Bachelorarbeit, 2018
48 Seiten, Note: 1,7
1. Einleitung
2. Biographische Details
3. Literaturhistorische Einordnung
4. Begriffserklärungen
4.1 Intertextualität
4.2 Montage/Collage
5. Döblins Kunstverständnis und seine Romantheorie
6. Aufbau des Romans
7. Die Montagetechnik im Roman Berlin Alexanderplatz
7.1 Reale Figuren im fiktiven Kontext
7.2 Die Montage als Mittel zur Darstellung der Großstadt
7.3 Die Sprache als Montage
7.3.1 Die „herrenlose Sprache“
7.3.2 Dialekt und Slang als Montage
7.4 Symbole und Leitmotive
7.4.1 Das Radio
7.4.2 Das Hiobsmotiv
7.4.3 Der Schlachthof
7.4.4 Die Hure Babylon
8. Die Montagetechnik im Film
8.1 Verfilmung von Piel Jutzi ( 1931)
8.1.1 Die Fahrt mit der Elektrischen
8.1.2 Die Marktszene
8.1.3 Jutzis Umgang mit dem Erzähler
8.2 Verfilmung von Rainer Werner Fassbinder (1980)
8.2.1 Ton und Kameraführung
8.2.2 Umgang mit montiertem Material
9. Schlussfolgerung
10. Literaturverzeichnis
10.1 Primärliteratur
10.2 Filmquellen
10.3 Sekundärliteratur
Diese Arbeit beschäftigt sich mit Alfred Döblins Großstadtroman Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte des Franz Biberkopf und zwei seiner Verfilmungen, dem Spielfilm von Piel Jutzi aus dem Jahr 1931 und der Fernsehverfilmung aus dem Jahr 1980. Der Fokus liegt dabei auf dem Einsatz der Montagetechnik im Roman, woraufhin dann die Frage gestellt wird, ob und wie diese Montagetechnik in den Verfilmungen wiederzufinden ist. Bevor ich mich ausgewählter Passagen im Text und im Film widme, werde ich allerdings zuerst auf einige biographische Details Alfred Döblins eingehen, ohne dabei einen vollständigen Lebensverlauf zu erbringen. Dann werde ich mich kurz damit befassen, inwiefern es relevant ist, den Text literaturhistorisch einzuordnen. Daraufhin werde ich dann einige Schlüsselbegriffe der Arbeit erläutern und auf Döblins Kunstverständnis und Romantheorie eingehen, bevor ich mich dann mit ausgewählten Textpassagen beschäftige und dann schlussendlich zu den Filmen komme. Bei der Behandlung der Filme wird es nicht darum gehen, Handlungsunterschiede zum Buch aufzuzeigen, sondern darum, zu erarbeiten, wie der Film mit der von der Montage im Roman erzeugten Wirkung umgeht.
Obwohl Berlin Alexanderplatz kein autobiographischer Roman ist, scheint es sinnvoll, einige Aspekte aus Döblins Lebenslauf mit Blick auf den Roman zu erwähnen, da diese Aufschluss über seine Kunstansichten und die Themen des Romans geben. Alfred Döblin wird im Jahr 1878 in Stettin geboren. Allerdings sind Geburtsort und Datum ihm nicht so wichtig wie die Koordinaten seiner Ankunft in Berlin, wie er selbst sagt:
Also, ich bin vor vierzig Jahren nach Berlin gekommen, nachdem ichvorher geboren bin. Ich kam in Berlin in einem Zustand an, der sich nicht sehr unterscheidet von meiner Geburt, zehn Jahre vorher, in Stettin. Es war gewissermaßen eine Nachgeburt. Es hat aber keiner etwas davon gemerkt. (Ich bin ja wirklich in Stettin nur vorgeboren.)1
Über Stettin sagt er „Ich stelle fest, daß ich in dieser Seestadt geboren bin, möchte es aber ebenso wie die Stadt dabei bewenden lassen“2.
