialer Nachteile ein unüberwindbares Verlangen nach einer bestimmten Substanz oder einem bestimmten Verhalten empfindet, das er nicht mehr steuern kann und von dem er beherrscht wird (Sauermann 2017: 894).
Der Suchtforscher Wanke definiert Sucht als „ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand, dem die Kräfte des Verstandes untergeordnet werden. Es verhindert die freie Entfaltung der Persönlichkeit und mindert die sozialen Chancen des Individuums“ (Tretter 2012: 5). Beide Definitionen betonen die Schwierigkeit der Kontrolle über das Verlangen (unüberwindbar/unabweisbar), das nicht mehr gesteuert werden kann, sowie die Beschädigung der Entfaltung der Persönlichkeit und die Entstehung sozialer Nachteile durch die Sucht. Es sind dies die zentralen Merkmale einer jeden Suchterkrankung, unabhängig davon, um welche Droge es sich handelt. Süchtiges Verhalten tritt insbesondere im Zusammenhang mit dem Gebrauch psychoaktiver Substanzen auf. Es handelt sich dann um „stoffgebundene“ Süchte, wie Alkoholsucht, Heroinsucht, Nikotinsucht etc. Es kann sich aber auch in Bezug auf eine bestimmte Tätigkeit entfalten, wie Spielsucht, Kaufsucht oder Ess-Brechsucht. Es wird dann von stoffungebundenen oder auch Verhaltens-Süchten gesprochen (vgl. Tretter 2012: 3; Bell-D’Avis 2005: 19). Allgemein werden verschiedene Stadien süchtigen Verhaltens unterschieden, Tretter unterscheidet in: gelegentlich – gewohnheitsmäßig – Missbrauch – schädlicher Gebrauch – und Abhängigkeit, wobei die Übergänge fließend und einzelne Stadien mitunter schwer voneinander abzugrenzen sind. Diese Stadien werden in der Fachliteratur üblicherweise in Bezug auf Alkoholkonsum beschrieben. Der gelegentliche Konsum gilt dabei weitestgehend als ungefährlich, solange er sich auf niedrige Dosen bezieht. Der gewohnheitsmäßige, zum Beispiel tägliche Konsum von Alkohol gilt als „Vorstadium zur Sucht“ (vgl. Tretter 2017: 3), Missbrauch beschreibt einen Konsum in hohen Dosen, der über den bestimmungsgemäßen Gebrauch hinausgeht. Schädlicher Gebrauch liegt vor, wenn bereits körperliche, psychische oder soziale Beeinträchtigungen vorliegen. Missbrauch und schädlicher Gebrauch gehen außerdem oft mit einer Funktionalisierung des Suchtmittels einher, zum Beispiel „Alkohol als Seelentröster“. Abhängigkeit beschreibt schließlich einen Zustand, bei dem der oder die Betroffene nicht mehr in der Lage ist, den Konsum zu steuern oder längere Abstinenzphasen einzuhalten (vgl. Tretter 2012: 4f; Tretter 2017: 3f).
Abhängigkeit
Zur Feststellung, wann eine Sucht/Abhängigkeit vorliegt, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Kriterien festgelegt und die gängigen Definitionen operationalisiert. Nach dem ICD-10 (Internationale Klassifikation psychischer Störungen) der WHO soll eine Diagnose "Abhängigkeitssyndrom" nur dann gestellt werden, wenn bei einer betroffenen Person während des letzten Jahres mindestens drei der folgenden Kriterien gleichzeitig vorhanden waren:
1. Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, ein Suchtmittel zu konsumieren.
2. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums des Suchtmittels.
3. Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums.
4. Nachweis einer Toleranz: Um die ursprünglich durch niedrigere Mengen des Suchtmittels erreichten Wirkungen hervorzurufen, sind zunehmend höhere Mengen erforderlich.
5. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Interessen und Vergnügen zugunsten des Suchtmittelkonsums und/oder erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen.
