Bachelorarbeit, 2020
48 Seiten, Note: 1,7
1. Einleitung
2. Klassische Strukturen eines Detektivromans
2.1 Erzählmuster
2.2 Der Richter und sein Henker
2.3 Das Figurentableau
3. True Crime – von Robert-François Damien zu Steven Avery
4. Das Podcast Phänomen
4.1 Hören versus Lesen
4.2 Bestimmung der Gattung Podcast
5. Der Fall Amelie
5.1 Narrative Strukturen
5.2 Sabine Rückert als zentrale Ermittlungsinstanz
5.3 Die Rolle der Schriftlichkeit
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
Gegenstand und Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, kriminalliterarische Strukturen und Motive eines klassischen Detektivromans im Medium Podcast offenzulegen. Zu diesem Zweck wird im Folgenden der Detektivroman Der Richter und sein Henker als inhaltliche und strukturelle Schablone für den Podcast Zeit-Verbrechen angelegt. Um diese zwei Instanzen zu vergleichen und aufzuzeigen, inwieweit ein Podcast literarisiert werden kann, muss jedoch für beide Gattungen ein Grundgerüst aufgestellt werden, anhand dessen sie im weiteren Verlauf verglichen werden können. Hierzu ist es vorerst notwendig die Gattung Detektivroman in einen gattungstheoretischen Kontext zu rücken. Dabei stellt sich die Frage, wer oder was im Mittelpunkt eines klassischen Detektivromans steht und wie er narrativ strukturiert ist. Dazu werden drei verschiedene Komponenten einer klassischen Detektivgeschichte um einen brillanten Ermittler definiert und der Roman auf ihre Gewichtung hin überprüft. Außerdem darf die Rolle der Lesenden nicht außer Acht gelassen werden, denn die eigene Rätselfreude spielt bei der Beliebtheit der Gattung Detektivroman ebenfalls eine große Rolle. Aber auch den einzelnen Figuren innerhalb einer klassischen Kriminalgeschichte wird ein Handlungsrahmen vorgeschrieben. Nicht nur auf Ebene der histoire1, sondern auch auf discours2 -Ebene. So ist die Erzählung einer solchen Geschichte an die Perspektive einer bestimmten Figur gebunden, aus der sich folglich eine individuelle Art der Vermittlung ergibt. Diese figurale Monoperspektive muss für diese Analyse erläutert werden, denn aus ihr ergeben sich wichtige Resultate für die Ereignisfolge, den Informationsstand der Leserschaft, aber auch das gezielte Verheimlichen von Informationen, im Sinne eines angemessenen Spannungsbogens. Die Herausarbeitung dieser Merkmale ist unabdingbar, um den Detektivroman Der Richter und sein Henker daraufhin an ihnen zu messen. Klassische Strukturen und Parameter müssen bekannt sein, damit sich Ähnlichkeiten hervorheben lassen und Abweichungen offensichtlicher werden. Denn Friedrich Dürrenmatt orientiert sich an klassischen Vorgaben, weicht aber gezielt von ihnen ab, um Distanz schaffen. Und diese Abweichung geht nur denjenigen auf, denen die Strukturen bewusst sind, von denen er sich distanziert. Um diese These zu stützen wird vor allem die Beziehung zwischen dem Protagonisten des Romans Komissär Hans Bärlach und seinem Gehilfen Tschanz in den Fokus der Analyse gerückt. Doch die Figur des Hans Bärlach ist nicht nur in Beziehung zu anderen Figuren von Interesse. Da sich der Vergleich zwischen Dürrenmatts Roman und dem Podcast Zeit-Verbrechen wiederholt an einem Vergleich zwischen dem ermittelnden Hans Bärlach und der Journalistin Sabine Rückert aufhängt, ist es essenziell beide Figuren detailliert zu analysieren. Auf der anderen Seite dienen auch diese Hervorhebungen ihrer klassischen Merkmale sowohl ihrer Zuordnung als auch ihren Abweichungen vom klassischen Schema. Denn wie sich im Folgenden zeigen wird, bewegt sich keine der im Detektivroman handelnden Figuren an die durch klassische Strukturen vorgegebenen Charakteristika und den ihr zugeschriebenen Handlungsrahmen. In dieser Abweichung findet sich erneut eine Parallele zwischen Dürrenmatts Roman und der vierteiligen Podcast-Erzählung. Bei allen Ähnlichkeiten zwischen den Geschichten darf jedoch eine wichtige Unterscheidung keinesfalls außer Acht gelassen werden: ihr jeweiliger Wahrheitsgehalt.
