Für neue Kunden:
Für bereits registrierte Kunden:
Bachelorarbeit, 2020
64 Seiten, Note: 1,1
1. Einleitung
2. Geschlechterstereotype
2.1 Produktion und Reproduktion von Geschlechterstereotypen: ‚doing gender‘
2.1.1 Durch die Familie
2.1.2 Durch die Institution Schule
2.1.3 Durch Konsumgüter und Medien
2.2 Literatur und Geschlechterasymmetrien
3. Analyse ausgewählter Kinderbücher von Kirsten Boie
3.1 Die Autorin Kirsten Boie
3.2 Geschlechtsspezifische Unterschiede und Gemeinsamkeiten in ausgewählten Kinderbüchern
3.2.1 Repräsentation und Darstellung weiblicher und männlicher Figuren
3.2.2 Familiäre Strukturen und Freundschaften
3.2.3 Sprache
3.2.4 Genderstereotype und Reaktionen auf nicht genderstereotypes Verhalten
3.3 Exemplarische Analyse einzelner Schwerpunktthemen
3.3.1 Lena und Mathematik in „Lena hat nur Fußball im Kopf“
3.3.2 Chancen und Grenzen des Buches „Kann doch jeder sein wie er will“
4. Ausblick: Kirsten Boies Kinderbücher als geeignete Lektüre zur Sensibilisierung für Geschlechterasymmetrien
Literaturverzeichnis
Anhang
Der Mann geht arbeiten und die Frau behütet Haus und Kinder. Dieses, bis in die 1960er geltende Rollenbild, wird heute als überholt angesehen, da die Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht nur angestrebt wird, sondern auch im Grundgesetz verankert ist. Dennoch bleiben geschlechtstypische Erwartungshaltungen noch immer bestehen und sind Bestandteil gesellschaftlicher Strukturen. Kinder für diese Strukturen zu sensibilisieren und sie dadurch sichtbar und diskutierbar zu machen ist wichtig, weil das Merkmal ‚männlich´ oder ‚weiblich´ immer noch mit der hierarchischen Anordnung gesellschaftlicher Chancen, Grenzen und Barrieren verbunden ist (Beck-Gernsheim, 2008, S. 67). Denn daraus leiten sich unterschiedliche individuelle Lebenschancen ab. Die Literatur bietet eine Sicht von außen auf eine fiktive Welt. Diese kann der Welt, in der wir selbst leben und agieren sehr ähnlich sein. Wir können uns mit den Protagonisten identifizieren, sie bewundern, sie bemitleiden oder uns von ihnen abgrenzen. Es gibt wohl kaum Kinder, die nicht schon einmal davon geträumt haben, stark und selbstbewusst zu sein wie Pippi Langstrumpf, durch die Lüfte zu fliegen wie Peter Pan oder in ein phantastisches Wunderland abzutauchen wie Alice. Literatur kann uns Wünsche offenbaren und Missstände aufzeigen. Sie kann uns eine Welt eröffnen, die möglich wäre und beeinflussen, wie wir uns und andere wahrnehmen. Diese Arbeit thematisiert, inwieweit moderne Kinderliteratur alte Geschlechterkonstruktionen überwinden kann und welche Geschlechterstereotype in Kinderbüchern von Kirsten Boie aufgebrochen werden, bestehen bleiben oder neu konstruiert werden. Anhand ausgewählter Geschichten wird untersucht, welches Bild von Geschlechterasymmetrien und Geschlechtergerechtigkeit durch Figurenkonstellationen, Sprache, Bilder und Inhalte gezeichnet wird und welchen Anteil Literatur daran haben kann, Geschlechterungleichheiten, die größtenteils immer noch zu Ungunsten der Frau bestehen, aufzuzeigen respektive zu verringern. Hierfür wird zunächst erläutert, wie Erwartungshaltungen und Merkmalszuschreibungen der unterschiedlichen Geschlechter entstehen und reproduziert werden, um anschließend exemplarisch einzelne Kinderbücher von Kirstin Boie in den Blick zu nehmen.
Stark vereinfachte, generalisierende und dabei starre Meinungen über Verhaltensweisen und Eigenschaften, die den Mitgliedern einer dieser Gruppen zugeschrieben werden(Elsen, 2020, S. 24) respektive die kognitiven Strukturen, die sozial geteiltes Wissen über Merkmale einer dieser Gruppe enthalten(Eckes, 2010, S. 178), werden als Stereotype bezeichnet. Das Einordnen von Eindrücken in Kategorien ist ein hilfreicher Vorgang, der Orientierung bietet und die gegenseitigen Umgangsformen auslotet (Elsen, 2020, S. 104). So ist es durchaus sinnvoll, Wortwahl und Verhalten an sein Gegenüber anzupassen, um Irritationen zu vermeiden oder eine angemessene Anrede zu wählen. Problematisch wird die Kategorisierung allerdings, wenn dabei Individualität ausgeblendet wird und dem Gegenüber stattdessen klischeehafte Bilder und traditionelle Rollenbilder aufgedrängt werden (ebd.). Geschlechterstereotype nehmen hierbei eine Sonderrolle ein, da sie neben deskriptiven Annahmen darüber, wie Frauen und Männer sind, auch präskriptive Anteile enthalten und dementsprechend immer zugleich vermitteln, wie Frauen und Männer sein sollen(Eckes, 2010, S. 178). Dadurch werden Geschlechterstereotype im Alltag häufig unhinterfragt zur Legitimation bestimmter Verhaltensweisen genutzt. Sätze wie ‚So sind die Männer/Frauen eben´, oder ‚Typisch Frau/Mann´ fallen meist nebenbei und unüberlegt. Interessant ist dabei, dass sich Frauen- und Männerstereotype Merkmale und Zuschreibungen in unterschiedlichen Kulturen ähneln. Frauen gelten beispielweise als zärtlich, emotional, einfühlsam, abhängig, intuitiv, schüchtern, passiv und kooperativ, während Männer als abenteuerlustig, stark, dominant, unabhängig, rational, selbstbewusst, ehrgeizig und unempfindlich beschrieben werden (Elsen, 2020, S. 105 f. ). Zusätzlich fällt auf, dass Attraktivität bei Frauen vermehrt an äußeren