Fachbuch, 2021
58 Seiten
1. Einleitung
2. Vernachlässigung
2.1 Begriffsklärung, Definition und Abgrenzung
2.2 Vernachlässigungsformen und Folgen
2.3 Ursachen von Vernachlässigung
2.4 Wissenschaftliche Meinungen und praktische Problemstellungen
3 Fachkonzept Sozialraumorientierung
3.1 Begiffsklärung
3.2 Theoretische Grundkonzeptionen
3.3 Handlungsfelder
3.4 Spezifika der sozialräumlichen Arbeitsorganisation
4 Prävention von Vernachlässigung über den sozialen Raum
4.1 Ausgangslage und Anforderungen
4.2 Sozialraumorientierung als präventiver und integrativer Ansatz
5 Fazit
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Die Zahl der Kinder, die in Deutschland von Vernachlässigung betroffen sind, kann nicht beziffert werden (Kindler 2015, 11). Es gibt derzeit keine empirisch abgesicherten Erkenntnisse, insgesamt mangelt es diesbezüglich an wiederkehrenden Erhebungen (Fendrich/Pothmann 2010, 1009). Würden internationale Studien auf Deutschland übertragen, dann wäre davon auszugehen, dass die Anzahl „vernachlässigter Kinder auf hohem Niveau stagniert“ (Kindler 2015, 11). Bekannt ist die Zahl der Verfahren zur Kindeswohlgefährdung. Diese sind von 2014 bis 2015 um 4,2 Prozent angestiegen (Destatis 2016). Bei den akuten oder latenten Kindeswohlgefährdungen gab es in 63,7 Prozent der Fälle Anzeichen von Vernachlässigung (ebd.). Demnach sind circa 28 665 Kinder durch die Kinder- und Jugendhilfe erfasst worden.
Betroffen von Vernachlässigung sind Kinder aller Altersstufen, am häufigsten kommen Säuglinge und Kleinkinder im ersten Lebensjahr ums Leben (Hofacker 2012, 97). Vernachlässigungsfälle mit Todesfolge und insbesondere Fälle, die innerhalb von Hilfeprozessen geschehen, lösen mediale Diskurse aus und lassen die Mitarbeiter sozialpädagogischer Berufsfelder betroffen zurück (Fegert/Ziegenhain/Fangerau 2010, 10).
Zudem ist die Forschungslage zum Geschehen unzureichend. Es gibt das Schlagwort von der „Vernachlässigung der Vernachlässigung“ (Wolock/Horowitz 1984 zit. n. Galm/ Hess/Kindler 2010, 7). Alle bisherigen Erkenntnisse lassen darauf schließen, dass sich Vernachlässigung durch ein Zusammenspiel von persönlichen Faktoren und gesellschaftlichen Bedingungen entwickelt. Zu deren Vermeidung müssten Eltern möglichst früh erreicht werden.
In der vorliegenden Arbeit wird der Frage nachgegangen, wie Zugänge und Angebote gestaltet werden müssten, um der Vernachlässigung von Kindern präventiv zu begegnen. Dazu findet im ersten Teil der vorliegenden Arbeit eine Betrachtung der wissenschaftlichen Erkenntnisse statt. Im zweiten Teil wird das Konzept der Sozialraumorientierung vorgestellt. Anders als der Name es vermuten lässt, ist Sozialraumorientierung auch ein „hochgradig personenbezogener Ansatz“ (Hinte 2006, 11). Denn der Mensch und sein Wille stehen im Fokus der sozialarbeiterischen Tätigkeiten, allerdings werden die sozialen und ökologischen Verhältnisse dabei einbezogen und beeinflusst.
Im Dritten Teil werden die Erkenntnisse, die sich aus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Vernachlässigung und der Betrachtung des Fachkonzeptes ergeben haben, zusammengeführt. Hierbei soll dargestellt werden, welche konzeptionellen und methodischen Möglichkeiten Sozialraumorientierung bezüglich der Fragestellung bietet.
Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit ausschließlich die männliche Form benutzt. Es können dabei Personen jeglichen Geschlechts gemeint sein.