Bei dem 1950 erstmals erschienenen Detektivroman Der Richter und sein Henker handelt es sich um die fiktive Erzählung eines Mordes, der dazu dient, den Täter eines anderen Verbrechens nach jahrelanger Feindschaft zur Rechenschaft zu ziehen. Die hier behandelten vier Episoden des Podcast Zeit-Verbrechen, Unschuldig im Gefängnis, Ein Ahnungsloser wird mitgerissen, Lug und Trug vor Gericht und Die Justiz kratzt und beißt, von denen die erste im April 2018 erschienen ist, behandeln den Kriminalfall um Amelie S. Die 18-jährige leidet bereits ihr ganzes Leben unter ihrem tyrannischen Vater und seinen Misshandlungen. Da sie ihm diese jedoch nicht nachweisen kann, inszeniert sie insgesamt 14 Vergewaltigungen und einen Abtreibungsversuch mit einem Kleiderbügel, die sie ihrem Vater anhängt. In diese Beschuldigungen reißt sie außerdem auch ihren Onkel hinein. Ein wichtiger Unterschied zu Dürrenmatts Roman besteht allerdings darin, dass sich der ‚Fall Amelie‘3 im Jahr 1994 und den darauffolgenden 12 Jahren im Emsland tatsächlich so zugetragen hat. Damit lassen sich die Podcast Episoden zweifelsfrei dem Genre ‚True Crime‘ zuordnen. Ein Genre, das reale Verbrechen behandelt und das in den letzten Jahren immer beliebter wird. Filme, Serien, Dokumentationen, Romane und vor allem Podcasts, viele Gattungen behandeln das Genre. Im Fokus steht dabei vermehrt die Hintergrundgeschichte einer Tat und die Erklärung dieser anhand biographischer Einschnitte im Leben der Täter*innen4. Hinsichtlich der Anfänge des Genres handelt es sich hierbei um eine Verschiebung des Fokus. Dies wird deutlich, wenn man die verschiedenen Ziele beachtet, die mit dem Verfassen dieser Erzählungen verfolgt wurden. Zu diesem Zweck werden im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit die Anfänge bei Pitaval und Foucault in den Blick genommen, deren Intention mehr in der Abschreckung, als im Verständnis für einen Täter oder eine Täterin lag. Neben der Entwicklung des ‚True Crime‘-Genre ist aber auch die Entwicklung des Medium Podcast von großer Bedeutung für die vorliegende Arbeit.
Denn um einen inhaltlichen und strukturellen Vergleich zweier Gattungen anzustellen, ist es elementar die jeweiligen Spezifika der Gattungen zuvor detailliert zu analysieren. Auch im Hinblick auf die jeweilige Hauptkomponente einer Gattung. So ist es für eine sinnvolle Gattungseinordnung wichtig, den Unterschied zwischen Gehörtem und Gelesenem hervorzuheben und in den Fokus zu nehmen. Gehörte Literatur muss sich in der Literaturgeschichte schon lange gegen den Vorwurf erheben nur ‚Nebenbeimedium‘ zu sein. Und auch wenn die vorliegende Arbeit zur Entkräftigung dieser These beitragen soll, darf der Vorwurf dennoch nicht unkommentiert bleiben. Hierzu eignet sich das Medium Podcast durch seinen ebenfalls auditiven Charakter sehr gut, soll aber trotzdem gegen bereits etablierte Gattungen wie das Hörspiel abgegrenzt werden. Auch wenn das Medium Podcast bereits seit längerer Zeit existiert, erlebt es in den letzten vier Jahren in Deutschland einen Boom. Zu finden sind Gesundheitspodcasts, Nachrichtenformate, Podcasts über ein besseres soziales Miteinander und eben auch Formate, die reale Verbrechen behandeln. Aufgrund dieser Vielfalt und der verhältnismäßigen Neuheit der Gattung ist es allerdings auch sehr schwierig eine allgemeingültige Definition oder ein klassisches Schema für das Medium zu finden. Im Folgenden wird das Medium also über Abgrenzung zu ähnlichen Medien definiert. Denn Gattungskategorien wie das Hörspiel bestehen in Deutschland mit sehr langer Tradition und lassen sich aufgrund technischer Ähnlichkeiten sehr gut zur Abgrenzung anführen. Nichtsdestotrotz unterscheidet sich die Gattung Podcast in einigen Aspekten, die ihr erlauben eine Geschichte über eine reine Wissensvermittlung hinaus zu formen. Diese Einflussmöglichkeiten werden auch im Hinblick auf den ‚Fall Amelie‘ des Podcast Zeit-Verbrechen mehr als deutlich. Die Erzählung dieses Kriminalfalls soll allerdings nicht nur zur Etablierung der Gattung Podcast dienen, sondern außerdem sein Literarisierungs-Potenzial herausstellen. Wie bereits erwähnt, geschieht dies in einem direkten Vergleich mit dem Detektivroman Der Richter und sein Henker auf verschiedenen Ebenen. Auf inhaltlicher Ebene werden dazu verschiedene einzelne Figuren, aber auch Figurenpaare und -konstellationen verglichen. Es wird sich zeigen, dass auch hier vorgegebene Rollenbesetzungen nicht eingehalten werden, und beide Kriminalgeschichten in eine Richtung vom Schema abweichen, die sie im Umkehrschluss näher zusammenführt. Außerdem werden zuvor als Detektivroman-spezifisch herausgestellte Parameter auf die Kriminalgeschichte angewandt, um die Literarisierung des Podcast zu verdeutlichen. Der berichtenden Journalistin Sabine Rückert und ihrem Kollegen Andreas Sentker kommen auch in einem literarischen Kontext sehr spezifische Rollen zu, deren Analyse entscheidend für den Vergleich der Erzählungen ist.