An diesen Zitaten lässt sich klar erkennen, dass die Großstadt Berlin eine zentrale Rolle in Döblins leben gespielt hat. Dies ist einer der Gründe für das Verfassen des Großstadtromans Berlin Alexanderplatz. Auch das Motiv der Zweitgeburt kann man durchaus im Roman wiederfinden. So vergleicht Harald Jähner Biberkopfs Betreten Berlins mit einer Geburt, mit einem „Eintreten in die Welt“3. Die Figur des Franz Biberkopf steht buchstäblich auf der Schwelle zum Leben und, wie ein Kleinkind, scheint er das Sprechen erlernen zu müssen, indem er anfangs nur einzelne Laute von sich gibt, und mit der Zeit komplexere Ausdrücke formuliert, bis er schlussendlich vollständige Sätze formuliert.4 Wenn man dies nun in Anbetracht der Aussagen die Döblin über seine eigene Ankunft in Berlin gemacht hat betrachtet, kann man durchaus einen Vergleich herstellen zwischen der scheinbaren Geburt Biberkopfs beim Betreten Berlins nach seiner Entlassung und Döblins erster Ankunft in Berlin.
Zudem ist erwähnenswert es, dass Döblins Ankunft in Berlin ebenfalls aufgrund einer familiären Krise erfolgt, bei der es um Auseinandersetzungen zwischen seinen Eltern ging5, während Biberkopf aus dem Gefängnis entlassen wird. So kann man also durchaus sagen, dass beide aus einer Krise kommend in die Großstadt eintreten und daraus schließen, dass Döblin hier ein autobiographisches Element verarbeitet hat.
Von 1900 bis 1905 studiert Döblin Medizin und im Jahr 1905 arbeitet er an einer psychiatrischen Anstalt.6 Hieraus lässt sich das Interesse Döblins an medizinischen Themen herleiten, was auch in Berlin Alexanderplatz erkennbar ist, da der Protagonist zeitweilig in einer psychiatrischen Anstalt ist.7 Ohne hier genauer darauf einzugehen, kann man auch die These aufstellen, dass der Montagestil, den Döblin benutzt, von seinen Interessen an der Wahrnehmung und am Wirken der Welt auf den Menschen inspiriert ist. In seiner Beschreibung des Geschehens steht nicht das aktive Handeln des Protagonisten im Vordergrund, stattdessen wird er zum passiven Beobachter. Jähner schreibt: „die Bewegung, die Biberkopf initiiert verkehrt sich in die Bewegung der Welt, deren Objekt er wird“8. So bewegt sich die Welt um ihn während der Fahrt mit der Elektrischen, die Dächer drohen abzurutschen und die Häuserfronten rinnen.9.
Ebenfalls auf seine medizinischen Tätigkeiten zurückzuführen, und zugleich auf seine alltäglichen Erfahrungen in Berlin, sind die Personen, die in seinem Roman auftreten. Theodore Ziolkowski beschreibt diese Figuren als „Verbrecher, Zuhälter, Dirnen und andere Gestalten aus den unteren Ständen mit denen Döblin so vertraut war“10. Döblin äußerte sich hierzu wie folgt: „Mein ärztlicher Beruf hat mich viel mit Kriminellen zusammengebracht[...]Ich hatte auch früher eine Beobachtungsstation für Kriminelle.“11
Um 1900 lernt Döblin Herwarth Walden, einen jungen Schriftsteller aus dem Osten, und durch ihn viele andere junge Schriftsteller kennen. Sie haben viele Gemeinsamkeiten was ihre Ansichten der Kunst und ihre Abneigung gegenüber Klassizismus und Traditionalismus anbetrifft.12 Zusammen veröffentlichen Sie die expressionistische Zeitschrift Der Sturm, in der Döblin sehr aktiv tätig war. Hierbei ist zu bemerken, dass der Begriff Expressionismus bis Ende des ersten Weltkrieges nicht als Bewegungs- oder Stilrichtung geläufig war, obschon er 1911 ein erstes mal von Kurt Keller auf die Literatur übertragen wurde.13 Döblin war so aktiv beteiligt an der Veröffentlichung der Zeitschrift, „daß er ausländischen Besuchern gegenüber offenbar als Repräsentant der deutschen Literaturrevolution auftreten konnte“.14 Allerdings entfernte sich Döblin recht schnell auf künstlerischer Ebene von der Sturmgesellschaft, die sich nach der Veröffentlichung seines ersten Romans Die Drei Sprünge des Wang-Lun perplex zeigten.15 Döblin selbst äußert sich dazu im Epilog:
Wir blieben aber freundschaftlich verbunden. Sie entwickelten sich ganz zu Wortkünstlern, überhaupt zu Künstlern. Ich ging andere Wege. Ich verstand die drüben gut, sie mich nicht.16
Auch die politischen Ansichten Döblins können bei der Betrachtung seiner Literatur durchaus aufschlussreich sein. Hierbei ist es wichtig zu erwähnen, dass Döblin politisch sozialistisch eingestellt war und sich 1925 an der „Gruppe 1925“, einer Gemeinschaft sozialistischer und kommunistischer Autoren, beteiligt hat.