In diesem Kapitel erfolgt eine Betrachtung des wissenschaftlichen Standes bezüglich der Vernachlässigung von Kindern. Da der Begriff Vernachlässigung von Fachkräften verschiedener Berufsgruppen häufig mit einem unterschiedlichen Verständnis verwendet wird, soll hierbei mit dem Terminus, der Definition und den Möglichkeiten einer fachlichen Abgrenzung begonnen werden (Galm et al. 2010, 24). Anschließend werden die Formen und Folgen der Vernachlässigung dargestellt, um daraus Rückschlüsse auf Angebote und Zugänge zu ziehen. Um weitere Möglichkeiten eines präventives Vorgehen zu erkennen, werden die bisher bekannten Ursachen betrachtet. Als ursächlich gilt hierbei die Bindungsstörung. Zudem wird vermutet, dass eine angesprannte finanzielle Situation sowie ein belastendes Wohnumfeld, soziale Isolation und Überforderung aufgrund mangelnder Unterstützung als Faktoren am Geschehen beteiligt sind. Dabei wird die derzeitige gesellschaftliche Situation einbezogen und auf mögliche reziproke Wechselwirkungen innerhalb der Faktoren hingewiesen. Abschließend werden einige wissenschaftliche Meinungen und praktische Problemstellungen benannt, denn es scheint sinnvoll daraus ableitbare Lehren in präventive Überlegung einfließen zu lassen.
Bei Vernachlässigung sind die Übergänge von einer normalen Versorgung zur Unterversorgung fließend (Gitter 2012, 130). Was aber ist unter einer normalen Versorgung zu verstehen und wann kann die Versorgung eines Kindes als schlecht bezeichnet werden? Eine Festlegung des Normalen an kindlicher Versorgung als allgemein gültiger Standard ist bislang nicht realisiert. Bereits Maslow (1979, 364) hat sich mit dem Begriff des »Normalen« und dessen Pendant, dem »Unnormalen« beschäftigt und bemerkt, dass diese so viele verschiedene Bedeutungen haben können, dass sie nutzlos geworden sind. Maslow (ebd.) schreibt, dass diese Frage für viele Menschen, demnach auch für Professionelle, im Wesentlichen eine „Wertefrage“ ist.
Würde das Normale als das »durchschnittlich Gute« verstanden, dann kann angenommen werden, es wäre qua Definiton festlegbar. Daraus ergibt sich folglich die Frage, wer die Definitionshoheit diesbezüglich besitzt. Welche gesellschaftlichen Gruppen definieren dies? Sind es der Staat und seine Institutionen, die Wissenschaft und Forschung, ist es die Bevölkerung eines bestimmten Quartiers beziehungsweise Sozialraums oder die einzelne Familie? Jedes der genannten Systeme wird dem durchschnittlich Guten als Norm höchstwahrscheinlich ein anderes Verständnis zu Grunde legen und es anders definieren. Daraus ergibt sich, dass eine normale Versorgung als allgemeingültiger Standard schwer festzulegen ist. Ebenso ist dies mit der nicht mehr guten, somit nicht normalen Versorgung, der Vernachlässigung. Sie ist in diesem Sinn nicht allgemein festlegbar.
Es stellt sich also weiterhin die Frage nach der Möglichkeit einer Orientierung, vielleicht an »anderen Gesellschaften« oder an »anderen Zeiten«. Wären dies Referenzpunkte zur Konkretisierung einer nomalen und guten Versorgung? Nun sind andere Gesellschaften bezüglich ihres Lebenstandards und ihrer Gesellschaftssysteme von anderer Ausstattung, und die Zeit unterliegt dem Wandel und der Veränderung (Schone/Gitzel/ Jordan/Kalscheuer/Münder 1997, 25). Deshalb kann gesagt werden, „was ein Kind zum Aufwachsen braucht ist in höchstem Maße geschichts- und gesellschaftsabhängig“ (ebd.). Folglich ist Vernachlässigung zum einen als Norm nicht festlegbar, zum anderen kann sie nicht anhand von Referenzpunkten wie »andere Gesellschaften« oder »dem Früher« betrachtet werden.