Abschließend wird noch einmal die Rolle der Schrift in diesem oralen Medium thematisiert. Dieser Punkt soll verdeutlichen, dass auch ein auditives Medium mit Schrift arbeiten kann und eine Besonderheit des Podcast hervorheben, mit der sich das Medium in einem gattungstheoretischen Rahmen gegen weitere behaupten kann. All diese Aspekte vereint, sollen letzten Endes ein Bild schaffen, in dem der ‚Fall Amelie‘ des Podcast Zeit-Verbrechen auf literarische Weise einen tatsächlichen Kriminalfall thematisiert. Um es mit den Worten Sabine Rückerts zu sagen: „Er hat diese Vergewaltigungen nicht begangen, aber er hat andere Taten begangen, für die er dann zur Rechenschaft gezogen wurde. Also, es ist ein bisschen…ich weiß nicht, ob du das Buch Der Richter und sein Henker kennst […]?“5
Um Dürrenmatts Kriminalroman Der Richter und sein Henker also nun im Folgenden als Vergleichsinstanz für die Literarisierung von Realverbrechen anzulegen, ist es unverzichtbar, den Roman vorerst selbst einer Gattung zuzuordnen. Andreas Blödorn definiert die Kriminalliteratur wie folgt:
Kriminelle, d.h. von […] Normen und Ergebnissen abweichende und Werteideologien ablehnende Ereignisse werden dabei im Modus narrativ strukturierter, mithin zeitlich-sequentiell organisierter Ereignisfolgen präsentiert, die einen individual oder gesellschaftlich-relevanten, mit ‚Ordnung‘ korrelierten Zustand vom gesetzten ‚Anfang‘ (Ausgangssituation), über eine Mitte (die mit Kriminalität/Verbrechen korrelierte Transformation) hin zu ihrem vorläufigen ‚Ende‘ verfolgen (der mit der wahlweise poetisch, moralisch, juristisch und strafrechtlich relevanten – Wiedereinsetzung der ‚Ordnung‘ verbundenen Endsituation).6
Im Laufe der vorliegenden Arbeit wird die Formulierung ‚narrativ strukturiert‘ noch über Dürrenmatts Werk hinaus von Interesse sein, vorerst wird der Fokus jedoch auf der Reflexion der Gattung Kriminalliteratur im Allgemeinen liegen.
