Bachelorarbeit, 2020
21 Seiten, Note: 1,0
1. Einleitung
2. Kleists Lebensplan unter Einbezug seiner Lebenssituationen
2.1 Kleists Abkehr vom Militär
2.2 Studium und Verlobung
2.3 Würzburger Reise
2.4 Kant-Krise
3. Das Lebensplan-Motiv in Kleists literarischen Werken
3.1 Unerreichbare Ziele
3.2 Das Scheitern an sich selbst
4. Fazit
Ein wichtiger Grund dafür, dass Heinrich von Kleist gerade für das Abweichende, Pathologische und Widersprüchliche bekannt ist1, mag der auf das Streben nach Glück ausgerichtete ‚Lebensplan‘ des jungen Kleist und dessen späteres Scheitern sein. Kleists Denkvoraussetzungen und seine wahrscheinlich durch die Lektüre Kants verursachte Krise hat die Germanistik über Generationen hinweg beschäftigt. Laut Kreutzer (2009) lässt sich die Forschung als „Gegeneinander zweier klar geschiedener Positionen charakterisieren“2. Diese Positionen bestehen einerseits aus der Annäherung Kleists an die geistige Welt der Aufklärung und andererseits in seiner existentialistischen Deutung.
Der Fokus soll hier auf der Entstehung und Entwicklung seines Lebensplans liegen. Beides soll zunächst anhand verschiedener Stationen seines Lebens und unter Einbezug seiner Briefe nachvollzogen und anschließend in Kontext zu einigen seiner literarischen Arbeiten gestellt werden.
Laut Deißner (2009) sucht Kleist aus Angst vor der Leere einer planlosen Existenz nach einem „deutlich abgesteckten Weg, einer handfesten Definition des Glücks“ und will für sich und seine Verlobte damit „Leben und Streben als sinnvoll ausweisen“3. Dabei versuche Kleist, Wahrheit, Glück und Tugend zu synthetisieren. Der Lebensplan ist somit stark philosophisch geprägt, wobei es zu bedenken gilt, dass die Überlegungen zu diesem nicht aus einer distanzierten Sichtweise erfolgen, sondern häufig zur Rechtfertigung oder zum Aufschub seiner Lebensentscheidungen genutzt werden.
Auch muss zunächst erwähnt werden, dass über die ersten 21 Jahre Kleists vieles nicht bekannt ist. Es ist nicht gewiss, ob sich seine überlieferten Briefwechsel als der Beginn seiner schriftlichen Äußerungen und vielleicht sogar der Reflexion überhaupt verstehen lassen.4
Um die Entstehung und den Wandel des Lebensplans Kleists nachvollziehen zu können, sollen im Folgenden zunächst kurz seine jeweiligen Lebenssituationen bis zum Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit skizziert und im Anschluss für den Lebensplan relevante Briefe analysiert werden.
Als Spross eines bekannten adligen Brandenburgischen Offiziersgeschlechts 1777 hineingeboren in eine ständische Gesellschaftsordnung, die gerade im Begriff ist, unterzugehen, erlebt der junge Kleist all die ständischen Regeln und auch die Privilegien als Zwang und als Hindernisse auf der Suche nach persönlichem Glück.5 Zudem lastet auf ihm ein großer Druck, der Familienehre gerecht werden zu müssen. Zwar wehrt Kleist sich immer wieder gegen diesen, jedoch liegt darin sicherlich ein Grund für seinen starken Ehrgeiz, Großes leisten zu müssen.6
Bereits mit 14 Jahren tritt Kleist nach dem frühen Tod seines Vaters in das elitäre Potsdamer Garde-Regiment Nr. 15 ein, in dessen Dienst er, teilweise im direkten Kriegseinsatz, sieben Jahre verbringt und wo er Literatur und Philosophie der Aufklärung kennen und schätzen lernt.7 Aus dieser Zeit sind seine ersten beiden Briefe überliefert: Im ersten (März 1793) schildert der gerade zur Vollwaise gewordene Kleist seiner Tante die Verhältnisse seines Quartiers und im zweiten (Februar 1795) bedankt er sich bei seiner Schwester Ulrike für eine selbstgestrickte Weste und bringt bereits seine Unzufriedenheit mit der Militärlaufbahn zum Ausdruck: „Gebe uns der Himmel nur Frieden, um die Zeit, die wir hier so unmoralisch tödten, mit menschenfreundlicheren Thaten bezahlen zu können!“8 Beeinflusst durch die Lektüre aufklärerischer Texte zeigt er also schon hier große Zweifel an der für ihn vorbestimmten Tätigkeit.