Erscheinungen festgemacht wird, während Männer auch durch Leistung als attraktiv wahrgenommen werden (ebd. S. 105). Bereits im Kindesalter werden Mädchen häufig mit Sätzen wie ‚du siehst aber hübsch aus´, ‚das ist aber eine schöne Frisur` oder‚dein Kleid ist ja zuckersüß´ komplimentiert. Dadurch wird ihnen permanent bewusst gemacht, dass Äußerlichkeiten für ein Mädchen als wichtig gelten und ein positives Erscheinungsbild erwünscht ist und gelobt wird. Geschlechterstereotype basieren häufig auf tatsächlichen Beobachtungen und setzen sich aus einer Fülle von Informationen zu Person, Aussehen, Kleidung, Verhalten, Beruf, Charakter, sprachlichem Verhalten und Namen zusammen, die in komplexer Wirkungsweise zueinander stehen (Elsen, 2020, S. 109). Da besonders kleine Kinder vorrangig auffallende Merkmale, wie Frisur, Kleidung und Stimme fokussieren, bilden sich dabei häufig stark vereinfachte Vorstellungen zu Geschlechterdifferenzen heraus (ebd. S. 109). Geschlechtsstereotypische Interferenzen entstehen dabei immer dann, wenn Merkmale häufig zusammen auftreten und durch ein typisches Merkmal auf ein anderes geschlossen werden kann. Eine Person mit langen Haaren, trägt beispielsweise eher ein Kleid und eine Person, die ein Kleid anhat, trägt eher hohe Schuhe (ebd. S. 107). Begegnen Kinder das erste Mal einer Frau mit Glatze oder einem Mann mit langen Haaren, wirft das deshalb häufig Fragen auf, was deutlich macht, welches Bild von Frau und Mann als Norm gilt. Denn je häufiger ein Kind viele Frauen mit langen Haaren sieht, desto stärker trifft diese Verbindung auf das Konzept Frau zu. Das gleiche gilt für Verhaltensweisen. Je häufiger ein Junge sanktioniert wird, weil er einen Rock anziehen möchte, desto stärker korreliert das Konzept Rock mit Unmännlichkeit (ebd. S. 109). Neben den geltenden Stereotypen sind auch eigene Erfahrungen und Sprache ausschlaggebend für die Vorstellungen über geschlechtertypologisches Verhalten (ebd. S. 30). Das ist deshalb als problematisch anzusehen, weil das Merkmal ‚männlich` oder ‚weiblich´ immer noch mit der hierarchischen Anordnung gesellschaftlicher Chancen, Grenzen und Barrieren verbunden ist (Beck-Gernsheim, 2008, S. 67), wodurch sich unterschiedliche individuelle Lebenschancen ableiten lassen. Die Gender Studies befassen sich dahingehend mit der Frage, wie Geschlechterdifferenzen zustande kommen und welche Ursache-Wirkung-Relation in der Interaktion mit anderen besteht(Nieberle, 2013, S. 13).
Werden Menschen auf einzelne Merkmale wie `Geschlecht´, `Ethnizität´ oder `Behinderung´ reduziert, entstehen zwei voneinander abgrenzbare Gruppen, in denen eine Gruppe das jeweilige Merkmal verkörpert und damit von der Norm abweicht, während die andere der allgemein geltenden Norm entspricht (Bräu, 2015, S. 22). Auch bei einer Gleichverteilung der Merkmalszuschreibungen, wie es bei der Kategorie Geschlecht der Fall ist, gibt es in diesem Zusammenhang eine wirksame Normalform. Diese wird allerdings häufig erst dann bewusst als solche wahrgenommen, wenn sie hinterfragt wird. Die Debatte über das Inkludieren der weiblichen Sprachform in die bisherige Verwendung des generischen Maskulinums kann hierfür als Beispiel herangezogen werden (ebd. S. 23). Soziale Wirklichkeit in Form von Geschlechterzuschreibungen werden aus konstruktivistischer Sicht durch die Gesellschaft interaktiv hergestellt, reproduziert und manifestiert. Daraus lassen sich ‚doing´ Konzepte ableiten, die die Hervorbringung merkmalsbezogener Differenzierung beschreiben (ebd. S. 22). Denn die Kategorie Geschlecht ist in der Interaktion zwischen zwei Menschen omnipräsent, also allgegenwärtig. Steht man einer Person gegenüber wird diese durch Stimme, Kleidung, Sprache, Gestik und andere Erkennungszeichen fast immer augenblicklich als Mann oder Frau wahrgenommen. Anschließende Handlungen und Interaktionen werden durch das Wissen um die Geschlechtszugehörigkeit des Gegenübers beeinflusst (ebd. S. 25). Sich dieser Omnipräsenz von Geschlecht bewusst zu sein, kann allerdings ermöglichen, dieser Wahrnehmung keine Relevanz zuzuordnen respektive sich aktiv durch ‚ungoing gender` den gesellschaftlichen Erwartungen zu widersetzen (ebd. S. 26). So können Geschlechterzuschreibungen teilweise weniger gewichtet oder sogar neutralisiert werde, wenn sie situativ als unwichtig eingestuft werden (Elsen, 2020, S. 53). Durch angeborene Faktoren und hormonell bedingte Unterschiede lassen sich geschlechtertypische Vorlieben, die bereits bei Babys festgestellt werden, teilweise erklären. Geschlecht kann allerdings nicht lediglich als Beschreibung der biologischen körperlichen Grundkonstitution verstanden werden, da die soziale Kategorie Geschlecht immer mit Ungleichheitsverhältnissen verbunden ist (Beck-Gernsheim, 2008, S. 67). So darf nicht unterschätzt werden, dass Sollvorgaben aus der Außenwelt die Aufmerksamkeit der Kinder stets mit beeinflussen (Elsen S. 110), wodurch die meisten Aspekte, die als geschlechtertypisch wahrgenommen werden, in der aktuellen Genderforschung als anerzogen gelten (ebd. S. 51). Im Folgenden wird daher thematisiert, wie einzelne gesellschaftliche Bereiche zu `doing gender` Prozessen beitragen.