Frank (2008, 84) bezeichnet Vernachlässigung als „schwammiges Konstrukt“. Er sieht in der Vernachlässigung einen „tatsächlichen oder vermeintlichen Mangel in der Versorgung eines Kindes“ (ebd.). Aber können Eltern immer und zu jeder Tages- und Nachtzeit hundertprozentig und vollumfänglich für ein Kind sorgen? Wann beginnt die Vernachlässigung? Schone et al. (1997, 21) haben den Begriff wie folgt definiert:
„Vernachlässigung ist die andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns sorgeverantwortlicher Personen (Eltern oder andere von ihnen autorisierte Betreuungspersonen), welches zur Sicherstellung der physischen und psychischen Versorgung des Kindes notwendig wäre. Diese Unterlassung kann aktiv oder passiv (unbewußt), aufgrund unzureichender Einsicht oder unzureichenden Wissens erfolgen. Die durch Vernachlässigung bewirkte chronische Unterversorgung des Kindes durch die nachhaltige Nichtberücksichtigung, Mißachtung oder Versagung seiner Lebensbedürfnisse hemmt, beeinträchtigt oder schädigt seine körperliche, geistige und seelische Entwicklung und kann zu gravierenden bleibenden Schäden oder gar zum Tode des Kindes führen.“
Demnach muss das Geschehen dauerhaft sein, die Handlungen müssen sich wiederholen und Bereiche betreffen, die für das Kind derart wichtig sind, dass bei Nichtversorgung ein Mangel entsteht, der es schädigen kann. Enthalten ist zudem eine Differenzierung in die Handlungsmodi aktiv und passiv. Für Schone et al. (1997, 22) geschieht die aktive Vernachlässigung wissentlich, weil die sorgeberechtigten Personen den Bedarf des Kindes erkennen könnten und die Erfüllung von ihnen auch leistbar wäre. Die passive Vernachlässigung ist für Schone et al. (ebd.) eine Folge unbewusster elterlicher Unterlassungen aufgrund mangelnden Wissens und Einsicht, aber auch die mögliche Folge elterlicher Fehlhandlungen. Sie können demnach über entsprechendes Wissen verfügen und überfordert sein oder bei der Versorgung Fehler machen. Zudem werden Versorgungshandlungen von diesen Eltern mitunter auch schlicht vergessen. Schone et al. (ebd.) schreiben, dass trotz einer Unterscheidung der Handlungsmodi „scharfe Grenzziehungen“ zwischen aktiver und passiver Vernachlässigung nicht möglich sind. Nach Galm et al. (2010, 24) sollte der Begriff Vernachlässigung zudem nicht für familiäre Situationen verwendet werden, in denen Kinder nicht gefährdet sind. Sie müssten von Fachkräften als „distanzierte, unzureichende oder unengagierte Fürsorge“ (ebd.; Hervorh. im Orig. fett) bezeichnet werden.
Bei Vernachlässigungsprozessen werden die Bedürfnisse des Kindes teilweise oder vollumfänglich nicht erfüllt. Maslow (1979, 74ff.) beschreibt die Bedürfnisse des Menschen in der Theorie der menschlichen Motivation. Eine Befriedigung derer sei notwendig, damit sich der Mensch psychisch und physisch gut entwickeln kann. Er beschreibt grundlegende Bedürfnisse des Menschen und zählt Nahrung, Sicherheit, Zugehörigkeit und Liebe, Achtung und Wertschätzung sowie Selbstverwirklichung zu den existenziellen Bedürfnissen des Menschen. Die Bedürfnisse von Kindern können anhand der Maslowschen Bedürfnispyramide Hierarchiestufen zugeordnet werden (Hofacker 2012, 97). Fegert (1997, 69) beschreibt kindliche Bedürfnisse genauer, er bezeichnet diese als
Basic Needs. Dazu gehören Versorgung, Zuwendung und Liebe, körperliche Unversehrtheit, Körperpflege, Gesundheitsfürsorge, ein geregelter Tagesablauf, Aufsicht, stabile Bindungen, relative Freiheit von Angst, Respekt, altersentsprechende Intimität, Schutz vor sexueller Ausbeutung, Anregung und Vermittlung von Erfahrungen.
Die Nichterfüllung dieser kindlichen Bedürfnisse kann verschiedenen Bereichen zugeordnet werden (Hofacker 2012, 97). Diese sind der körperliche, der erzieherisch-kognitive, der emotionale und der Schutzbereich (Galm et al. 2010, 25). Sie bezeichnen zugleich die Formen von Vernachlässigung. Im Einzelfall besteht die Möglichkeit, dass ein spezieller Versorgungsbereich betroffen ist. Allerdings gilt es als nachgewiesen, dass häufig mehrere Vernachlässigungsformen gleichzeitig und in unterschiedlich starker Ausprägung in der jeweiligen Form vorhanden sind (Gitter 2012, 130; Galm et al. 2010, 26). Die Vernachlässigungshandlungen stellen sich in den einzelnen Bereichen wie folgt dar:
Bei körperlicher Vernachlässigung bleibt die Grundversorgung des Kindes aus. Es wird nicht ausreichend mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt. Zudem werden die nötigen Pflegehandlungen von den Eltern nicht durchgeführt (Gitter 2012, 129). Ferner wird die kindliche Gesundheit vernachlässigt (Hofacker 2012, 97).