Im Frühjahr 1799 entschließt er sich, gegen die Tradition und den Willen seiner Familie, zum Austritt aus der Armee. Diesen Schritt begründet er ausführlich in seinem Aufsatz den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört – auch unter den größten Drangsalen des Lebens, ihn zu genießen! und in einem Brief an seinen ehemaligen Hauslehrer Christian Ernst Martini mit dem „Wunsche, glücklich zu sein“ (DKV IV, 21). Da sich beide Texte auf das Streben nach Glück beziehen, finden sich in ihnen wesentliche Grundlagen für seinen Lebensplan.
Der Aufsatz ist an seinen Freund Otto Rühle von Lilienstern gerichtet und vermutlich Anfang 1799 verfasst worden. Kleist stellt darin zunächst die „Großen dieser Erde“ dem „einen armen Tagelöhner“ gegenüber. Erstere seine zwar als "Günstlinge des Glücks“ bekannt und würden „in Herrlichkeit und Überfluß“ (DKV III, 515) leben, dennoch seien sie unglücklich. Der Tagelöhner sei dagegen trotz allen Schwierigkeiten des Lebens zufrieden. Daraus schließt er, dass die „Regel des Glücks“ sich nur unsicher an äußeren Dingen festmachen lasse und sie sich nur dort gründen könne, wo sie auch „einzig genossen und entbehrt“ (Ebd.) werde – im Innern. Worin diese Regel des Glücks jedoch genau besteht, ist ihm offenbar noch nicht ganz klar und er versucht in seinem Aufsatz, sich ihr anzunähern.
Kleist ist sich sicher, dass in der Schöpfung und im „Inbegriff aller Dinge“ auch die „Ursachen und die Bestandteile des Glückes“ enthalten sein müssten, da „die Gottheit“ (Ebd.) die von ihr selbst in der menschlichen Seele geweckte Sehnsucht nach Glück nicht betrügen werde. Er versteht Glück als den ersten Wunsch, der einen jeden „durch den ganzen Lauf unseres Lebens“ (Ebd., S. 516) und sogar darüber hinaus begleite. Kleist ist überzeugt davon, dass „der Gottheit“ (Ebd.) alle Menschen gleich nah am Herzen liegen, zeigt also große Zuversicht und Vertrauen in Gott. Dieser könne nicht so ungerecht sein, nur einem kleinen Teil der Menschen die Genüsse des Glücks zuzugestehen, weshalb es zwangsläufig ein Glück geben müsse, „das sich von den äußeren Umständen trennen läßt“ (Ebd.) und auf das alle Menschen gleiche Ansprüche hätten. Doch wie lässt es sich erreichen?