Bis in etwa in die 60er Jahre waren Geschlechterverhältnisse üblich, die heute als ‚traditionell´ bezeichnet werden, in denen die Frau der Familie und der Mann dem Beruf zugeordnet wurde. Dadurch entstand das Bild der emotionalen, fürsorglichen Frau auf der einen, und das Bild des rationalen, kompetenten Mannes auf der anderen Seite(Jurczyk, 2008, S. 69). Diese Rolle galt es für Frauen auch deshalb gut auszufüllen, weil ihre ökonomische und soziale Existenz zunächst an den Vater und später an den Ehemann gebunden war. Durch diese Zuteilung tradierten sich soziale Konventionen, durch die die Frau dem Mann privat und öffentlich untergeordnet war (ebd.). Während bis dato eine zurückhaltende, fürsorgliche Frau, die in ihrem Handeln weitestgehend auf den Innenraum beschränkt blieb, als Leitbild diente, gibt es mittlerweile vielfältigere Lebensentwürfe für Frauen, bei denen Ziele auch über die Familie hinaus gesellschaftlich akzeptiert und gewünscht werden (Beck-Gernsheim, 2008, S. 22). Mit neugewonnen Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten für Frauen im letzten Jahrhundert gehen allerdings gleichzeitig eine Doppelbelastung und Konflikte einher. Denn neben beruflichen Erfolgsmöglichkeiten sind Frauen noch immer vorrangig für unbezahlte Familienaufgaben zuständig und finanziell allgemein weniger abgesichert (ebd. S. 21). Die ‚Gender Pensions Gap` betrug 2015 beispielsweise ganze 53% (Elsen, 2020, S. 20).
Obgleich beruflicher Erfolg immer noch starke strukturelle Hindernisse für Frauen birgt (Gildemeister, 2008, S. 190 f.), zeigen sich teilweise deutliche Veränderungen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. So werden Frauen in Deutschland vermehrt auch als kompetent erlebt und die klassische Hausfrau und Mutter ist in der Werbung weniger präsent. Männerstereotype bleiben dabei jedoch weitestgehend bestehen und Haushalt und Kindererziehung liegt überwiegend immer noch in der Verantwortung der Frau. Das zeigt sich beispielsweise darin, dass der Anteil der Zeit, den Männer mit unbezahlter Arbeit zuhause verbringen, in den letzten Jahren nur um 8 Minuten am Tag gestiegen ist (Elsen, 2020, S. 106). Auffällig ist hierbei, dass die durchschnittlich sehr viel geringere Hausarbeitsbeteiligung des Mannes als selbstverständlich angesehen wird und Einzelhandlungen häufig überschwänglich gelobt werden(Jurczyk, 2008, S. 87). Hinzu kommt, dass Männer die Mitarbeit in der Familie als weitaus höher einschätzen, als es die Rekonstruktion ihres Tagesverlaufs zulassen würde (ebd. S. 88). Die ‚traditionelle´ Familienform erscheint auch deshalb weiterhin attraktiv, da eine gleichberechtigte Arbeitsteilung der Familienfürsorge zwar politisch und ideologisch gewünscht, aber durch Ehegattensplitting und die Beschaffenheit vieler rentablen Berufe strukturell erschwert wird (ebd. S.84). Dabei wollen Väter ihre Kinder vermehrt intensiver aufwachsen sehen und schätzen nach eigenen Angaben die Selbstständigkeit von Frauen als erstrebenswert ein (ebd. S.89). Das ist teilweise mit den vorhandenen Einkommensstrukturen begründbar, weckt aber auch den Anschein eines noch immer geltenden stabilen Bildes eines richtigen ‚männlichen` Lebensentwurfs (ebd.). So fällt es noch immer viel zu leicht, verschiedene Berufsgruppen den Geschlechtern zuzuordnen und dadurch Vorstellungen von Frauen- und Männerberufen mit damit einhergehenden Fähigkeiten und Interessensgebieten zu entwickeln. Kinder wachsen mit diesen Strukturen auf, erleben sie als Normalität und übertragen das Bekannte auf eigene Verhaltensweisen und Gedankenmuster. Durch Beobachten ihrer direkten Umgebung ist es ihnen schnell möglich, zu kategorisieren, was typische Aufgaben für Männer und Frauen sind. Sie imitieren Tätigkeiten und Rollen der Erwachsenen, was von Bandura als Lernen am Modell bezeichnet wurde (Muntoni & Retelsdorf, 2020, S. 79).
Zusätzlich zu den beobachteten Grundstrukturen trägt eine Ungleichbehandlung von Jungen und Mädchen dazu bei, dass Kinder lernen, sich `ihrem Geschlecht entsprechend` zu erleben und zu verhalten. Kinderweinen wird beispielsweise in der gleichen Situation bei Mädchen eher als Angst und bei Jungen eher als Ärger gedeutet (Elsen, 2020, S. 110). So verinnerlichen kleine Kinder bereits sehr früh, welches Verhalten als angemessen gilt. Jungen dürfen wütend sein und Mädchen dürfen Angst haben. Hierbei wurde durch Hilliard und Liben 2010 festgestellt, dass das Herausstellen von Geschlechterunterschieden die bestehenden Geschlechterstereotype bei Drei- bis Fünfjährigen besonders verstärkt, da die Kinder diese bei regelmäßiger Thematisierung als erstrebenswerte Sollvorgaben verstehen (ebd.). Töchter werden von ihren Eltern zudem häufig als schwächer und empfindlicher eingeschätzt und dementsprechend mit mehr Vorsicht und Behutsamkeit behandelt, während die für robuster gehaltenen Söhne häufig grober angefasst werden. Unterschwellig wird dem Mädchen so suggeriert, sie müssen vorsichtiger sein als die ‚wilden` Jungen, denen deutlich mehr Selbstständigkeit und Härte zugetraut wird. Dadurch werden Mädchen in ihrer Unabhängigkeit eher gebremst (ebd. S. 171). Auch die Spielsituation mit Erwachsenen variiert je nach Geschlecht. Mit Mädchen werden kooperative Rollenspiele bevorzugt, die ein höfliches Redeverhalten begünstigen und mehr Sprechmöglichkeiten liefern, als körperlichen Aktivitäten, die häufig mit den Jungen unternommen werden (ebd. S. 172). Während mit Mädchen eher persönlich und fantasiebezogen gesprochen wird, neigen Erwachsene dazu, mit Jungen eher sachlich und gegenstandsbezogen zu sprechen (ebd. S. 174), wodurch unbewusst Geschlechtervorurteile der sachlichen Jungen/Männer und der emotionalen Mädchen/Frauen weiter manifestiert werden.