6. Anhaltender Substanzgebrauch trotz des Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen (körperlicher, psychischer oder sozialer Art). (vgl. Dilling/Freyenberg 2010: 77f)
Im DSM-IV, dem „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ werden vergleichbare Kriterien genannt (vgl. Batra et al. 2012: 13). Da das Verhalten in der Regel trotz entstehender Nachteile aufrechterhalten wird, handelt es sich um ein krankheitswertiges Geschehen. Ein weiterer wesentlicher Aspekt von Abhängigkeit ist das Übermaß, in dem die bestimmte Substanz konsumiert wird; Abhängigkeit geht in der Regel mit einem Hochdosis-Konsum einher, der bedingt ist durch die Entwicklung einer Toleranz, d.h., es müssen immer höhere Dosen konsumiert werden, um den gleichen Effekt zu erzielen. Es tritt zudem oft eine Eigendynamik des süchtigen Geschehens auf: „das Erkennen dieser negativen Effekte ist für den Betroffenen schwer erträglich, es wird abgewehrt und verursacht bei Konfrontation damit sogar oft erneuten Suchtmittelkonsum“ (Tretter 2012: 5).
Stoffgebundene Süchte, um die es auch in diesem Beitrag geht, entstehen im Zusammengang mit dem Gebrauch psychoaktiver Substanzen, im allgemeinen Sprachgebrauch wird hierbei von Drogen gesprochen. Die WHO hat eine Definition des Wortes „Droge“ vorgenommen. Diese lautet:
Eine Droge ist eine psychoaktive Substanz, d.h. ein Stoff, der auf das Zentralnervensystem wirkt. Drogen in diesem Sinn sind alle Stoffe, Mittel, Substanzen, die aufgrund ihrer chemischen Natur Strukturen oder Funktionen im lebendigen Organismus verändern, wobei sich diese Veränderungen insbesondere in Sinnesempfindungen, in der Stimmungslage, im Bewusstsein oder in anderen psychischen Bereichen oder im Verhalten bemerkbar machen (Barsch 2016: 29).
Diese Definition weist eine Droge ganz allgemein als etwas aus, dass in der Lage ist, Veränderungen beim Konsumenten hervorzurufen. Diese Veränderungen werden von Konsument*Innen in der Regel als positiv empfunden; Drogen sind somit Stoffe, die Lust steigern oder Unlust dämpfen und damit einen Einfluss auf das emotionale Erleben ausüben (vgl. Bell-D’Avis 2005: 14).
Systematisierung
Zur Systematisierung von Drogen hat es unterschiedliche Versuche gegeben; eine auch im Alltagsverständnis gebräuchliche ist die der Unterscheidung zwischen legalen und illegalen Drogen. Zu den legalen Drogen oder auch Suchtmitteln gehören Alkohol, Medikamente und Tabak. Zu den illegalen Heroin, Cannabiniode, Kokain, Halluzinogene, Amphetamine, Meth-Amphetamine und andere psychotrope Substanzen, wie zum Beispiel Lösungsmittel (vgl. Kitzinger 2015: 29). In der Fachliteratur wird eine Systematisierung von Drogen typischerweise nach der von ihnen überwiegend hervorgerufenen Wirkung vorgenommen. Demnach erfolgt die Einteilung in:
- Stimulanzien mit überwiegend aktivierender Wirkung wie Amphetamine, Kokain
- Sedativa und Hypnotika mit überwiegend sedierender Wirkung wie Heroin, Benzodiazepin, aber auch Alkohol
- Halluzinogene mit überwiegend psychodysleptischer / psychotogener , d.h. Halluzinationen hervorrufender Wirkung wie LSD, Mescalin, PCP und THC
- Entaktogene wie Ecstasy mit überwiegend harmonisierender Wirkung, Konsument*Innen fühlen sich im völligen Einklang mit sich und ihrer Umwelt (vgl. Tretter 2017: 40f.)