Statt das Glück in der Verbesserung der äußeren Umstände zu suchen, plädiert Kleist dafür, es als „Belohnung und Ermunterung an die Tugend“ zu knüpfen, da es so „in schönerer Gestalt und auf sicherem Boden“ (Ebd.) erscheine. Kleist versucht, seinen Freund Rühle von seiner Sichtweise zu überzeugen und zeigt sich des Erfolgs dabei auch sicher. Allein die Tugend könne glücklich machen und der Beste sei der Glücklichste, wobei die Tugend ihm wie etwas „Hohes, Erhabenes, Unnennbares“ (Ebd., S. 518) erscheine, für das er vergebens ein Wort suche. Er ist sich also gar nicht sicher, was genau unter dem Begriff der Tugend überhaupt zu verstehen ist. Seit er an seiner Bildung arbeite, habe sie jedoch an Gestalt gewonnen. Eigenschaften wie „Edelmut, Menschenliebe, Standhaftigkeit, Bescheidenheit, Genügsamkeit etc.“ (Ebd.) und die „Erhöhung des Scharfsinns durch Erfahrung und Studien aller Art“ (Ebd., S. 519) könnten grundsätzliche Tugenden „unerschütterlich und unauslöschlich in unsern Herzen verpflocken“ (Ebd.) und so dazu beitragen, nie unglücklich zu werden.
Unter Glück versteht er „nur die vollen und überschwenglichen Genüsse, die […] in dem erfreulichen Anschaun der moralischen Schönheit unseres eigenen Wesens liegen“ (Ebd.). Kleist legt den Zielpunkt des Glücksstrebens in die Erreichung von Vollkommenheit, sein Gedanke von Glück ist also ein „Entwurf in die Zukunft hin“ und meint nie einen Zustand, sondern ein „Woraufzu“9. Unter Bildung scheint Kleist eine „geradlinig-stetige Zunahme von Kenntnissen und positiven Eigenschaften“10 zu verstehen, die ihn durch den Erwerb von Wahrheiten zum Weisen als Idealbild formen sollen. Es geht ihm offenbar auch darum, mit sich selbst zufrieden zu sein, mit gutem Gewissen zu handeln und seine Würde gegen alle Widrigkeiten zu behaupten. Dies sei weniger eine „Denkungsart“ (Ebd., S. 519) als eine Empfindungsweise, womit Kleist, passend zu seiner Zeit und dem Sensualismus, die Wichtigkeit der Empfindung auch gegenüber dem rationalen Denken Kants unterstreicht.11
Um seinen Freund zu überzeugen und Beispiele für seine Argumentation zu bringen, bezieht sich Kleist zunächst auf Christus, den seiner Meinung nach „besten und edelsten der Menschen“ (Ebd., S. 520). Dieser habe zwar unter Mördern geschlafen, seine Hände freiwillig zum Binden dargereicht und sei von Unmenschen gefesselt worden, dennoch habe er sich frei und voll des Trostes gefühlt. Zwar würde laut Kleist alles, was er noch sagen könnte, „matt und kraftlos neben diesem Bilde stehen“ (Ebd., S. 521), dennoch bezieht er sich auch noch auf Homer, wobei er einen Mittelweg aus „entbehren und genießen“ als die "Regel des äußersten Glücks“ (Ebd., S. 523) bezeichnet.
Er räumt in Bezug auf diesen Mittelweg jedoch ein, dass zwar sein Geist von der Wahrheit dieser Lehre überzeugt sei, doch sein „Herz ihr unaufhörlich widerspricht“ (Ebd., S. 522). Dieser Widerspruch vermittelt den Eindruck, dass Kleist mit seinem Brief nicht nur Rühle, sondern auch sich selbst überzeugen will.12 In Bezug auf das Gleichgewicht glücklicher und unglücklicher Zufälle geht Kleist noch auf den antiken Tyrannen Polykrates ein, der zwar bis zu einem gewissen Zeitpunkt ausschließlich Glück gehabt habe, worauf jedoch das Schicksal dieses Ungleichgewicht durch einen Tod am Galgen ausgeglichen habe. Wie Polykrates ergehe es so manchem Jüngling, der „in ein paar Jugendjahren den Glücksvorrat seines ganzen Lebens“ (Ebd., S. 524) verprasse.
Kleist fordert seinen Freund auf, an ihrer beiden „schönen und herrlichen Pläne, an unsre Reisen“ (Ebd., S. 525) zu denken, die er mit der Bereicherung der Kenntnisse, Erfahrung und Tätigkeit verbindet. Er sieht also Bildung als den wichtigsten Zweck des Reisens an, was sicherlich auch ein Grund für seine späteren Reisen zum Aufschub wichtiger Lebensentscheidungen ist.