Allgemein wird das Werk Döblins oft mit dem Begriff „modern“ charakterisiert, wobei sich die Frage stellt, was dieser Begriff eigentlich genau bedeutet. Einen Ansatz der Periodisierung findet man bei Walter Fähnders, der die Periode im Titel seines Buches bereits auf die Zeit von 1890-1933 eingrenzt. Dieser Zeitraum lässt sich wiederum in drei literarische Perioden gliedern. Die erste dieser Epochen ist der Naturalismus und das Fin de siècle, die von 1890 bis 1910 andauert. Darauf folgt der Expressionismus von 1910 bis 1920, und schließlich die Literatur der Weimarer Republik bis 1933.17
Diese Daten umfassen den Großteil von Döblins Lebens- und Schaffenszeit.
Des Weiteren stellt sich nun die Frage, inwiefern und auf welche Weise Döblin an diesen Strömungen teilgenommen hat.
Was den Naturalismus angeht, kann man sagen, dass es das Hauptziel der Naturalisten war, die Natur realitätsgetreu wiederzugeben und dabei die Prinzipien des bürgerlichen Realismus fortzuführen und noch weiter zuzuspitzen.
Man kann durchaus sagen, dass die Intention bei Döblin eine ganz ähnliche ist. 1929 schreibt er Mitteilungen von Fakta, Dokumente Beglücken, aber Dokumente, Fakta, wissen Sie, warum? Da spricht der große Epiker, die Natur, zu mir, und ich, der kleine, stehe davor und freue mich, wie mein großer Bruder das kann. Und es ist mir so gegangen, als ich dies oder jenes historische Buch schrieb, daß ich mich kaum enthalten konnte, ganz Aktenstücke glatt abzuschreiben, ja ich sank manchmal zwischen den Akten bewundern zusammen und sagte mir: besser kann ich es ja doch nicht machen... das ist alles so episch, daß ich gänzlich überflüssig dabei bin18
Dieses Zitat zeigt Döblins Faszination für Fakten und zeigt zugleich, dass in seinem Verständnis, naturgetreue Beschreibungen und Montage nicht gegenseitig exklusiv sind. Im Gegenteil, man kann sogar sagen, dass er die Montage benutzt, um eine originellere Deskription der Großstadt und des Protagonisten zu geben,19 obwohl man sagen muss, dass das Montageverfahren kein typisch naturalistisches Element ist, und auch an verschiedenen Stellen einen surrealistischen Effekt haben kann. Es besteht allerdings auch eine inhaltliche Verbindung zwischen Döblin und dem Naturalismus. Dies sind die Figuren die in seinem Roman auftreten. Wie es im Naturalismus üblich ist, treten auch bei Döblin vor allem Figuren aus unteren Gesellschaftsschichten und Figuren am Rande der Gesellschaft auf, wie beispielsweise Verbrecher, Proletarier, Prostituierte etc. In seinen Aufsätzen zur Literatur richtet sich Döblin allerdings gegen das Mimesis- Prinzip im engeren Sinn: „es ist weder Plan und Absicht der Kunst zu verdoppeln noch nicht zu verdoppeln.“20
In Bezug auf die zweite Epoche der Moderne schreibt Alfred Döblin selbst, dass der Expressionismus und der Dadaismus großen Einfluss auf sein literarisches Schaffen hatten.21 Besonders verbindet ihn mit dem Expressionisten das Interesse an der Großstadt. Dies hatte nicht nur Einfluss auf die Wahl des Themas Berlin, sondern auch auf die Erzähltechnik. Die Wahrnehmung der Großstadt wird nicht als Ganzes beschreiben, sondern durch flüchtige Eindrücke. Sabina Becker schreibt zur Wahrnehmung der Großstadt folgendes:
Reklame-, Plakat- und Beleuchtungskunst treiben die Ästhetisierung der Stadtlandschaft voran [...]. Reklame- und Werbeschilder lassen eine urbane Zeichenwelt entstehen, die mit ihrer Bilderfülle und Reizflut die menschliche Wahrnehmung grundlegend verändern wird.22
Die Montagetechnik eignet sich um eben diese Reizflut darzustellen, und in diesem Kontext sagt Fähnders, dass Collage und Montage im Urbanismus ihren Ursprung haben.23 Somit kann man sagen, dass sowohl seine Abkehr von traditionellen Erzähltechniken als auch der Inhalt seines Romans Döblin mit dem Naturalismus in Verbindung setzt.