Auch wenn viele Synonymverwendungen die Unterscheidung erschweren, ist es wichtig, Kriminalliteratur genau zu definieren, denn nicht bei jeder Geschichte, in deren Mittelpunkt ein Verbrechen steht, handelt es sich um einen Kriminalroman. Verbrechensliteratur erzählt die Geschichte eines Verbrechens, Kriminalliteratur die Geschichte der Aufklärung eines Verbrechens.7 Im Mittelpunkt einer solchen Kriminalgeschichte steht zweifelsfrei die Auflösung eines geschehenen Verbrechens, die Ermittlung des verantwortlichen Täters und die dazu nötigen Fähigkeiten und Anstrengungen eines Ermittelnden oder einer ermittelnden Instanz.8 In Abgrenzung zu dieser Werkgruppe gibt es aber auch Literatur, die Riedlinger als ‚Verbrechensliteratur‘ bezeichnet. In diesen Fällen ist das Interesse der Erzählungen weniger auf die Jagd nach einem Täter oder einer Täterin gerichtet, als auf die inneren Beweggründe und sozialen und psychologischen Konflikte eines oder einer solchen.9 Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit Kriminalliteratur, welche sich weitergehend noch in Detektivliteratur, hard boiled und Thriller unterteilen lässt. Durch die Untergattung der Detektivliteratur erhält die Gattung im 19. Jahrhundert ihren wichtigsten und genrekonstitutiven Impuls, weshalb Detektivromane seitdem weitgehend als Grundmodell der Kriminalerzählung gelten.10 Der wohl grundlegendste Unterschied zwischen den Gattungen hard boiled, Thriller und Detektivroman liegt in der Bedeutung, die der Ermittlung zukommt. Auch wenn sich diese Gattungen durch die beiderseitige Verwendung signifikanter Motive hin und wieder überschneiden und die Grenzen zum Teil fließend sind, müssen sie dennoch differenziert werden. So lautet ein erster Ansatz, dass „der Detektivroman […] sich durch seine besondere Betonung der suchenden ‚Schnüffeltätigkeit‘ [auszeichne], wohingegen der [Thriller] die Jagd auf einen sehr früh bekannten Gegner stark betone.“11 Als weitaus produktiver hat sich jedoch das sogenannte Drei-Komponenten-Modell des Romanisten Ulrich Schulz-Buschhaus erwiesen. Dieses etwas differenziertere Modell berücksichtigt neben einschlägigen kriminalliterarischen Typen auch Facetten und Mischformen. Schulz-Buschaus‘ Modell besteht aus den drei Komponenten ‚Action‘, ‚Analysis‘ und ‚Mystery‘ und das zu analysierende Werk wird auf die Art der Zusammensetzung und Gewichtung der drei Faktoren innerhalb einer Erzählung untersucht. Die ‚Action‘-Komponente bezeichnet die eigentlichen Handlungselemente des Kriminalromans [und] seine narrativen Partien, in denen Verbrechen, Kampf, Verfolgung, Flucht erzählt werden. ‚Analysis‘ umfasst alle Elemente des Kriminalromans, die ihm den vielgepriesenen Charakter einer Denksportaufgabe geben. ‚Mystery‘ ist jede planmäßige Verdunkelung des Rätsels, die am Schluss einer völlig unvorhergesehenen, sensationellen Erhellung Platz macht.12
Vor dem Hintergrund dieser Theorie lassen sich die unterschiedlichen Arten von Kriminalliteratur auf ihre Gewichtung der jeweiligen Komponenten hin beurteilen und zuordnen. Während für Thriller und hard-boiled-Literatur ein enges Verhältnis von ‚Action‘ und ‚Mystery‘ gilt, weist die klassische Detektivliteratur eine starke Dominanz der ‚Mystery-Analysis‘-Komponente auf.13 Dieser Mangel an ‚Action‘ erklärt sich dadurch, dass das aufzuklärende Verbrechen in einem klassischen Detektivroman bereits vor Auftauchen des Ermittelnden begangen wurde und es von nun an gilt, die vorübergehende Störung der vermeintlich heilen Welt alsbald wieder herzustellen. Was also im Vordergrund der Darstellung steht, ist das Rätsel um die Identität des Täters und ebenso die Umstände des Verbrechens, allerdings mit der vermeintlichen Chance das Rätsel als Rezipient*in ebenfalls lösen zu können. Wäre die ‚Action‘-Komponente, wie beispielsweise in einem Thriller, stärker betont, wäre den Lesenden die angebliche Chance von vorneherein genommen.