Während der Konsum von legalen Drogen wie Tabak und Alkohol weitestgehend akzeptiert wird, selbst dann, wenn er ein schädliches Ausmaß erreicht hat, werden Konsument*Innen illegaler Drogen in der Regel gesellschaftlich ausgegrenzt und stigmatisiert. Dies ist besonders im Fall von Heroinkonsum und Abhängigkeit zu beobachten. Typischerweise kommt es im Verlauf einer Abhängigkeit zum Mischkonsum und darüber gegebenenfalls zu einer „Mehrfachabhängigkeit“, man spricht in diesem Zusammenhang auch von Polytoxikomanie (vgl. Tretter 2012: 14).
Suchtpotenzial
Das Suchtpotenzial einer Droge gibt Aufschluss darüber, wie stark „süchtig machend“ eine Droge auf den Menschen wirkt. Es ist die Quote derer, die aktuell das Suchtmittel konsumieren (so genannte Monatsprävelenz) bezogen auf diejenigen, die jemals in ihrem Leben das Suchtmittel konsumiert haben (Lebenszeitprävelenz). Die Quote gibt somit Aufschluss darüber, wie viele der „Probierer“ letztlich abhängig werden. Mit Abstinenzraten von gerade einmal 30% haben Nikotin und Heroin gegenüber beispielsweise Cannabis ein erhebliches Suchtpotenzial (vgl. Tretter 2012: 15). Es ist jedoch nicht die biochemische Wirkung der Droge allein, die Abhängigkeit kausal herstellt, sondern immer auch die „psychische Struktur“ (Rost 2009: 29) der Drogenbenutzer*Innen. Daher wird in der modernen Suchtforschung auch nicht mehr von suchterzeugenden, sondern von suchtfördernden Substanzen gesprochen (vgl. Bell-D’Avis 2005: 13).
Drogen als Aspekt von Lebensstil
Drogen haben sich in der Gesellschaft etabliert sind somit auch ein „Aspekt von Lebensstil“. Es hat sie in allen Epochen in nahezu allen Gesellschaften gegeben. Der Umgang mit ihnen, welche Substanzen präferiert werden, in welchem Setting und an Hand welcher Rituale der Konsum erfolgt und in welchen Mengen er toleriert und akzeptiert wird, ist kulturell geprägt (vgl. Degkwitz 2002: 21f). Substanzkonsum zielt dabei in erster Linie auf Rauscherfahrung, auf „aus dem Alltag herausgehobene Erfahrungen“ (Sting 2014: 1598), die ein grundlegendes menschliches Bedürfnis sind. Rauscherfahrungen werden dabei meist in Gruppenzusammenhänge eingebettet und mit spezifischen Erwartungen verknüpft, wie Entspannung, Entgrenzung, Spass und Geselligkeit, wodurch die Substanzwirkung wesentlich beeinflusst wird. Der eigentlich Sinn, so konstatiert Sting, ist das Gemeinschaftserlebnis, die gemeinsame Rauscherfahrung und die „Entgrenzung des Selbst zugunsten intensiver Gruppenerlebnisse“ (Sting 2014: 1598). Das Bedürfnis nach solchen Erfahrungen ist „bis in die Anfänge des Alkoholgebrauchs in unserer Kultur zurückzuverfolgen“ (Sting 2014: 1598) und spielt angesichts der Verbreitung der „Kulturdroge Alkohol“ auch heute noch eine gewichtige Rolle in unserer Gesellschaft, bezieht sich aber je nach Subkultur auch auf andere Substanzen. Drogen und Drogenkonsum stehen demnach – vor allem im Jugendalter - auch für die Überwindung von Isolation, für Zugehörigkeit zur eigenen Peergroup bei gleichzeitiger Abgrenzung vom beispielsweise dem Elternhaus. In Peergroups, die einen Umgang mit Drogen haben, werden „Rituale für den Umgang mit Substanzen und Erklärungsmuster für Rauscherlebnisse weitergegeben“ (Sting 2014: 1598), wodurch Rauscherfahrungen einen sozialintegrativen Aspekt erhalten.