Zum literarturhistorischen Kontext lässt sich des Weiteren sagen, dass Döblin oft mit James Joyce in Verbindung gesetzt wird, dessen Ulysses 1927, während der Entstehungsperiode des Romans Berlin Alexanderplatz, erschienen ist. Allerdings lehnt Döblin es ab, diesen Roman als Einfluss oder Vorbild für sein eigenes Werk zu sehen, mit der Begründung, Joyce und Döblin hätten beide ihre Inspiration bei den Expressionisten:
Also wenn ich schon einem folgen und etwas brauchen soll, warum muß ich zu Joyce gehen, dem Irländer, wo ich die Art, die Methode, die er anwendet (famos, von mir bewundert), an der gleichen Stelle kennengelernt habe, wie er selbst, bei den Expressionisten, bei den Dadaisten.24
Im folgenden Teil wird nun auf einige Termini eingegangen, die im weiteren Verlauf der Arbeit von Bedeutung sein können. Da man die Montagetechnik als eine Form der Intertextualität sehen kann, werde ich zuerst auf diesen Begriff eingehen, bevor ich dann auf den Begriff der Montage und den der Collage eingehe.
Die Intertextualität spielt eine bedeutende Rolle bei der Analyse und Interpretation literarischer Texte. Unter diesem Begriff versteht man allgemein die Beziehung zwischen zwei Texten. Sie kann sowohl eine rein ästhetische Funktion als auch eine zielgerichtete Funktion haben, indem sie kritische oder affirmative Stellung zum zitierten Text nimmt oder indem sie Zitate benutzt, um durch sie Kritik zu üben.25 Der Begriff der Intertextualität ist bei der Betrachtung der Montagetechnik insofern relevant, als dass jedes Fragment, das mithilfe der Montagetechnik im Roman zitiert oder referiert wird, ein Beispiel von Intertextualität ist.
Seit der Prägung des Begriffs Ende der 60er Jahr stehen sich zwei Definitionen des Begriffs gegenüber. Eine ist die poststrukturalistische Definition, die vor allem vertreten ist durch Julia Kristeva und Harold Bloom. Diese Defintion postuliert, dass jeder Text in all seinen Elementen intertextuell ist, das heißt auf andere Texte verweist: „Tout texte se construit comme mosaïque de citations , tout texte est absorption et transformation d’un autre texte“26. Harold Bloom spitzt diese Idee noch weiter zu wenn er sagt „There are no texts, only relationships between texts“27 28
Dieser Definition steht eine engere, pragmatischere Definition gegenüber, die den Begriff auf nachweisbare Bezüge zwischen Texten beschränken möchte. Diese Form der Intertextualität ist oft, aber nicht immer, im Text markiert. Man bezeichnet aber nicht nur den Verweis eines Textes auf einen anderen Text als Intertextualität, sondern auch den Verweis eines Textes auf eine literarische Gattung, eine Textsorte, einen Mythos, etc.29
Es ist die letztere, engere Definition des Begriffs, die bei der Analyse der Montagetechnik besonders von Interesse ist, da man sich bei der Analyse dieser Technik vor allem auf die eingebauten, nachweisbaren Textfragmente fokussiert.