Durch die also erkennbare Gewichtung fester Parameter, lässt sich Detektivliteratur im Falle einer Dichotomie von Schema und Variation zwar auf der einen Seite der Schemaliteratur zuordnen, auf der anderen Seite veranlasst eben dieser Bestand von Figuren- und Tropentableaus immer einen gewissen Grad an Variation.14 Dieses vermeintliche Paradox von Schema und Variation erweist sich als äußerst marktgängig und verhilft der Gattung zu dem bereits erwähnten Status als Grundmodell der Kriminalliteratur. „Das Strukturrepertoire kriminalliterarischer Schemaliteratur erhält seine basalen Konturen dabei vor allem mit Edgar Allan Poes The Murders in the Rue Morgue die die Trias von Verbrechen, Ermittlung und überraschender Verbrechensaufklärung in eine rigide Handlungsstruktur einbettet.“15 Wenn an dieser Stelle von ‚überraschender Verbrechensaufklärung‘ die Rede ist, bezieht sich das ausschließlich auf einen Überraschungseffekt auf Rezipient*innen-Seite. Wie bereits zuvor angedeutet, beruht der Effekt der Detektivliteratur auf der Chance das Verbrechen an der Seite des Ermittelnden aufzuklären, weshalb die Kunst unter anderem darin besteht, den Lesenden das Gefühl zu geben, das Verbrechen mit aufklären zu können. Dies geschieht natürlich rein vordergründig und den Rezipierenden wird an keiner Stelle eine Logik geboten, welche eine realistische Chance böte, das Rätsel gleichzeitig oder gar vor dem brillanten Detektiv zu lösen.16 Diese besagte Brillanz bildet das handlungsgenerische Zentrum einer solchen Erzählung. Zwar geht es um rätselhafte Umstände, den Tathergang, das Motiv für die Tat und darum, wer das Verbrechen begangen haben könnte, jedoch werden diese diversen Unklarheiten alle einer zentralen Figur überantwortet. Eine Figur, „deren kognitive Fähigkeiten die Aufklärung durch Identifizierung, Kombination und Deutung von Clues gewährleisten. Die Zahl der Handlungsorte und deren Extension ist zumeist auf Ermittlungsorte limitiert, vordergründig geht es mithin um die Kreativität, die der Detektiv bei der Enträtselung entfaltet […].“17 Der Fokus liegt also klar auf einer zentralen, ermittelnden Figur.
Diese zentrale Figur und ihre analytischen Kompetenzen sind außerdem von großer Bedeutung für die Entfaltung der zweifachen Struktur des Detektivromans. „Dem Rätselroman liegt eine Doppelstruktur zugrunde, er enthält nicht eine, sondern zwei Geschichten. […] Während die erste erzählt, was wirklich geschehen ist, erklärt die zweite, wie der Leser (oder der Erzähler) davon erfahren hat.“18 Damit ist gemeint, dass die Ereigniskette, die der jeweilige Roman stückweise entfaltet (die Ermittlung) dazu dient, eine vorhergehende Ereigniskette (das Verbrechen) zu entfalten. Denn die Ereignisse und Verkettungen, die mit dem Verbrechen zusammenhängen, nehmen erst im Verlauf der Vermittlung der Ermittlung durch die Erzählinstanz Gestalt an.19 Und ebendiese Ermittlung wird maßgeblich durch die Fähigkeiten des Ermittelnden beeinflusst. Damit sich diese beiden Strukturen also auseinander ergeben können, sind die Wahrscheinlichkeit der Aufklärung und die Plausibilität der intellektuellen Fähigkeiten des Detektivs in vielen Fällen dem „poetischen Spielcharakter“20 unterzuordnen. Nachdem nun herausgestellt wurde, welche Bedeutung die Ermittlung sowohl auf der discours-Ebene durch den Erzähler, als auch auf der histoire-Ebene durch die ermittelnde Person hat, ist es im weiteren Verlauf wichtig, sich den Einfluss der stilistischen Mittel auf die Zuordnung bzw. Entwicklung einer Kriminalgeschichte genauer anzusehen.
Ziel des folgenden Kapitels ist es also, die stilistischen Mittel eines Detektivromans zu identifizieren, um ihren Einfluss auf die Erzählung zu veranschaulichen. Die Narrativität setzt sich, unter Bezugnahme auf eine klassisch-strukturale Narratologie, als zumeist dreistellige Abfolge von Zuständen zusammen, die für die Erzählung konstitutiv sind. Sie folgen nicht nur zeitlich aufeinander, sondern ergeben sich auch logisch auseinander und sind somit der Kausalität einer Geschichte verpflichtet.21 Dies bezieht sich auf den Inhalt, die histoire eines Kriminalromans. Nun stellt sich außerdem die Frage nach einer Darstellungs-, discours-orientierten, -ebene. An dieser Stelle werden die Kategorien ‚Stimme‘ und ‚Modus‘ relevant, da sie perspektiventscheidend für eine Erzählung sind und außerdem die Authentizität der präsentierten Fakten maßgeblich beeinflussen.22 Da eine Kriminalgeschichte immer auch eine gewisse Moral- und Wertvorstellung transportiert, ist die Ausgestaltung der Erzählinstanz von großer Bedeutung, da sie die implizierten Werte zu den Lesenden transportiert.