„Die WHO spricht von [Drogenabhängigkeit – M.B.] als einer Form der Interaktion zwischen Individuum, Droge und Gesellschaft“ (Heckmann 2013b: 220 – Hervorheb. Im Orig.). Die Frage nach der Entstehung der Sucht ist daher eine interdisziplinäre, die bis heute noch nicht zufriedenstellend beantwortet werden konnte. Vielmehr gibt es unterschiedliche Modelle und Erklärungsansätze, die einen je anderen Aspekt betrachten (vgl. Deimel 2013: 19; Feuerlein et al. 1998: 16). Als übergeordnetes Modell gilt das bio-psycho-soziale Modell, das vor allem auf Feuerlein zurückgeht (vgl. Feuerlein et al. 1998: 16).
Das bio-psycho-soziale Modell bedient sich der oben genannten Trias von Person (Persönlichkeit), Umwelt und Droge und spannt dadurch den Rahmen auf, in den sich alle Bedingungsfaktoren einordnen lassen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Bio-psycho-soziales Modell (eigene Darstellung)
Wie auf der Abbildung zu sehen gibt es drei große Faktorengruppen:
1) Die Umwelt/Gesellschaft, bzw. das konkrete soziale Umfeld
Ausschlaggebend sind Milieu und Kultur sowie Akzeptanz und Verbreitung von Drogengebrauch, Einfluss von Peer-Groups, Verfügbarkeit. Diese Faktoren auf der Makroebene (Gesellschaft) erklären, wie es zum Konsum kommt, die Entstehung von Abhängigkeit mögen sie allein nicht erklären. Milieutheoretischen Konzepte betonen außerdem die Vorbildfunktion von Peer-Groups und des familiären Umfelds in Bezug auf Drogengebrauch (Uchtenhagen 2000: 194).
2) Die Droge
Merkmale der Droge sind die spezifische Wirkung der Substanz, die sich wiederrum aus ihren physikalischen und chemischen Eigenschaften ergibt, außerdem das ihr innewohnende Suchtpotenzial (siehe auch Kapitel 2.2) (vgl. Feuerlein 1998: 16)
3) Und die Person
Zu den Merkmalen der Person zählen biologische Faktoren, wie beispielsweise eine „genetische Disposition“ zur Abhängigkeit oder eine „substanzspezifische Vulnerabiltät“, die das Suchtrisiko prägen kann. Hinzu kommen psychische Faktoren, wie eine depressive oder ängstliche Persönlichkeitsstruktur. Es sind sowohl genetische als auch lebensgeschichtliche Einflüsse, die hier zum Tragen kommen (vgl. Feuerlein 1998: 16). Eine genetische Disposition ist eine durch Vererbung der Vorfahren bedingte Veranlagung zur Entwicklung einer Krankheit, in diesem Fall einer Abhängigkeitserkrankung (vgl. Hoyer/Wittchen 2011: 720). Die These wurde vor allem in Bezug auf Alkoholabhängigkeit geprüft und durch Befunde aus der genetischen Epidemiologie, insbesondere aus Zwillings- und Adoptionsstudien gestützt: „Nachkommen alkoholkranker Elternteiler haben [demnach – M.B.] ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit, auch wenn sie ohne Kontakt mit den biologischen Eltern in einer Adoptivfamilie aufgewachsen sind“ (Uchtenhagen 2000: 194). Bei der Durchführung von Zwillingsstudien konnte außerdem bezüglich einer Abhängigkeitsdiagnose eine Konkordanz-Rate von 41% bei eineiigen und 24% bei zweieiigen Zwillingen festgestellt werden. Die Konkordanz-Rate definiert „den Grad der Übereinstimmung z.B. bei Zwillingen hinsichtlich bestimmter Merkmale“ (Hoyer/Wittchen 2011: 720). Aus der erhöhten Rate für eineiige Zwillinge lässt sich wiederrum auf eine genetische Disposition schließen (vgl. Hoyer/Wittchen 2011: 720). Lebensgeschichtliche Einflüsse beziehen sich auf traumatische Erfahrungen, insbesondere körperlichen und sexuellen Missbrauch im Kindes- oder Jugendalter (vgl. Tretter 2016: 8)
Die Beiträge aus der neurobiologischen Suchtforschung sind der Übersichtlichkeit wegen und da es sich hier um ein klassisches Modell handelt separat aufgeführt, ließen sich aber ebenso gut als Aspekte im bio-psycho-sozialen Modell verorten. Das neurobiologische Modell wird an dieser Stelle sehr ausführlich betrachtet, da es erhebliches Erklärungswissen für die lange Persistenz von Suchterkrankungen liefert, die wiederrum Auswirkung auf die Arbeit bzw. die Relevanz von Selbsthilfegruppen hat.