Auch wenn der Begriff der Intertextualität erst 1967 erstmals nachgewiesen werden kann ist dies durchaus kein neues Phänomen, sondern reicht bis in die Antike zurück. Allerdings ist die Moderne für die Betrachtung der Intertextualität besonders interessant, denn zu dieser Zeit „entstand im Zusammenhang mit Umschichtungen in Ästhetik und Poetik eine Reihe von Werken, deren Intertextualitätsdichte alles bis dahin Dagewesene überbot“30.
Unter Montage versteht man das „Verfahren zur Produktion von Kunst aus vorgefertigten Teilen und das damit erzeugte Produkt“31. Die Montage besteht aus zwei Schritten: der Fragmentierung und der Kombination. Bei der Fragmentierung werden die Teile ihres ursprünglichen Kontextes entnommen, und dabei zu einem gewissen Grad destruiert, deformiert oder fragmentiert. Bei der Kombination werden sie dann mit anderen Teilen zusammengesetzt. Dabei werden in der Literatur nicht nur Fragmente literarischer Texte benutzt, sondern oft wird auch Material der Presse, der Unterhaltungsindustrie, der Werbung oder anderen Alltagssituationen entnommen.32
Die Bedeutung der Montage zur Entstehungszeit des Romans zeigt sich in Klotz Bezeichnung der Montage als „konstitutives Prinzip der künstlerischen Avantgarde“33.
Die Montagetechnik beschränkt sich allerdings nicht nur auf das Einfügen von Textfragmenten. Mario Slugan nennt noch folgende Merkmale, die in einem erweiterten Verständnis des Begriffs zur Montagetechnik gezählt werden können:
Rapid spatiotemporal dislocations, shifts in focalization, alterations between dialects and languages, changes in types of speech (e.g., indirect, direct and free indirect speech), variations in narratorial perspectives (e.g., authorial, personal and “I“ ), juxtapositions of objective situations and subjective states, oscillations in the level of narrator’s knowledge, stream of consciousness, literary allusions, inserted stories, onomatopoeic segments, orthographic representations of dialect, and the use of actual people in fictional contexts.34
Um eine Verwirrung des Begriffs der Montage zu vermeiden plädiert er dafür, die Montage nicht als Sammelbegriff für all diese Techniken zu definieren, sondern als die Konstruktion die aus ihrem Einsatz resultiert. Des Weiteren nennt er den aus der Montage hervorgehenden Effekt von Geschwindigkeit und Beschleunigung sowie eine schockartige Durchbrechung oder Unterbrechung der Erzählung, welche einen Effekt der Wahrnehmungsstörung erzeugen, als definierende Elemente.35 Dieser Aspekt ist maßgebend, um den Montagestil der Romane des frühen 20. Jahrhunderts von anderen Erzähltechniken zu differenzieren. Slugan argumentiert, dass dies der Grund ist, weswegen man Berlin Alexanderplatz als Montageroman bezeichnen kann, man allerdings bei Autoren des 4. Jahrhunderts, die Gedichte aus bereits bestehenden Versen von Homer, Virgil oder Euripides verfassten, nicht von Montage reden kann. Ein anderes Beispiel zur weiteren Erläuterung dieses Begriffs sind die Einschübe von entfernten Gesprächen in das Gespräch zwischen Rodolphe und Emma in Flauberts Madame Bovary. Diese können laut Slugan ebenfalls nicht als Montage angesehen werden, da ihnen der „störende (disruptive)“36 Charakter der Montagetechnik fehlt.37
Ein weiteres wichtiges Merkmal, das Slugan anführt, um die Montage zu definieren und Döblins Berlin Alexanderplatz von anderen zeitgenössischen Werken wie Joyces Ulysses und Dos Passos Manhattan Transfer zu differenzieren ist, dass die Fragmente in Döblins Roman nicht nur nicht diegetisch erscheinen, sondern auch nicht wirklich vom Erzähler gesprochen werden:
The reason ist that all the ready mades in Dos Passos’s novel are intradiegetically motivated: they are read, seen, spoken, thought, etc. by some diegetic character. In other words, the sources of ready mades are introduced as object in the diegetic world. [...]In Döblin’s novel by contrast, numerous ready-mades not only have no comparable motivation, but also appear not to be uttered by an extradiegetic narrator or, to invoke a more precise term for analytic philosophy, by the controlling fictional narrator. [...] There are even some ready- mades that do not appear to be spoken at all.38
Verschiedene montierte Fragmente in Döblins scheinen also weder diegetisch noch extradiegetisch zu sein, obwohl sie in den Textkörper eingebaut sind.