Im Kontext Schule zeigt sich ‚doing gender` unter anderem an spezifischen Lehrererwartungen in Bezug auf Fachinteressen und Fähigkeiten, die dem einen oder dem anderen Geschlecht vermehrt zugeordnet werden. So werden Mädchen in Sprachen oder künstlerischen Fächern häufig besser eingeschätzt, während Jungen ein größeres Talent in Physik oder Mathematik unterstellt wird (Muntoni & Retelsdorf, 2020, S. 73). Diese stereotypen Annahmen lösen sogenannte ‚selbsterfüllende Prophezeiungen` aus (ebd. S. 88). Dadurch lässt sich erklären, dass verschiedene Schulleistungsstudien tatsächlich zeigen, dass bessere Mathematikleistungen bei Jungen und bessere Leseleistungen bei Mädchen zwar abnehmen, aber immer noch vorhanden sind (ebd. S. 78). Denn unterschiedliche Lehrererwartungen haben Auswirkungen auf die individuellen Förderungen und das Selbstkonzept der Schülerinnen und Schüler. Weil die dementsprechend erbrachten Schulleistungen dadurch schlechter ausfallen und die Lehrererwartungen zu bestätigen scheinen, entstehen und reproduzieren sich auf diese Weise Ungleichheiten in der Institution Schule. Es zeigt sich beispielsweise, dass für die Wiederholung von bekannten Inhalten häufig Schülerinnen aufgerufen werden, denen die Lehrperson ein niedriges Leistungsniveau zuschreibt, während stark eingeschätzten Schülern eher Aufgaben gestellt werden, die Transferleistungen erfordern (Bräu & Fuhrmann, 2015, S. 56). Dadurch werden Mädchen häufig weniger gefördert, schätzen sich in den besagten Domänen selbst schlecht ein und schöpfen vorhandenes Potential möglicherweise nicht aus (ebd. S. 53). Erbringen Jungen und Mädchen gleichgute Leistungen, werden diese zudem bei Jungen vermehrt auf Talent und bei Mädchen vermehrt auf Anstrengung zurückgeführt(Elsen, 2020, S. 112). Das legt nahe, dass Jungen höhere kognitive Fähigkeiten zugesprochen werden als Mädchen. Dass sich alleine die Zuschreibung von geschlechtsspezifischen Stärken und Schwächen auf die Leistung auswirkt, lässt sich beispielsweise daran erkennen, dass Jungen schlechtere Leistungen zeigen, wenn vorab erwähnt wird, dass Mädchen allgemein besser in der Schule sind als Jungen (Muntoni & Retelsdorf, 2020, S. 82). Zusätzlich wird auch das Sozialverhalten im Unterricht unterschiedlich aufgefasst, sodass für Mädchen, die häufig als lebendig erlebt werden, andere Maßstäbe gelten als für Jungen, die eher als störend wahrgenommen werden (Budde, 2015, S.102). Auffälliges, aggressives Verhalten wird dadurch bei Jungen eher toleriert als bei Mädchen. Dazu passt, dass in Zeugnissen der Schülerinnen ein stärkerer Fokus auf soziale Leistungen gelegt wird, während bei Schülern eher die fachlichen Leistungen und Schwächen aufgeführt werden (Bräu & Fuhrmann, 2015, S. 56). So wird suggeriert, dass für Mädchen das Sozialverhalten und für Jungen die Schulleistungen entscheidend sind, um eine gute Schülerin oder ein guter Schüler zu sein. Das ist unter anderem deshalb kritisch zu sehen, weil Unterricht gewissen Regeln und Verhaltensmustern folgt, die sich die Schülerinnen und Schüler aneignen müssen, ohne explizit darauf hingewiesen zu werden. Diese gliedert Budde in einen instruktionellen Diskurs, der das gefragte Wissen umfasst und einen regulativen Diskurs, welcher das Verhalten beschreibt. In der schulischen Leistungsbewertung ist der regulative Diskurs oft ausschlaggebender für eine positive Beurteilung (2015, S.101), wodurch Mädchen häufig zugeschrieben wird, die Schüler*innen Rolle besser auszufüllen respektive besser an die Erwartungen der Lehrpersonen und der Institution Schule angepasst zu sein (Aktan, Hippmann, & Meuser, 2015, S. 11). Diese Rolle können sie auch deshalb meist besser ausfüllen als ihre männlichen Mitschüler, weil Anerkennungsordnungen in Schule und Peergroup gerade bei Jungen konträr verlaufen. Denn Disziplin und Leistung werden in weiblichen Peergroups eher positiv und in männlichen Peergroups eher negativ besetzt, wobei dies in den individuellen Gruppierungen erheblich variiert (ebd. S. 13 ff.).
Aufklärung, Sensibilisierung und Reflexion können helfen, die eigenen Vorstellungen und Erwartungen zu überdenken und diese nicht auf das Gegenüber zu projizieren (Bräu, 2015, S. 27 ff.). In der unterrichtlichen Praxis ergibt sich das Dilemma, dass Geschlecht zwar thematisiert werden muss, um die aktuelle Situation zu verändern, aber gleichzeitig darauf verzichtet werden sollte, das Thema Geschlecht zu sehr zu betonen und Geschlechterstereotype so zu aktivieren und dadurch erst zu manifestieren (Wedl & Bartsch, 2015, S. 11). So sollten Jungen und Mädchen nicht differenziert als Gruppe angesprochen werden, indem beispielsweise verschiedene Arbeitsaufträge für Jungen und Mädchen gibt, um angeblich geschlechtlich begründeten Interessensdifferenzen entgegenzuwirken (ebd. S. 17). Denn dadurch werden die Geschlechtergruppen homogenisiert, wodurch die stereotypen Merkmalszuschreibungen noch verfestigt werden (ebd.). Wichtig ist dagegen, den Kindern ihre individuellen Potentiale bewusst zu machen (Muntoni & Retelsdorf, 2020, S. 90). Auch Schulbücher tragen zu ‚doing gender‘ Prozessen bei. Eine Untersuchung von Gröbner hat 1991 beispielsweise ergeben, dass Männer in einem Schulbuch durch acht verschiedene positiv besetzte Adjektive beschrieben wurden, während in Bezug auf Frauen nur die Adjektive: hübsch, schlank und schön zu finden waren. Männer werden zudem häufig in gut bezahlten Berufen in Verbindung mit zahlreichen Freizeitaktivitäten dargestellt, während Frauen häufig zuhause, in der Interaktion mit Kindern, beim Putzen und beim Einkaufen zu sehen sind. Zusätzlich werden sie vermehrt als emotional und schüchtern dargestellt und ihr Aussehen spielt häufig eine entscheidende Rolle (Elsen, 2020, S. 111).