Grundlage für dieses Modell ist zum einen der „neurochemisch begründbare Belohnungseffekt des Stoffes“ (Tretter 2012: 15), bzw. der Wirkort der Droge und zum anderen die natürlichen Reiz-Reaktions-Muster in Bezug auf einen positiv empfundenen Reiz. Das süchtige Verhalten beruht dabei zunächst auf einer sehr menschlichen Neigung, „etwas Lustvolles und/oder Unlustminderndes besonders gerne zu tun bzw. eine besonders hohe Affinität gegenüber solchen Objekten der Umwelt zu entwickeln“ (Tretter 2005: 3). Psychoaktive Substanzen sind Stoffe, die genau eine solche Wirkung hervorrufen: Sie steigern Lust oder dämpfen Unlust, indem sie auf das limbische System oder auch „Belohnungssystem“ wirken, „dem Teil des Gehirns, der für Gefühle und Stimmungen verantwortlich ist“ (Bell-D’Avis 2005: 14). Alle suchtfördernden Substanzen aktivieren direkt oder indirekt dieses Belohnungssystem (vgl. Feuerlein 1998: 92). Der hier wirksame, zentrale Botenstoff ist das Dopamin, dessen Konzentration durch die Einnahme der Droge manipuliert wird: Entweder erhöht sich die Dopamin-Ausschüttung oder dessen Abbau wird verhindert. In beiden Fällen erhöht sich seine Konzentration am Wirkort. Durch die erhöhte Dopaminkonzentration stellt sich eine übermäßig starke Aktivierung des Belohnungssystems ein die letztendlich den Rausch erzeugt – die Konsument*Innen fühlen sich gut (vgl. Bell-D’Avis 2005: 14-15; Feuerlein 1998: 92). Die Wirkung der Droge erzeugt somit einen positiven Effekt auf das Erleben der Konsument*Innen, zum Beispiel in Form von sofortiger Entspannung oder Anregung. Negative Nebeneffekt treten meist zeitverzögert oder zunächst gar nicht auf. Dieser Belohnungseffekt wirkt als positiver Verstärker – die Konsequenz auf das Verhalten „Konsum“ wird als positiv erlebt, wodurch ein erneutes Auftreten dieses Verhaltens wahrscheinlicher wird. Das zugrunde liegende Prinzip dieses Mechanismus ist die operante Konditionierung, man spricht auch von „Lernen am Erfolg“ (vgl. Tretter 2012: 39).