Die Definition des Begriffs der Collage ähnelt der des Montagebegriffs erheblich. Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft wird sie als „ das Verfahren, mit vorfabriziertem Material zu produzieren, sowie das daraus entstandene Werk“39 definiert. Allgemein wird bei der Differenzierung der beiden Termini in der Forschung davon ausgegangen, dass Montage der Oberbergriff ist und Collage eine bestimmte Form der Montage darstellt. Es gibt keinen Konsens darüber, wie genau die beiden Termini voneinander zu unterscheiden sind. Georg Jäger sieht den Unterschied darin, dass bei der Montage Fragmente der Realität verwendet werden und die Bruchstellen zur Bewusstmachung offengelassen werden, während bei der Collage Fragmente aus der Kunst genutzt werden und die Bruchstellen verwischt und zu einer neuen Komposition verarbeitet werden.40
Viktor Žmegač hingegen sieht den Unterschied zwischen diesen Termini darin, dass bei der Montage die Fragmente mit eignem Material verarbeitet oder konfrontiert werden, während der Text bei der Collage ausschließlich aus Fremdmaterial besteht.41
Für die Untersuchung der Montage in Berlin Alexanderplatz ist Žmegačs Differenzierung nicht erheblich, da sich klar sagen lässt, dass der Roman laut dieser Unterscheidung keine Collage ist, da nicht alle Passagen im Roman sich als Fremdteile identifizieren lassen. Sollte es sich also im Laufe der Arbeit anbieten, den Unterschied zwischen Collage und Montage zu untersuchen, wird dazu die Unterscheidung Jägers in der Definition im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft genutzt. Eine andere Unterscheidung, die Žmegač vornimmt, ist die zwischen der demonstrativen und der integrierenden Montage. Bei der demonstrativen Montage handelt es sich um eine offene Montage, die klar als solche erkennbar ist und die bei der Lektüre einen irritierenden Effekt erzielt, wohingegen bei der integrierenden Montage, wie der Name es suggeriert, die Fragmente nahtlos in den Text eingefügt werden und nicht mehr direkt als solche Erkennbar sind.42 In Döblins Roman Berlin Alexanderplatz handelt es sich zumeist um erstere der beiden Formen.
Der Montagebegriff und die oben genannte Definition können durchaus problematisch sein wenn man ihn auf Literatur bezieht. Die Problematik liegt in der Definition der “vorgefertigten Teile“. Den Begriff der vorgefertigten Teils kann man in der Literatur mit dem Zitat gleichsetzen. Der Begriff des Zitats kann allerdings sehr weit interpretiert werden, da jedes Wort grundsätzlich vorgefertigt, tradiert übernommen wird.43 Diese Problematik leitete Adorno zu der Aussage „Der Mikrostruktur nach dürfte alle neue Kunst Montage heißen“44. Aufgrund dieser Problematik entfällt in manchen Definitionen der Begriff der Vorgefertigtheit. In das Zentrum rückt an seiner Stelle laut Jähner die „Differenz der Montage zur Zentralperspektive des klassischen Romans, dessen geschlossener, illusionistischer und fiktiver Wirklichkeitsraum aufgelöst wird in einem Bild- oder Textraum“45. Das bedeutet also, dass das Hauptmerkmal der Montagetechnik im Unterschied zur traditionellen Erzählerperspektive liegt, von der man sich durch das Einschieben von Fragmenten entfernt.
Zum Unterschied zwischen der Montagetechnik in der Literatur und der Montage im Film ist noch anzumerken, dass man bei der Montagetechnik im Film weniger vom Einsatz von Fragmenten redet, als von einer die Wahrnehmung störenden Form der Schnitttechnik.46 So kann es bei der Analyse der Filme interessant sein, sowohl auf seinen Umgang mit den im Roman eingefügten Fragmenten als auch auf seine Schnitttechnik einzugehen.