Kleist glaubt, in der Seele seines Freundes den Keim des Menschenhasses entdeckt zu haben und fordert Rühle zu Menschenliebe auf. Diese sei auch deshalb wichtig, weil alle Tugenden „für die Menschen, und zu ihrem Nutzen“ (Ebd., S. 530) seien. Auch hier demonstriert Kleist seine Belesenheit und nennt als Musterbeispiele „großer erhabner Menschen“ (Ebd., S. 529) Sokrates, Christus, Leonidas und Regulus. Diese hätten ihren weitreichenden Nachruhm auch dem Zufall zu verdanken, der ihre Verhältnisse so glücklich dargestellt habe.
Laut Deißner (2009) offenbart Kleist in seinem Aufsatz „wahrlich erstaunliches argumentationsstrategisches Ungeschick“, da er sich am Anfang des Aufsatzes als Logiker gebärdet, um kurz darauf den „argumentativen Bankrott zu erklären“13. Denn wie der Mensch durch die Tugend zu Selbstliebe und damit zu Glück gelangen soll, wenn das eigennützige Motiv der Glückssuche nicht tugendhaft ist, begründet Kleist nicht wirklich, sondern verweist hier lediglich auf seine Empfindung.
Der Brief an seinen ehemaligen Hauslehrer Martini, der dem soeben beschriebenen Aufsatz an einigen Stellen ähnelt und eine „möglichst vollständige Darstellung [s]einer Denk- und Empfindungsweise enthalten soll“ (DKV IV, 19), unterscheidet sich insofern von dem Aufsatz, dass Kleist im Aufsatz versucht, seinen Freund von seiner Argumentation zu überzeugen und auch auf dessen Zweifel eingeht. Martini dagegen spricht Kleist eher als Respektsperson und Ratgeber an.14
In seinem Brief bezieht sich Kleist zunächst auf eine offenbar zuvor ungeklärte Streitfrage: Ob es einen Fall geben könne, „in welchem ein denkender Mensch der Ueberzeugung eines Andern mehr trauen solle, als der eigenen“ (DKV IV, 19). Zwar könne man der Erfahrung und Weisheit eines Älteren trauen, dennoch müsse man dessen Meinung streng und wiederholt prüfen. Er versucht also, seine eigenen Ansichten gegenüber Martini zu legitimieren. Sich darauf berufend, dass niemand besser wissen könne als er selbst, was seinem Glück diene, begründet er seinen Entschluss, sich anstelle des Militärdienstes den Wissenschaften zu widmen. Er fühle die Notwendigkeit, sich „einem vernünftigen Manne gerade und ohne Rückhalt mitzutheilen“ (Ebd., S. 20) und erläutert Martini seinen „neuen Lebensplan“ (Ebd.), den er bislang seiner Familie nur zum Teil mitgeteilt habe, mit Ausnahme seiner Schwester, die er als seinen Vormund bezeichnet. Kleist will sich offenbar umfassend für seine Entscheidung rechtfertigen. Sein Entschluss fließe aus dem „Wunsche, glücklich zu sein“ (Ebd., S. 21), der natürlich und einfach zugleich sei und alle anderen Gründe in sich fasse. Anschließend erläutert er diesen Wunsch und die verschiedenen Auffassungen davon, wobei er bekannte Positionen der aufklärerischen Tugendphilosophie vertritt und sich tief in seinen aufgeklärt-christlichen Werten verankert zeigt.15 Er sei entzückt von seinen Betrachtungen, die er häufig wiederhole und bei denen er sich „unaufhörlich darin [übe], das wahre Glück von allen äußeren Umständen zu trennen und es nur als Belohnung und Ermunterung an die Tugend zu knüpfen“, wo es „in schönerer Gestalt und auf sicherem Boden“ (Ebd., S. 22) erscheine. Die Tugend solle jedoch nicht als Mittel zum Zweck angestrebt werden, sondern um ihrer selbst willen. Der Erwartung und Hoffnung auf ein sinnliches Glück liege zwar in gewisser Weise Eigennutz zugrunde, jedoch sei dieser „der edelste, der sich denken läßt“ (Ebd.), da er der bestmögliche Sporn zur Tugend sei.