Zu berücksichtigen […] [ist] der Wissensstand des Erzählers […]. Für die Kriminalerzählung ist diese Verortung besonders wichtig, weil sich mit ihr stets auch die ideologische Positionierung des Erzählers innerhalb des jeweiligen Wert- und Normensystems des Textes, und damit auch zum Verbrechen, verbindet.23
Im bisherigen Verlauf dieser Arbeit wurde bereits darauf hingewiesen, dass es sich bei Kriminalliteratur im Allgemeinen und auch bei Detektivromanen im Speziellen, um Schemaliteratur handelt, die durch Variation besteht. Dieses Schema findet sich ebenfalls in Bezug auf die sogenannten ‚stock figures‘24, und der oft damit verbundenen Erzählinstanz. Bei stock figures handelt es sich um das immer wiederkehrende Figurentableau innerhalb einer Detektivgeschichte. Für die Gattung der Detektivromane gilt eine äußerst hohe Invarianz in Bezug auf diese Figuren und ihre Konstellationen.25 Von diesem Schema ist auch die Erzählinstanz nicht ausgeschlossen. Ein Großteil dieser Literatur verwendet eine figurale Monoperspektive, um Einblick in das Geschehen zu geben. Diese Monoperspektive ist oft an eine der bereits erwähnten stock figures gekoppelt und der präsentierte Inhalt damit grundlegend von der Perspektive dieser Figur abhängig. Die Bevorzugung dieser Erzählperspektive dient der bereits zuvor ausgearbeiteten ‚Mystery‘-Komponente. Denn die Erzählinstanz dient der Vermittlung von Informationen genauso wie ihrer Verschleierung zugunsten eines Spannungsbogens.
Im klassischen Detektivroman diene die Erzählinstanz als Perspektiventräger eben nicht nur der Vermittlung, sondern zugleich auch der Mystifikation des Lesers, indem durch Auswahl und Anordnung der gegebenen Informationen nicht nur die Plausibilisierung von Handlungen und Deutungen, sondern auch das Legen falscher Spuren […] angestrebt werde.26
Diese drei Felder der Analysemöglichkeit lassen sich zusammenfassen unter ‚Ereignisfolge‘, ‚Wissens- und Informationsvergabe‘ und ‚Perspektive/Blickorientierung‘.27 Mit Hilfe dieser drei Kategorien wird im Folgenden eine differenzierte erzähltechnische Analyse des Detektivromas Der Richter und sein Henker genauer möglich.
Friedrich Dürrenmatts Kriminalroman Der Richter und sein Henker erscheint erstmals im Jahr 1950 in der Halbmonatsschrift Der Schweizerische Beobachter in Form eines Fortsetzungsromans.28 Dürrenmatts Tätigkeit als Autor von Kriminalliteratur ergab sich vorerst mehr aus einer finanziellen Notlage heraus, als aus dem unbedingten Wunsch danach Kriminalliteratur zu schreiben.29 „Auf der Suche nach dem Ausweg aus der heiklen Notlage griff der Autor nach einer Gattung, die auch in den 50er Jahren bei Lesern beliebt und von Verlegern bevorzugt war.“30 Auch wenn die Beliebtheit der Gattung nicht anzuzweifeln war, war sie Diskreditierung ausgesetzt. So galt sie als Bestandteil der in Abgrenzung zur sogenannten ‚hohen Literatur‘ weniger anspruchsvollen Trivialliteratur, Werken dieser Gattung wurde der ästhetische Anspruch von vornherein abgesprochen.31 Laut Jambor ist „die epische Kriminalliteratur des Autors aus den 50er Jahren als ein Rehabilitierungsversuch der diskreditierten Gattung zu verstehen, als eine Probe aufs Exempel, wonach eine Gattung keinesfalls a priori der ästhetischen Minderwertigkeit bezeichnet werden kann.“32 Die heutige Gesellschaft, so argumentierte Dürrenmatt, wolle nicht explizit auf die aktuellen Gefahren aufmerksam gemacht werden und die eigene Zeit damit kritisch reflektieren, man sonne sich lieber in einem Gefühl trügerischer Sicherheit.33 Um die Entwicklung seines Romans also nicht allzu offensichtlich zu gestalten, veränderte er das klassische Schema von innen heraus. Er trug die Dekonstruktion nicht von außen an die Geschichte heran, sondern sie ergibt sich aus der Geschichte selbst. Sein Ziel war es, Kunst auf einem Gebiet zu schaffen, auf dem sie niemand vermutete.34
Im Folgenden soll deutlich werden, dass Dürrenmatt sich für seinen Detektivroman zwar durchaus bekannten Mustern und Schemata der Gattung bedient, diese aber soweit auflöst, dass den Rezipierenden der Identifikationsprozess erschwert wird und von Anfang an eine gewisse Distanz besteht.35 In einer klassischen Detektivgeschichte gerät die Handlung nach einem Verbrechen in eine Art ‚pausierten‘ Zustand. Der Tatort wird geradezu konserviert, um das Eintreffen des brillanten Detektivs abzuwarten, dem sogar eine Veränderung im Staubmuster Aufschluss über eine Tat geben würde. Bei Dürrenmatt sieht diese Szene wie folgt aus:
Alphons Clenin, der Polizist von Twann, fand am Morgen des dritten November neunzehnhundertachtundvierzig […] einen blauen Mercedes, der am Straßenrande stand. […] Clenin öffnete die Wagentür und legte dem Fremden die Hand auf die Schulter. Er bemerkte jedoch im gleichen Augenblick, dass der Mann tot war. […] Er schob den Toten auf den zweiten Vordersitz, setzte ihn sorgfältig aufrecht, befestigte den leblosen Körper mit einem Lederriemen […] und rückte selbst ans Steuer. […] Der Tote saß bewegungslos neben ihm und nur manchmal, bei einer Unebenheit der Straße etwa, nickte er mit dem Kopf […]. Sie erreichten Biel mit großer Verspätung. […] in Bern [wurde] der traurige Fund Komissär Bärlach übergeben.36
Das Muster des Leichenfundes am Anfang einer Kriminalgeschichte und das Einbeziehen eines ermittelnden Detektivs wird zwar verfolgt, das Ganze aber mit so großer Unprofessionalität gehandhabt, dass man nicht umhinkommt, diese Szene mit einer gewissen Holprigkeit und einer daraus resultierenden Distanz zu lesen.
Bis etwa zur Hälfte der Erzählung folgt zumindest die Struktur des Romans, der der klassischen Detektivgeschichte. Nachdem man den Toten nach Biel gebracht hatte, von der Art und Weise sei an dieser Stelle abzusehen, wird der Fall an Komissär Bärlach übergeben. Diesem wird eine ‚Dr. Watson-Figur37 ‘ in Form von Tschanz zur Seite gestellt und sie fangen an zu ermitteln, zu befragen und zu besprechen. Außerdem spart Dürrenmatt im Laufe seines Romans an ausführlichen Landschaftsbeschreibungen und auch die Charakterisierungen der handelnden Figuren bleiben sparsam, die Erzählung beschränkt sich auf einige wenige Aussagen, die die Personen allerdings ausreichend beschreiben und hält sich somit auch stilistisch an das klassische Schema.38 Doch dann durchbricht der Roman das genreübliche Muster. Eine tiefe Freundschaft und enge Vertrautheit wie bei Sherlock Holmes und Dr. Watson bleibt zwischen Bärlach und Tschanz zu missen. Bärlach konstatiert von Anfang an, dass er bereits jemanden „im Verdacht“39 habe, das Verbrechen begangen zu haben. Auch wenn an dieser Stelle nicht klar ist, dass sich dieser Verdacht auf Tschanz bezieht, so gibt es doch schnell weitere Ungereimtheiten. Nachdem Tschanz Bärlach mit einem Schuss auf einen angreifenden Hund das Leben rettet, kehrt der Komissär nach Hause zurück: „[Er] fuhr […] mit der Hand in die Manteltasche und entnahm ihr eine Waffe […]. Es war ein großer schwerer Revolver. Dann zog er langsam den Wintermantel aus. Als er ihn jedoch abgelegt hatte, war sein linker Arm mit dicken Tüchern umwickelt, wie es bei jenen Brauch ist, die ihre Hunde zum Anpacken einüben.“40 Dem Lesepublikum wird also vermittelt, dass Bärlach sich scheinbar auf den Angriff vorbereitet hatte, den er zudem genauso gut selbst hätte verhindern können. Dadurch ergibt sich für die Leserschaft die Schwierigkeit nicht nur das durch ein Verbrechen aufgeworfene Rätsel, sondern außerdem das rätselhafte Verhalten Bärlachs gegenüber seinem Kollegen Tschanz zu entschlüsseln. Damit wird ein von Anfang an bestehender Informationsrückstand auf Seiten des Lesepublikums verdeutlicht. Die vermeintliche Chancengleichheit zwischen Lesenden und Ermittelnden ist nicht gegeben und der Autor verstößt gegen das Gesetz des ‚fair-play‘ auf dieser Ebene des Detektivromans.41 Gerade den Gefährten des Detektivs für dieses Mysterium auszuwählen, verdeutlicht, wie sehr sich Dürrenmatt dann doch an Autoren von klassischen Detektivromanen orientierte. Nur dadurch wird deutlich, wie weitreichend ein Bruch zwischen gerade diesen beiden stock figures ist.42 Dazu kommt die Intention hinter dieser erzwungenen Verteidigung Bärlachs durch Tschanz. Durch den Schuss auf den Hund gelangt Bärlach in den Besitz einer Kugel aus der Waffe seines Gehilfen, mit der er ihm den Mord an Schmied nachweisen kann. Dieser Plan, der sich gegen seinen eigenen Kollegen richtet, ist der am meisten kriminaltechnisch motivierte, der sich im Roman finden lässt.43 Nachdem dieses Kapitel einen Überblick darüber gegeben hat, inwiefern sich der Roman als Ganzes neukonstituiert und bekannte Schemata aufbricht, ist es zum weiteren Verständnis der Dekonstruktion wichtig, sich die einzelnen Figuren der Kriminalerzählung genauer anzuschauen. Denn die meisten Neuansätze Dürrenmatts ergeben sich aus der Konzeption einzelner Figuren und ihrer Beziehungen zueinander44, wie es auch im bisherigen Verlauf bereits angedeutet wurde.