Die erzieherisch-kognitive Vernachlässigung umfasst den Versorgungsbereich, der das Kind und seine Entwicklung fördern soll. Förderung bedeutet, dass sich die Bezugspersonen mit dem Kind in altersgemäßer Form beschäftigen und kindgerechte Aktivitäten unternehmen. In diesen Bereich fällt zudem der unregelmäßige Besuch der Schule, der von den Eltern toleriert wird. Auch die Missachtung von Förderbedarfen der Kinder in schulischen Belangen wird diesem zugeordnet. Zudem erfahren Kinder keine elterliche Hilfe zum Beispiel in Form von Hausaufgabenunterstützung oder Lesetraining (Galm et al. 2010, 25).
Bei emotionaler Vernachlässigung fehlt es in der Eltern-Kind-Beziehung an Wärme, und die Eltern reagieren nicht auf emotionale Signale oder Bedürfnisse des Kindes. Weiterhin findet zwischen den Eltern und dem Kind kein effektiver kommunikativer Austausch statt (Schorn 2011, 11; Gitter 2012, 129).
Unzureichende Aufsicht tangiert den Schutzbedarf der Kinder. Sie werden zum Beispiel über unangemessen lange Zeiträume allein gelassen oder die Eltern reagieren nicht, wenn das Kind außergewöhnlich lange von zu Hause abwesend ist. Zudem bringt mangelnde altersgemäße Aufsicht Kinder in Gefahrensituationen, beispielsweise wenn Säuglinge und Kleinkinder unbeaufsichtigt in der Badewanne oder auf dem Wickeltisch zurückgelassen werden (Galm et al. 2010, 25; Schorn 2011, 11).
Es ist belegt, dass es Zusammenhänge zwischen negativen kindlichen Erfahrungen und Krankheitssymptomen, die in späteren Lebensphasen auftraten, gibt (Schorn 2011, 14). Somit können Vernachlässigungserfahrungen Menschen ihr gesamtes Leben begleiten (ISA/BIS/DKSB 2012, 12). Als Folge von Vernachlässigung gelten psychische Beeinträchtigungen, Einschränkungen in der Lebensbewältigung und Deprivation. Zudem können Vernachlässigungserfahrungen das Selbstbild prägen. Auch die Selbstwirksamkeit und das Selbstvertrauen können sich unter entsprechenden Eindrücken nicht oder nicht ausreichend gut entwickeln (Schorn 2011, 17). Kinder, deren Bedürfnis nach Zuwendung und Liebe nicht befriedigt wird, leiden neben emotionalen Störungen auch unter Wachstumsverzögerungen (ebd. 13). In Familien, in denen Eltern mit psychischen Erkrankungen und Suchtproblemen belastet sind, besteht die Gefahr der Parentifizierung. Denn in diesen Familien löst sich das Generationenverhältnis auf. Dies führt zu einer Rollenveränderung im familiären System und die Kinder übernehmen die Fürsorge für die Eltern (Wagenblass 2012, 212). Bei paranoiden psychischen Erkrankungen von Mutter oder Vater - in Form einer Schizophrenie oder einer affektiven Psychose - ist auch ein Einbezug der Kinder in das Krankheitsgeschehen denkbar. Erkrankte Eltern nehmen zum Beispiel an, dass sich das Kind von Licht ernähren wird. Deshalb versorgen sie es nicht mit Flüssigkeit und Nahrung (Galm et al. 2010, 74).
Eine Gefahr für Kinder kann insbesondere immer dann entstehen, wenn diese aktiv ihre Bedürfnisse einfordern. Sie reagieren auf die Vernachlässigung, zum Beispiel mit Weinen, Schaukeln und Kopfschlagen. Diese kindlichen Reaktionen „lösen nicht selten sogar problemverschärfende Gegenreaktionen“ (ISA et al. 2012, 12) aus und können damit zu einem Ausgangspunkt für körperliche und psychische Gewalt werden. Des Weiteren sind „Dosiseffekte“ (Galm et al. 2010, 42; Hervorh. im Org. fett) bekannt. Dies bedeutet, dass Kinder, die längerer und/oder schwererer Vernachlässigung ausgesetzt sind, auch in ihrer Entwicklung schwerer geschädigt werden.