In Döblins Erzählung Gespräche mit Kalypso ordnet der Protagonist die Künste hierarchisch an, wobei die Künste, die sich weiter von einer Darstellung der Weltwirklichkeit entfernen, höhergestellt sind. Somit steht auf der untersten Stufe beispielsweise „die dramatische Kunst des Theaters, der Tanz, die Pantomime.“47 Dieser Logik folgend steht die Musik auf der höchsten Stufe, da sie mit der Mimesis nichts zu tun hat und sich nur mit Neuschöpfung befasst. Hierin kann man eine Abkehr Döblins vom Naturalismus der 1890er Jahre erkennen, bei dem die Mimesis noch einen zentralen Stellenwert hatte. Auf der anderen Seite wird im Gespräch mit Kalypso auch die reine Kunst, die Kunst um der Kunst Willen abgelehnt.48 Auch Emotionen haben in der Kunst, wie sie im Gespräch mit Kalypso beschrieben wird, keinen Platz. Sie „kennt nicht Haß, nicht Schmerz, Kummer, Trost oder Liebe.“49
Widersprüchlich zur vorhin beschriebenen Abkehr vom Naturalismus scheint sein Brief an F.T. Marinetti, in dem er betont er habe nichts gegen Naturalisten und für eine Kunst, die „direkt, unmittelbar, [...] gesättigt von Sachlichkeit ist“50, plädiert. Im weiteren Verlauf dieses Briefes wird klar, dass Döblins Kritik sich nicht gegen die Darstellung naturalistischer Themen richtet, sondern gegen eine methodologische Vorgehensweise bei der Darstellung.51 „Methode hat in der Kunst keinen Platz, Wahnsinn ist besser.“52 Zudem kritisiert er an den traditionellen Erzählmethoden, dass sie den Leser überschätzen, da sie ihm die Aufgabe überlassen, sich das Bildmaterial vorzustellen. Konkret wirft er Marinetti vor:
„Ich will nicht nur fünfzig mal «trumb-trumb, tatetereta» etc. hören, die keine große Sprachherrschaft erfordern, sondern ihren Feldherrn, ihre Araber sehen, - aber die können Sie mir nicht zeigen. Sie stecken die Waffen, wo das heißeste Bemühen des Prosaikers anfängt.“53
Hier lässt sich eine Verbindung zu der von Döblin gebrauchten Montagetechnik herstellen, da durch die Einschübe von Fragmenten mit dieser traditionellen Erzähltechnik gebrochen wird und dem Leser die Aufgabe, sich das beschrieben selbst vorstellen zu müssen, abgenommen wird. Es geht Döblin darum, durch die Montage die Erzählung konkreter, plastischer, bildlicher darzustellen, während er Marinettis Schriften vorwirft, durch die angewandte Methodik abstrakt und leer zu sein. In dieser Schrift wendet sich Döblin dann auch vom Futurismus ab und beginnt eigene künstlerische Überlegungen anzustellen: „ Pflegen Sie ihren Futurismus. Ich Pflege meinen Döblinismus.“54
[...]
1 Döblin, Alfred: Die Zeitlupe. Kleine Prosa. Aus dem Nachlaß zusammengestellt von Walter Muschg. Olten/ Freiburg im Breisgau 1962. S. 131 ff. Vgl. auch: Döblin, Alfred: Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis. In: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Hg. v. Anthony W. Riley. Solothurn 1993.
2 Döblin, Alfred: Im Buch-Zu Haus- Auf der Straße. Vorgestellt von Alfred Döblin und Oskar Loerke. Berlin 1928. S. 55.
3 Jähner, Harald: Erzählter, montierter, soufflierter Text. Zur Konstruktion des Romans „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin. Frankfurt a. M. 1984. S. 19.
4 Vgl. ebd. S. 19ff.
5 Vgl. Kreutzer, Leo: Alfred Döblin. Sein Werk bis 1933. Stuttgart 1970. S. 9ff.
6 Vgl. Ebd. S. 29-31.
7 Vgl. Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Hg. v. Christina Althen. 2. Auflage. Frankfurt a. M. 2013. S. 470.
8 Jähner: Erzählter, montierter, soufflierter Text. S. 20.
9 Vgl. Döblin: Berlin Alexanderplatz. S. 15.
10 Ziolkowski, Theodore: Strukturen des modernen Romans. Deutsche Beispiele und europäische Zusammenhänge. München 1972. S. 98.