Medien sind bereits im Leben sehr kleiner Kinder präsent und spielen eine große Rolle im Sozialisierungsprozess (ebd. S. 181). Daher ist ein genauerer Blick auf Geschlechterdarstellungen in der Medien- und Konsumwelt lohnenswert. Denn durch mediale Vorbilder werden graduell unbewusste Strukturen ausgebildet, die individuelles Handeln hemmen (ebd. S. 114 f.). Unhinterfragt sind Kinder permanent verzerrten Geschlechterdimensionen ausgesetzt, die zur Orientierung in der Identifikationsfindung herangezogen werden (Schlicher & Müller, 2016, S. 15). Durch eine Überpräsentation von starken, einflussreichen Männern und eine idealisierte Darstellung schutzbedürftiger Frauen, die selten älter als 35 und meist schön, schlank und eher passiv sind, werden durch Film und Fernsehen falsche Wirklichkeitsbilder und Idealvorstellungen vermittelt. Weil ein attraktives Äußeres bei Frauen in den Medien häufig mit Erfolg und Akzeptanz gleichgesetzt und idealisiert wird, entstehen vor allem bei Mädchen schädliche negative Selbstbilder (Elsen, 2020, S. 182). Zudem zeigen Studien regelmäßig einen Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum und stereotypen Vorstellungen bzw. aggressivem Verhalten in allen Altersklassen. Denn die Charaktere werden zu fragwürdigen Vorbildern. Kinder lernen aus dem Dargestellten, imitieren Sprache und Verhalten und übertragen Gezeigtes auf die eigenen Wertevorstellungen (ebd. S. 187 f.). Mit der Medienwelt werden auch Kinder als mögliche Konsumenten angesprochen. Im Alltag nehmen sie permanent Geschlechterdifferenzierungen vor, weil im Bereich Kleidung, Spielzeug, Geschichten und Kinderzimmereinrichtung die meisten Produkte explizit für Mädchen oder Jungen angeboten werden. Während in den 1970er Jahren Kinderkleidung und Konstruktionsspielzeug noch weitgehend bunt und universal nutzbar war, wird heute bereits Säuglingskleidung farblich oder sogar durch den Schnitt Mädchen oder Jungen zugeordnet(Wedl & Bartsch, 2015, S. 13). Eine farbliche Unterscheidung wäre durch angeblich angeborene Interessens-Präferenzen noch zu erklären, taillierte Kleider für weibliche Babys entziehen sich dagegen jeglicher Sinnhaftigkeit und zeigen, wie sehr schon bei kleinen Mädchen Äußerlichkeiten in den Fokus gestellt werden. Auch Spielzeug wird typischerweise Mädchen oder Jungen zugeordnet. Unabhängig von tatsächlichen Interessenpräferenzen hat sich gezeigt, dass Eltern für Mädchen eher Puppen und für Jungen eher Spielzeugautos bereitstellen (Muntoni & Retelsdorf, 2020, S. 81). Doch stereotypgeprägtes Spielzeug schränkt Erfahrungs- und Entfaltungsspielräume der Kinder erheblich ein und manifestiert Geschlechterasymmetrien in der Interessensbildung. Während technische Baukästen für Jungen beispielsweise zum Konstruieren und Umbauen einladen, sind in Baukästen für Mädchen deutlich mehr vorgegebene Figuren und fertige Bauteile zu finden. Kreative Umfunktionierung und das Erfinden neuer Spielszenarien ist im ‚Mädchenspielzeug‘ also deutlich schlechter möglich (Wedl & Bartsch, 2015, S. 13 f.) Auch thematisch werden hierbei Geschlechterstereotype gefestigt, indem die Baukästen für Mädchen meist auf einen Reiterhof, ein Prinzessinnenschloss oder ein Shopping-Center beschränkt bleiben. Dadurch wird vorgegeben, welche Geschlechtervorstellungen und Interessen als normkonform verinnerlicht werden (ebd.). Interessant ist dabei, dass es gesellschaftlich eher akzeptiert ist, wenn sich Mädchen den geltenden Geschlechterstereotypen widersetzen und beispielsweise mit Autos spielen. Bei Jungen folgen dagegen, vor allem durch den Vater, auf das Spielen mit ‚Mädchenspielzeug‘ häufiger negative Reaktionen und Sanktionen (Elsen, 2020, S. 112). Konsumgüter und Medien beeinflussen demnach die Ausbildung ‚geschlechtergerechten‘ Verhaltens. Das wirft die Frage auf, inwieweit Medien genutzt werden können, um Geschlechterstereotype abzubauen, respektive die Kinder auf diese zu sensibilisieren. Im Folgenden wird deshalb thematisiert, welchen Anteil Literatur an Geschlechterasymmetrien hat und welchen Beitrag sie leisten kann, diese abzubauen.
Mit der Frauenbewegung der 1970er Jahre wurden feministischen Themenansätzen in die Literaturdidaktik eingebracht, was mit Kritik an geschlechterstereotypen Figuren in Lesebüchern einherging (Kliewer, 2016, S. 97). Denn Kinderbücher enthalten Verhaltensvorgaben, Normen und Rollenmodelle und werden meist nicht nur einmal gelesen, sondern immer wieder betrachtet und verinnerlicht, wodurch Rollenbeschreibungen und Geschlechterdarstellungen als Norm übernommen werden(Elsen, 2020, S. 133). Literarische Helden stellen für die Kinder Vorbilder dar, mit denen sie sich identifizieren und von denen sie sich abgrenzen können. Bewusst oder unbewusst erfolgt beim Rezipieren von Literatur zudem eine individuelle Wertung des Gelesenen (Nieberle, 2013, S. 43). Der Leser oder die Leserin macht sich verwendete Sprache, Verhaltensweisen und Einstellungen der Charaktere individuell zugänglich und wendet sie auf die eigene Person an oder lehnt sie ab (Kliewer, 2016, S. 101 f.). Dass die Darstellung kindlicher Helden in gleichbleibenden Rollenmustern problematisch ist, lässt sich beispielsweise dadurch erkennen, dass sich Jungen aufgrund von Geschlechterkonformität mit männlichen Protagonisten eher durch Intelligenz und Mädchen mit weiblichen Protagonisten eher durch Attraktivität identifizieren (Elsen, 2020, S. 111). Denn in Texten und Interaktionen werden Gedanken aufgebaut und geformt. Es zeigt sich, dass Bilderbücher nicht nur die Wahl des Spielzeugs, sondern sogar die Vorstellungen über später denkbare Berufe mitbeeinflussen (ebd. S. 133). Der Einfluss von Literatur auf kindliche Denk- und Handlungsmuster ist demnach nicht zu unterschätzen. Die Lektüreauswahl für Schülerinnen und Schüler steht immer wieder in der Diskussion. Es wird teilweise davon ausgegangen, dass sich die Leseleistungen von Jungen