Dieses Modell erklärt Sucht ohne die Einbeziehung psychischer Faktoren und erklärt so, warum auch „psychosozial unauffällige“ (ebd. 40) Menschen eine Suchterkrankung entwickeln können. Trotzdem ist es nicht so, dass alle Menschen, die jemals die entspannende Wirkung von Alkohol erfahren haben, abhängig werden. Dieser Lernprozess wird noch von anderen Faktoren begünstigt, wie zum Beispiel „der Qualität des Nüchternerlebens im Verhältnis zum Rauscherleben“ (Tretter 2017: 78). Menschen mit einer depressiven Disposition oder einer depressiven oder ängstlichen Persönlichkeitsstruktur haben ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Suchterkrankung. Beide Störungen zeigen Defizite im Dopamin-System im Sinne einer Unterfunktion, so dass durch die Substanzeinnahme überhaupt erst ein Gleichgewicht hergestellt wird. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von der „Hypothese der Selbstmedikation“, wenn betroffene Konsument*Innen beispielsweise ihre Depressivität mit Kokain „behandeln“. Eine solche Neigung zu Depressionen bzw. Angst ist bei etwa 50% der Abhängigen erkennbar und deshalb in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen (vgl. Tretter 2012: 35).
Durch das sogenannte „Signalllernen“ werden auch weitere, neutrale Reize, zum Beispiel eine bestimmte Musik, mit dem „relevanten“ Reiz – der Drogeneinnahme, gekoppelt. Dieser Vorgang funktioniert nach dem Prinzip der klassischen Konditionierung: Der relevante Reiz (Droge) wird hierbei mit „Kontextfaktoren“ gekoppelt, die zeitgleich oder in zeitlicher Nähe des Konsums auftauchen und hierdurch einen „Signalcharakter“ bekommen, zum Beispiel das Geräusch beim Öffnen einer Bierflasche, das dann zum Signal für Biertrinken wird. Es kommt zur Kopplung zwischen dem unkonditionierten Reiz (Droge) und dem konditionierten Reiz (Geräusch) (vgl. Tretter 2012: 40; Tretter 2017: 78). Diese Lern- und Konditionierungsprozesse sind nachweislich am Aufbau eines individuellen Suchtgedächtnisses beteiligt, dass dazu führt, dass selbst nach abgeschlossenem körperlichem Entzug und längerfristiger Entwöhnung mit sicher geglaubter Abstinenz die ‚längst vergessen‘ geglaubte Verhaltensweise [der Sucht – M.B.] in bestimmten Schlüsselsituationen erneut reaktiviert werden und damit einen Rückfall auslösen kann (Böning 2002: 276).
Ein solcher Schlüsselreiz muss nicht zum Rückfall führen, wird aber in der Regel zumindest ein Craving auslösen, worunter ein exzessives Verlangen nach der Droge verstanden wird, ein Antrieb zur Drogeneinnahme, der sich mit zunehmendem Drogengebrauch verstärkt bzw. hieraus entsteht (vgl. Tretter 2017: 93; 108). Es ist demnach auch der Substanzkonsum an sich, der am Aufbau des Suchtgedächtnisses beteiligt ist. Denn neben der Steuerung von Befindlichkeiten ist das limbische System auch für das Lernen lebenserhaltender Maßnahmen verantwortlich: „Nur was irgendwie emotional besetzt ist, wird auf Dauer auch gelernt“ (Bell-D’Avis 2005: 15). Auch der Drogenmissbrauch wird auf diese Weise gelernt; „Die entlastende, angststillende Wirkung der psychoaktiven Substanz gräbt sich tief ins Gedächtnis ein. Bei Situationen des Dopamindefizits wird daher die Erinnerung aktiviert, dass das Suchtmittel gut tut und die Entzugserscheinungen heilt“ (Bell-D’Avis 2005: 15) Es sind diese Lernprozesse, die wesentlich zum Aufbau einer psychischen Abhängigkeit beitragen. Die Erkenntnisse aus der biologischen und neurobiologischen Suchtforschung sind deshalb von Bedeutung, weil Sie erklären, warum die meisten Suchtkranken nur über die Herstellung einer zufriedenen Abstinenz von der Sucht genesen können. Ein kontrollierter Konsum ist kaum möglich, weil die Sensibilisierung bestimmter Hirnareale das spezifische Suchtgedächtnis erzeugt, das auch nach längerer Zeit wieder aktiviert werden kann. Kommt es in der Reaktion hierauf zum Konsum, erfolgt bei vorheriger Abstinenz meist ein Kontrollverlust.
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