11 Döblin, Alfred: Mein Buch Berlin Alexanderplatz. In: Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz; die Geschichte vom Franz Biberkopf. Hg. v. Walter Muschg. Olten und Freiburg i. Br. 1961. S.505.
12 Vgl. Ziolkowski: Strukturen des modernen Romans. S.99.
13 Vgl. Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne 1890-1933. Stuttgart, Weimar 1998. S.136ff.
14 Ribbat, Ernst: Die Wahrheit des Lebens im frühen Werk Alfred Döblins. Münster 1970. S. 96.
15 Vgl. Ziolkowski, Theodore: Strukturen des modernen Romans. Deutsche Beispiele und europäische Zusammenhänge. München 1972. S.99.
16 Epilog. In: Alfred Döblin: Aufsätze zur Literatur. Hg. v. Walter Muschg. Olten und Freiburg im Breisgau 1963. S.386.
17 Vgl. Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne 1890-1933. Stuttgart, Weimar 1998. Vorbemerkung.
18 Der Bau des epischen Werks. In: Alfred Döblin: Aufsätze zur Literatur. Hg. v. Walter Muschg. Olten und Freiburg i. Br. 1963. S.113- 114.
19 Vgl. Ziolkowski: Strukturen des modernen Romans. S. 101-102.
20 Döblin, Alfred: Gespräche mit Kalypso. Über die Musik. In: Ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Olten, Freiburg i. Br. 1989. S. 62.
21 Vgl. Epilog. In: Alfred Döblin: Aufsätze zur Literatur. Hg. v. Walter Muschg. Olten und Freiburg im Breisgau 1963. S.391.
22 Sabina Becker: Urbanität und Moderne. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900-1930. St. Ingbert 1993. S. 35.
23 Vgl. Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890-1933. Vorbemerkung.
24 Epilog. In: Alfred Döblin: Aufsätze zur Literatur. Hg. v. Walter Muschg. Olten und Freiburg im Breisgau 1963. S.391.
25 Vgl. ebd.
26 Kristeva, Julia: Semeiotikè. Recherches pour une sémanalyse. Paris 1969. S. 149.
27 Bloom, Harold: A Map of Misreading. New York 1975. S. 3.
28 Vgl. Broich, Ulrich: „Intertextualität“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Berlin/ New York 2007. Band 2. S. 175ff.
29 Vgl. Ebd.
30 Ebd.
31 Jäger, Georg: „Montage“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Berlin/ New York 2007. Band 2. S. 631.
32 Vgl. Ebd.
33 Klotz, Volker: Zitat und Montage in neuerer Literatur und Kunst. In: Sprache im technischen Zeitalter (1969). H. 60, S. 259-277, S.259.
34 Slugan, Mario: Montage as Perceptual Experience. Berlin Alexanderplatz from Döblin to Fassbinder. Hg. v. Gerd Gemünden und Johannes von Moltke. Rochester und New York 2017. S. 2ff.
35 vgl. Ebd. S.6ff.
36 Vgl.: Slugan: Montage as Perceptual Experience. S. 2.
37 Vgl. Ebd. S.12ff.
38 Ebd. S. 66.
39 Jäger: „Montage“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. S. 631.
40 Vgl. Ebd.
41 Viktor Žmegač: Montage/Collage. In: Dieter Borchmeyer und Viktor Žmegač (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Frankfurt a. M. 1987. S. 259-264.
42 Vgl. Ebd.
43 Vgl. Jähner: Erzählter, montierter, soufflierter Text. S.113.
44 Adorno, Theodor: Ästhetische Theorie. In: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann(Hg.). Frankfurt am Main 1972. S.233.
45 Jähner: Erzählter, montierter, soufflierter Text. S.114.
46 vgl. Slugan: Montage as Perceptual Experience. S. 14.
47 Döblin: Gespräche mit Kalypso. S. 59.
48 Vgl. ebd. S. 61.
49 Ebd.. S.72.
50 Döblin, Alfred: Futuristische Worttechnik. Offener Brief an F.T. Marinetti. In: Aufsätze zur Literatur. hg. v. Walter Muschg. Olten und Freiburg i. Br. 1963. S.9.
51 Vgl. Ebd. S. 9-14.
52 Ebd. S.13.
53 Ebd. S.13-14.
54 Ebd. S.15.
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