Den Soldatenstand, dem er „nie von Herzen zugethan gewesen“ (Ebd., S. 27) sei, wolle er so bald wie möglich verlassen, da gerade die „größten Wunder militärischer Disciplin“ ihm durch seine Betrachtungen der Gegenstand seiner „herzlichsten Verachtung“ (Ebd.) geworden seien. Er sei gezwungen worden, zu strafen, wo er gern verziehen hätte und umgekehrt, wodurch er sich selbst für strafbar habe halten müssen. Dadurch, dass er seine moralische Ausbildung für eine seiner heiligsten Pflichten halte, sieht er es geradezu als seine Pflicht an, den Soldatenstand zu verlassen.
Kleist, der sich bereits in Potsdam hauptsächlich mit Mathematik und Philosophie beschäftigt und nebenbei Studien zu Griechisch und Latein betrieben hat, beginnt die Wissenschaft als seine individuelle Bestimmung zu sehen. Dieser zu folgen, empfindet er als wesentliche Grundlage auf der Suche nach seinem individuellen Glück.16 Er skizziert einen neuen Lebensplan, der vorsieht, zunächst jahrelang in Frankfurt, „das Studium der reinen Mathematik und reinen Logik selbst zu beendigen“ und sich „in der lateinischen Sprache selbst zu befestigen“, um so den Grundstein für ein späteres Studium der „höheren Theologie, der Mathematik, Philosophie und Physik“ (DKV IV, 31f) in Göttingen zu legen17, wie er Martini in seinem zweiten Brief mitteilt.
Die Briefe dieser Zeit verraten, dass Kleist Schiller, Goethe, Wieland, Franz Alexander von Kleist, Lukrez und einige mehr gelesen hat und auch macht er Anspielungen auf Lessing, Shakespeare, Rousseau und Kant. Laut Bisky (2007) enthält diese umfangreiche Darstellung seiner Denk- und Empfindensweise
vier Motive, die als Quintessenz der Aufklärung gelten können und zugleich die Dynamik seiner intellektuellen Biographie ankündigen: das Bekenntnis zum Selbstdenken, die Idee der Vervollkommnung, die Überzeugung, dass richtige Einsicht in die Ordnung der Welt Normen für das eigene Handeln bereitstelle, und eine der großen Theodizee-Debatten des Jahrhunderts, in denen es um die Frage ging, wie die wirklichen Übel angesichts Gottes und der Vernunft zu rechtfertigen seien.18
Zwar finden sich in den Briefen Kleists immer wieder Derivate von weitgehend säkularisierten religiösen Vorstellungen – er sieht etwa in der Tugend eine „geheime göttliche Kraft“ (DKV III, 520) und in seiner moralischen Ausbildung eine seiner „heiligsten Pflichten“ (DKV IV, 27) – doch bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass Kleist durch und durch religiös sein muss, da die Verwendung solcher Worte zu seiner Zeit häufig auf Profanes übertragen wurde.19
Kleist beginnt noch im selben Jahr, an der Vidriana, der Provinzuniversität seiner Heimatstadt, Physik, Mathematik, Naturgeschichte und Latein zu studieren. Dort hört er mit großem Interesse Vorlesungen bei dem bekannten Mathematiker, Physiker und Populärphilosophen Ernst Christian Wünsch. Dennoch findet er beim Studium nicht das ersehnte Glück, sondern leidet vielmehr an Isolation und an seiner schwankenden Selbsteinschätzung hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Fähigkeiten.20
In einem Brief an seine Schwester Ulrike während seines ersten Semesters, mit dem er scheinbar versuchen will, ihr „einige Bildung zurückzugeben“ (DKV IV, 36) erläutert er ihr sein Konzept eines Lebensplans. Laut Kreutzer (2009) enthält erst dieser Brief eine eigentliche Definition des Lebensplan-Begriffs, da etwa in dem zuvor beschriebenen Brief an Martini mit dem neuen Lebensplan lediglich die Absicht gemeint ist, sich vom Militär abzuwenden und den Wissenschaften zu widmen.21 Wie auch der Aufsatz an seinen Freund Rühle ist dieser Lebensplan auf das Erreichen von Glück ausgerichtet.