und Mädchen unter anderem aufgrund unterschiedlicher Leseinteressen erklären lassen und sich Bedürfnisse von Jungen und Mädchen in Bezug auf den Literaturunterricht unterscheiden (ebd. S. 240). Kliewer geht allerdings davon aus, dass durch die Beschränkung auf das Unterscheidungsmerkmal Geschlecht andere Faktoren außer Acht gelassen werden und somit ein vereinfachtes Bild von Geschlechtlichkeit in der Fachdidaktik Deutsch vermittelt wird (2016, S. 98 f. ). Statt auf männliche Heldenfiguren und Klischees zurückzugreifen wäre es wichtig, in der Literatur Platz für Heterogenität zu schaffen, ohne Jungen und Mädchen voneinander abzugrenzen und Geschlechterstereotypen weiter zu festigen (ebd. S. 99). Das heißt nicht, dass Rollenklischees nicht aufgegriffen werden können und keine weiblichen und männlichen Protagonisten mit Identifikationspotenzial für Mädchen und Jungen eingebracht werden sollen. Die Textauswahl sollte beide Geschlechter ansprechen und zur kritischen Reflexion anregen (ebd. S. 101 f.). Denn Kinder und Jugendliche nutzen Rollenmodelle für die eigene Identitätsfindung (Schlicher & Müller, 2016, S. 22). Deshalb werden starke Protagonistinnen von Leserinnen gut angenommen, sehr sensible, unsichere Protagonisten bieten für Jungen aber scheinbar zu wenig Identifikationsmöglichkeiten (ebd. S. 19). Es sollte demnach durch vielschichtige Charaktere ein balanciertes Männer- und Frauenbild gezeichnet werden. Durch Innensicht ermöglicht Literatur den Leserinnen und Lesern, neben dem Wagemut des tapferen Helden auch seine Selbstzweifel und Ängste wahrzunehmen (Schlicher & Müller, 2016, S. 36). Dass diese Kopplung Identifikationspotential birgt, beweist beispielsweise die Beliebtheit der Figur Harry Potter bei Jungen und Mädchen (ebd.). Um Stereotype abzubauen, muss bewusst auf falsche Vorurteile hingewiesen und Alternativinformationen vermittelt werden. Dabei ist entscheidend, dass Prinzipien der Gleichberechtigung ständig wiederholt und als erstrebenswert und richtig dargestellt werden (Elsen, 2020, S. 120). Denn durch Verhaltensweisen und Reaktionen der Charaktere entwickelt sich unbewusst auch das Selbstbild und die Gedanken- und Handlungsspielräume der Rezipienten und Rezipientinnen. Wird ein männlicher Protagonist in einer Geschichte von allen anderen Charakteren gehänselt, weil er Tänzer werden möchte, werden selbst die kindlichen Leser, die dem Tanzen bis dato positiv eingestellt waren, ihre Ansichten möglicherweise hinterfragen und anpassen (ebd. S. 103). Im Zusammenhang damit können Entfaltungsmöglichkeiten und Lebensentwürfe durch bestehende Stereotype begrenzt und im Umkehrschluss bei gelungener Sensibilisierung auch ermöglicht werden. Demnach sollte angemessene Kinderliteratur Protagonisten bieten, durch die die geltenden Stereotype hinterfragt werden, die aber dennoch ein hohes Maß an Attraktivität für die kindlichen Leserinnen und Leser darstellen. Denn dann kann Literatur dazu beitragen, die Stereotype an geltende Bedingungen zu knüpfen, sie zu relativieren und zu reflektieren. Schlicher und Hallitzky schlagen zudem vor, in der Lektüreauswahl einen größeren Fokus auf phantastische Literatur und Kriminal- Abenteuer- oder Bandenromane zu setzen, um Jungen und Mädchen gleichermaßen anzusprechen (Elsen, 2020, S. 240). Die Kinderbuchautorin Kerstin Boie schätzt die Einflussmöglichkeiten von Literatur, die sich der Gendernorm widersetzt, auf kindliche Selbstkonzepte durchaus hoch ein:
„Ich glaube, die [geschlechterbedingten Stereotype und Ungerechtigkeiten] spielen eine Rolle im Leben jeder Frau, oft sogar, ohne dass es ihr bewusst ist. Und solange die Möglichkeit für Mädchen und Jungen in unserer Gesellschaft unterschiedlich verteilt sind, darf das gerne auch in Büchern für Kinder eine Rolle spielen. Zu lesen, dass Jungs wie Mädchen Seeräuber oder Ritter werden können, macht es für Mädchen vielleicht leichter zu akzeptieren, dass sie selbst auch Automechanikerin oder Luftfahrtingenieurin werden können und überhaupt alles. Zu lesen, dass Jungs sensibel sein, weinen und Angst haben können, macht es vielleicht für Jungen leichter, das auch bei sich selbst zu akzeptieren“(kirsen-boie.de, 2016).
Im Folgenden wird analysiert, wie Geschlecht in Kinderbücher von Kirsten Boie konstruiert wird.
Kirsten Boies literarisches Werk umfasst ein sehr breites Angebot an Kinder- und Jugendliteratur. In dieser Arbeit werden fünf ausgewählte Kinderbücher für Leserinnen und Leser der zweiten und dritten Jahrgangsstufe analysiert und enthaltene Geschlechterkonstruktionen thematisiert. Für die Buchauswahl waren verschiedene Aspekte entscheidend. Zum einen wurden die Texte so gewählt, dass weibliche und männliche Protagonisten in ausgewogener Anzahl vertreten sind. Zusätzlich ist durch das Buch ‚King Kong das Geheimschwein´ eine Tiergeschichte und durch ‚Jannis und der ziemlich kleine Einbrecher´ eine Geschichte mit phantastischen Elementen eingebunden. Die Geschichte aus der ‚Lena-Reihe´ wurden so gewählt, dass sich zwei Interessen gegenüberstehen, von denen das eine als geschlechtsuntypisch und das andere als geschlechtskonform betrachtet werden kann. ‚Kann doch jeder sein wie er will´ befasst sich direkt mit der Geschlechterthematik und ist deshalb von besonderem Interesse. Nach einer Analyse der ausgewählten Geschichten in Hinblick auf geschlechtsspezifische Unterschiede und Gemeinsamkeiten werden anschließend exemplarische Schwerpunktthemen näher betrachtet, die einzelne Geschichten betreffen. Hierfür wurde ein Analysebogen erstellt, der sich an analytischen Grundlagen von Krah orientiert (2016, S. 53-64). Alle ausgefüllten Analysebögen mit Hinweis auf die jeweiligen Textstellen und Seitenzahlen im Originaltext sind im Anhang beigefügt, weshalb im weiteren Verlauf auf Seitenangaben des Originaltextes verzichtet wird. Lediglich wörtliche Zitate werden mit entsprechenden Seitenangaben versehen.