[...]
1 Vgl. Martínez, M., Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie, S. 23.
2 Vgl. Ebd.
3 Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird zur Vereinfachung und besseren Lesbarkeit mit der Bezeichnung ‚Fall Amelie‘ auf den Kriminalfall als Ganzes Bezug genommen, da die vier Folgen des Podcasts jeweils unterschiedliche und lange Titel tragen, deren vollständige Erwähnung den Rahmen dieser Arbeit unnötig sprengen würde.
4 Die vorliegende Arbeit bemüht sich um gendersensible Sprache. Zu diesem Zweck wurde eine Kombination aus Gendersternchen und anderen Neutralisierungsmöglichkeiten gewählt. Die Alternative einer Fußnote, die erklärt, dass die maskuline Form die weibliche und alle weiteren jenseits des binären Systems einschließe, widerspricht in meinen Augen dem Zweck der gendersensiblen Sprache. Zitate werden dahingehend nicht verändert.
5 Vgl. Rückert, S., Sentker, A.: Unschuldig, TC 10:58.
6 Blödorn, Andreas: Narratologie, S. 14.
7 Vgl. Genç, Metin: Gattungsreflexion, S. 3.
8 Vgl. Riedlinger, Stefan: Tradition und Verfremdung, S. 25.
9 Vgl. Ebd.
10 Vgl. Blödorn, Andreas: Narratologie, S. 14.
11 Riedlinger, Stefan: Tradition und Verfremdung, S. 26.
12 Genç, Metin: Gattungsreflexion, S. 3f.
13 Vgl. Ebd., S. 4.
14 Vgl. Genç, Metin: Gattungsreflexion, S. 4.
15 Ebd.
16 Vgl. Ebd., S. 6.
17 Ebd., S. 5.
18 Jambor, Ján: Die Rolle des Zufalls, S. 29.
19 Vgl. Genç, Metin: Gattungsreflexion, S. 6.
20 Ebd.
21 Vgl. Blödorn, Andreas: Narratologie, S. 14.
22 Vgl. Blödorn, Andreas: Narratologie, S. 15.
23 Ebd.
24 Vgl. Ebd.
25 Vgl. Ebd.
26 Ebd.
27 Vgl. Blödorn, Andreas: Narratologie, S. 16.
28 Vgl. Jambor, Ján: Die Rolle des Zufalls, S. 13.
29 Vgl. Ebd., S. 92.
30 Ebd.
31 Vgl. Ebd., S.94.
32 Ebd., S. 95.
33 Vgl. Riedlinger, Stefan: Tradition und Verfremdung, S. 124.
34 Vgl. Ebd.
35 Vgl. Riedlinger, Stefan: Tradition und Verfremdung, S. 142.
36 Dürrenmatt, Friedrich: Der Richter, S. 5f.
37 Vgl. Blödorn, Andreas: Narratologie, S. 15.
38 Vgl. Riedlinger, Stefan: Tradition und Verfremdung, S. 140.
39 Dürrenmatt, Friedrich: Der Richter, S. 14.
40 Ebd., S. 44.
41 Vgl. Riedlinger, Stefan: Tradition und Verfremdung, S. 148.
42 Vgl. Ebd., S. 144.
43 Vgl. Ebd.
44 Vgl. Riedlinger, Stefan: Tradition und Verfremdung, S. 145.
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