Kleist beginnt den Brief damit, dass er seiner Schwester die Wichtigkeit ihrer Unterstützung und Freundschaft für ihn ausführt. Sie sichere ihm „den guten Erfolg“ seiner Grundsätze und Entschlüsse, sei die Einzige, die ihn hier ganz verstehe und schütze ihn vor „alle[n] Einflüssen der Torheit u des Lasters“ (Ebd., S. 37). Kleist sehe in ihr „das edelste der Mädchen“ und er liebe sie als die, die ihm am teuersten sei. Er geht sogar so weit, dass er das Schicksal seines Lebens an das ihrige knüpfen würde, wenn sie ein Mann oder nicht seine Schwester wäre. Als Ausgleich ihrer Wohltaten für ihn wolle er „bis ins Geheimste u Innerste“ (Ebd.) ihres Herzens vordringen, um ihr bei schwierigen Entscheidungen zu helfen und eine „dunkle Seite“ an ihr auszuspüren, zu erhellen und sie, die „so nahe am Ziele“ (Ebd., S. 38) stehe, hinaufzuführen. Wie also bereits bei seinem Freund Otto Rühle von Lilienstern, meint Kleist also auch bei seiner Schwester, ihr bei der Ausbildung ihrer Persönlichkeit und dem Erreichen auch ihres persönlichen Glückes helfen zu müssen.
[...]
1 Vgl. Johannes F. Lehmann.: Einführung in das Werk Heinrich von Kleists. Darmstadt 2013. S. 8.
2 Hans Joachim Kreutzer: Die dichterische Entwicklung Heinrichs von Kleist. Untersuchungen zu seinen Briefen und zu Chronologie und Aufbau seiner Werke. In: Günther Emig (Hg.): Heilbronner Kleist-Studien. Bd. 2. Heilbronn 2009. S. 49.
3 David Deißner: Moral und Motivation im Werk Heinrich von Kleists. In: Wilfried Barner, Georg Braungart, Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Studien zur deutschen Literatur. Tübingen 2009. S. 2.
4 Vgl. Kreutzer (2009), S. 53.
5 Vgl. Lehmann (2013), S. 10.
6 Vgl. Ebd., S. 21.
7 Vgl. Ingo Breuer: Kleist-Handbuch. Leben, Werken, Wirkung. Stuttgart 2009. S.1.
8 Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. IV. S. 18. Im Folgenden direkt im Text mit DKV angegeben.
9 Kreutzer (2009), S. 66.
10 Ebd., S. 77.
11 Vgl. Fülleborn (2007), S. 14.
12 Vgl. Anne Fleig: Glück. In: Ingo Breuer (Hg.): Kleist. Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2009. S. 328-331. S. 330.
13 Deißner (2009), S. 23.
14 Vgl. Fleig (2009), S. 329.
15 Vgl. Ebd.
16 Vgl. Lehmann (2013), S. 23.
17 Vgl. Jens Bisky: Kleist. Eine Biographie. Berlin 2007. S. 47.
18 Bisky (2007), S. 48.
19 Vgl. Kreutzer (2009), S. 55.
20 Vgl. Lehmann (2013), S. 23.
21 Vgl. Kreutzer (2009), S. 54.
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