Kirsten Boie gilt als eine der renommiertesten und vielseitigsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen der heutigen Zeit. Die 1950 in Hamburg geborene Literaturwissenschaftlerin verfasste nach ihrem ersten Kinderbuchserfolg „Paule ist ein Glücksgriff“ von 1985 eine umfangreiche Zahl an Kinder- und Jugendromanen, Bilderbücher und Erstlesereihen. Insgesamt sind bis heute rund 100 Bücher erschienen (ebd.). Neben zahlreichen Auszeichnungen und Preisen für einzelne Bücher erhielt sie 2007 den Sonderpreis des Deutschen Literaturpreises für ihr Gesamtwerk und wurde 2008 mit dem Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet (ebd.).
Thematisch sind Boies Texte in der realistischen Literatur verortet, in denen sich stellenweise, aber auch phantastische Elemente finden lassen (Lange, 2006, S. 3). Es werden individuelle Erlebnisse einzelner Protagonisten, sowie gesamtgesellschaftliche Phänomene in den Blick genommen, wobei die kindliche Perspektive meist im Zentrum steht (Dankert, 2014 , S. 19 f.). Ohne eine Wertung vorzunehmen, werden verschiedenste Familienkonstellationen dargestellt, in denen das Wechselspiel mit Geschlechterstereotypen häufig einen gewissen Stellenwert einnimmt. Vielen Protagonisten gestalten ihr Leben stellenweise frei von geltenden Geschlechternormen, wobei daraus resultierende Hürden und Probleme wirklichkeitsgetreu aufgegriffen und nicht verschwiegen werden. Momente der Irritation, wie beispielsweise Vorurteile der älteren Generation und geschlechts- (un)typische Interessenspräferenzen spielen hierbei eine zentrale Rolle (ebd. S. 18). Die Persönlichkeiten der Akteure werden vor allem in den Lesereihen durch ausdifferenzierte Eigenschaften und stetig neu hinzukommende Details immer greifbarer für die Leser*innen (Lange, 2006, S. 7). Durch das Einfühlen in kindliche Vorstellungs- und Wertegefüge werden mit Witz und Ironie kindliche Wünsche, Ängste thematisiert und gleichzeitig aktuelle Gesellschaftsstrukturen aufgezeigt und Denkanstöße gegeben (Dankert, 2014 , S. 16). Situationskomik, trockener Humor, Sprachwitz und das Einbeziehen von mündlicher bzw. jugendlicher Sprache beschreiben, den Schreibstil Kirsten Boies (ebd. S.8).
Auch in Bezug auf Erstlesebücher spricht sich Kirsten Boie für Texte aus, die ein gewisses literarisches Niveau nicht unterschreiten, um literarisches Lernen zu ermöglichen. Die Vereinfachung der Texte erfolgt durch leicht verständlichen Wortschatz und Syntax, Schriftgröße und unterstützende Bilder, nicht aber durch einsträngige Handlungen und Verkürzungen (ebd. S.4). Den kindlichen Leserinnen und Lesern wird durchaus zugetraut, eine gewisse Komplexität zu durchschauen und Leerstellen der Texte mit Bedeutung zu füllen. Gerade durch das vielfältige Medienangebot der heutigen Zeit, ist es für Kinder Boie zu Folge leichter, Vor- und Rückblenden, Perspektivwechsel und parallele Handlungsstränge nachzuvollziehen (ebd. S. 5). Deshalb sieht sie es als besonders wichtig an, dass Literatur für Kinder immer gleichwertige Literatur und gleichzeitig adressatenbezogene Literatur, also Literatur für Kinder sein sollte (kirsten-boie.de, o.J.).
In ihrer Rede „Der größte Fehler der Frauen ist ihr Mangel an Größenwahn“ macht Kirsten Boie deutlich, dass ‚groteske Gender-Erwartungen´ ihr eigenes Leben entscheidend beeinflussten (Boie, 2020, S. 5). Schon als Mädchen wurde ihr der Wunsch, Chemie zu studieren, in der Berufsberatung mit der Begründung verwehrt, Frauen könnten lediglich Chemisch-technische Laborassistentin werden, nicht aber Chemieprofessorin (ebd. S. 3). Kirsten Boie schlug stattdessen eine Laufbahn als Lehrerin ein und wurde nach der Adoption ihres ersten Kindes vom Jugendamt kontaktiert, weil sie ihre Arbeit nach einer Familienpause wieder aufgenommen hatte. Ihr wurde, anders als ihrem Mann, empfohlen, die berufliche Laufbahn zunächst ruhen zu lassen, um zu Hause bei ihrem Kind zu bleiben. So begann sie, Kinderbücher zu schreiben, statt zu Unterrichten (ebd. S. 5). Sie plädiert dafür, Kinder bewusst zu erziehen und steht geschlechtlich adressierten Kinderbüchern kritisch gegenüber. Denn diese suggerieren den Kindern, dass alles im Leben (auch Bücher und Geschichten) entweder passend für die Einen oder passend für die Anderen sind (ebd. S. 7). In ihren Kinderbüchern versucht sie nach eigenen Angaben, Genderstereotypen bewusst entgegen zu steuern, ist dabei aber auf Glaubhaftigkeit bedacht und betont, dass es für Jungen und Mädchen kein Richtig oder Falsch geben sollte (ebd. S. 8).
Weil durch die Gesellschaft verschiedenste Differenzkategorien in Bezug auf Jungen und Mädchen aufgemacht werden, wird häufig übersehen, dass die Gemeinsamkeiten der Kinder weitaus größer sind als ihre Unterschiede (Elsen, 2020, S. 169). Im Folgenden wird analysiert, inwieweit weibliche und männliche Figuren in Kirsten Boies Kinderbüchern Geschlechternormen in Bezug auf Merkmalszuschreibungen, Sprache, Aussehen und Verhalten erfüllen, in welchen Strukturen sie eingebettet sind und in welchem Maße das Thema Geschlecht aufgegriffen und bearbeitet wird.
Zunächst soll die Anzahl männlicher und weiblicher Figuren in den Geschichten betrachtet werden. Die Protagonisten eingeschlossen, agieren in den Geschichten „King Kong das Geheimschwein“ und „Jannis und der ziemlich kleine Einbrecher“ vier Jungen, ein weibliches Meerschweinchen und eine männliche phantastische Figur. Mädchen kommen nicht handelnd vor und sind dadurch in den „Jungengeschichten“ eindeutig unterpräsentiert. In den Lena-Geschichten hingegen, agieren sowohl bei den Kindern als auch bei den Erwachsenen gleich viele männliche und weibliche Akteure. Auch in „Kann doch jeder sein, wie er will“ sind Jungen und Mädchen in gleicher Weise beteiligt, mit drei Frauen und zwei Männern sind weibliche Erwachsene dabei nur leicht in der Überzahl. Wird allerdings die Häufigkeit des Auftretens in der Geschichte mit einbezogen, ergibt sich insgesamt eine Überpräsentation weiblicher Figuren. In allen behandelten Geschichten werden auf 60 Bildern Frauen und nur auf 22 Bildern Männer abgebildet. Das lässt sich vorrangig dadurch erklären, dass die Mütter in vielen Geschichten die primäre Bezugsperson für die Protagonisten darstellen. Zusätzlich wird auf 18 Bildern der ‚Heinzler´ abgebildet, der als männliche Figur betrachtet werden kann, was die Unterpräsentation männlicher Figuren etwas relativiert. Auf Seiten der Kinder werden auf 88 Bildern Jungen und auf 96 Bildern Mädchen abgebildet, was erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass in den ‚Jungengeschichten‘ keine Mädchen agieren. In den ‚Mädchengeschichten´ kommen demnach zwar durchaus Jungen vor, die Mädchen sind aber um einiges häufiger präsent. In Geschichten mit weiblichen Protagonisten stehen dementsprechend die Mädchen genauso im Mittelpunkt, wie die Jungen in den Geschichten mit männlichen Protagonisten. Jungen werden in den ‚Mädchengeschichten´ allerdings nicht komplett ausgespart. Die Berufe der erwachsenen Protagonisten spielen eher eine untergeordnete Rolle. Eine Ausnahme stellen Lehrpersonen dar, die die Geschichten häufig mitbeeinflussen und einen teilweise hohen Stellenwert im Leben der Protagonisten haben. Außer in „Jannis und der ziemlich kleine Einbrecher“ sind die Lehrpersonen alle weiblich. Neben dem Beruf der Lehrerin werden die Berufe Krankenschwester und Kassiererin in den Geschichten Frauen zugeordnet. Männer werden als Fußballtrainer, Weihnachtsmann und Fotograf verkörpert.
Geschlechtsübergreifend werden alle Protagonisten als aufgeweckte, einfühlsame, reflektierte und handlungsfähige Kinder dargestellt, die auch Momente der Unsicherheit und Angst erleben und das Verhalten der Erwachsenen stellenweise hinterfragen. Dabei entwickeln sie verschiedene Regulierungsstrategien, um mit ihren Ängsten fertig zu werden. Lena bespricht ihre Probleme beispielsweise mit ihrem Stoffhund und findet bei ihm Bestätigung. Außerdem überträgt sie eigene Ängste auf ihn und fängt bei Überforderung an zu weinen. Während Jannis alle Lichter einschaltet und durch Radio und Fernsehen Hintergrundgeräusche schafft, um seine Angst zu verringern und sich sicherer zu fühlen, findet Jan-Arne Mut durch den Gedanken, dass King Kong ihn vor stärkeren Kindern beschützt. Es wird deutlich, dass alle Kinder, egal ob Junge oder Mädchen, zwar aktiv und eigenständig handeln, aber im Inneren alle Momente der Unsicherheit und Angst erleben. Dadurch entstehen keine eindimensionalen Bilder eines ‚starken Jungens‘ oder ‚schwachen Mädchens‘ und auch keine Umkehrung dieses Stereotyps. Vielmehr werden die Protagonisten unabhängig vom Geschlecht vielschichtig und authentisch dargestellt. In allen Geschichten kommen zudem Nebencharaktere vor, die Geschlechterstereotypen in einzelnen Punkten widersprechen, ohne dabei unbeliebt zu sein oder uncool zu wirken. Katrin ist beispielsweise besonders gut in Mathe, was an verschiedenen Stellen erwähnt wird, Frieder stellt einen Gegenpol zu Michi dar, kümmert sich liebevoll um seine Tiere und ist sehr freundlich und großzügig. Dass er groß, älter und sehr selbstständig ist, trägt dazu bei, dass Jan-Arne ihn als Vorbild ansieht, was die Sympathie für diesen Charakter noch verstärkt. Auch Jonas vermittelt ein positives Jungenbild. Er ist rücksichtsvoll und bietet Lena seine Hilfe an, bleibt aber authentisch, indem er diese Seite nicht vor allen Mitschülerinnen und Mitschülern offenbart. Valeska dekonstruiert das Bild eines braven Schulmädchens, indem sie regelmäßig hereinruft, laut ist und häufig Schimpfwörter verwendet und der Heinzler wird durch den langen Bart sehr männlich dargestellt, erledigt aber Aufgaben, die eher dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden. Äußerlich werden geschlechterstereotypische Kleidung und Farbzuweisungen eher vermieden. Demgegenüber werden einzelne Charaktere teilweise auch geschlechterstereotypisch überzeichnet dargestellt. Jan-Arnes Mutter spricht beispielsweise mit hoher, schriller Stimme, reagiert ängstlich und hysterisch auf die vermeintliche Ratte und besucht einmal die Woche einen Strickkreis. Es wird zudem gezeigt, wie die Kinder die Verhaltensweisen ihrer Eltern imitieren. Lena gibt ihrem Haustier zum Trost einen Kuss auf den Kopf, so wie es Lenas Mutter bei ihr selbst macht und auf Bildebene wird deutlich, dass Alex im Streit mit seinem Vater dessen Gestik übernimmt (Boie, 2014, S. 33). An dieser Stelle wäre es interessant, näher auf Identifikationsmöglichkeiten einzugehen, die sich durch die handelnden Figuren für kindliche Leserinnen und Leser ergeben und herauszuarbeiten, welche Potentiale die Geschichten als Lektüre in der Grundschule darstellen, um Leseinteresse und Fähigkeiten im Bereich des Lesens zu stärken. Dies sprengt aber den Rahmen dieser Arbeit.
[...]