Wissenschaftlich ist es bislang nicht möglich, die Gründe für Vernachlässigung mit Gewissheit zu benennen (Galm et al. 2010, 63). Nach Schone et al. (1997, 21) liegt der Vernachlässigung eine „basale Beziehungsstörung“ zwischen Eltern bzw. autorisierten Betreuungspersonen und ihren Kindern zu Grunde. Zudem wurden im Umfeld betroffener Familien Faktoren erkannt, die Vernachlässigungsprozesse begünstigen (Schorn 2011, 19; Schone 2008, 54). Diese sind eine angespannte ökonomische Situation und arme, durch eine hohe Gewaltrate gekennzeichnete Wohngegenden, zudem eine soziale Isolation der Kindseltern, verbunden mit mangelnder Unterstützung durch soziale Netze und eine fehlende Integration der Eltern in ihre Verwandtschaft oder in die Nachbarschaft (Wolff 2008, 46; Schone et al. 1997, 32; Schorn 2011, 19).
Bei Vernachlässigung gibt es „mehrere Schichten einflussnehmender Faktoren“ (Galm et al. 2010, 65; Hervorh. im Org. fett), deren Wirkung kumulativ ist (Wolff 2008, 46). Betroffene Eltern kommen gewissermaßen in einen „Kreislauf des Versagens“ (Jugendamt Oldenburg 2008, 13). In den Familien kommt es zu einer Anhäufung von Problemen, wobei Eltern unzureichende psychologische, materielle und soziale Ressourcen besitzen, um sie zu lösen (Galm et al. 2010, 112). Engfer (1986, 11) schreibt, dass Kindesvernachlässigung als „Konsequenz elterlicher Resignation und Apathie...mit den Bedingungen extremer Armut und sozialer Randständigkeit assoziiert erscheinen“.
Diese elterliche Resignation und Apathie wird als Apathie-Nutzlosigkeits-Syndrom bezeichnet (Polansky et al. 1981 zit. n. Schone et al. 1997, 19). Das Syndrom entsteht durch eine hohe Problemkonzentration und kann „... zu einer fatalistischen Haltung führen: Handlungs- und Einflussmöglichkeiten werden auch da nicht mehr wahrgenommen, wo sie noch vorhanden sind“ (ISA et al. 2012, 30). Letztlich herrscht in den Familien Energielosigkeit, Antriebsarmut, Lethargie und Resignation (Jugendamt Oldenburg 2008, 13). Eine Erklärung für diese Prozesse, die den Zustand der Eltern bedingen, könnte in der motivationalen Ressourcentheorie zu finden sein (Hobfoll 1989 zit. n. Nestmann 2008, 73). Deren zentrale These lautet, dass immer, wenn den Menschen Ressourcen fehlen, oder wenn Menschen einen Verlust befürchten oder ihnen Ressourcen verloren gehen, dann werden diese Menschen anfällig für psychische und physische Probleme und Störungen. Ressourcenverlust, der befürchtet oder empfunden wird, führt bei den Menschen zu Stress und Existenzangst. Zudem beruht diese Theorie auf einer Reihe weiterer Thesen. So sollen Menschen, die größere Ressourcen haben, weniger anfällig für Ressourcenverluste sein, ressourcenarme Menschen umso mehr (ebd. 75). Es gibt zudem die Vermutung von Verlustspiralen. So haben Verluste bei Menschen mit geringen Ressourcen schnellere und auch extremere Auswirkungen, weil diese Menschen über weniger „Optionen, Reserven und Kompensationsmöglichkeiten“ (ebd.) verfügen.
Als wichtigster Schutzfaktor vor Vernachlässigung gilt die Bindung (Rauh 2012, 41). Diese ermöglicht es den Eltern die Bedürfnisse des Kindes zu erkennen und zu befriedigen. Eltern haben durch sie eine natürliche Neigung ihr Kind zu versorgen und zu beschützen. Die Bindungsbeziehung ist nicht nur in sehr frühen Lebensjahren wichtig. Es wird davon ausgegangen, dass sie für den gesamten Lebenszyklus bedeutsam ist und sie während des Aufwachsens mehrere „Transformationen“ (ebd.) erlebt. Eine Bindungsstörung hat zur Folge, dass Bemühungen und frühe Bedürfnisse der Kinder nach Schutz, Trost und Sicherheit bei vermeintlicher Bedrohung oder in angstauslösenden Situationen in einem „extremen Ausmaß nicht adäquat, unzureichend oder widersprüchlich“ (Brisch 2009, 60) beantwortet werden. Dies gilt als häufigste Ursache für die Unterversorgung von Säuglingen und kleinen Kindern (Gitter 2012, 115). Bei Müttern wurden als Ursache für Bindungsstörungen Depressivität und Psychosen festgestellt (Brisch 2009, 162 ff.). Außerdem gibt es „Sozialfaktoren wie Armut, Arbeitslosigkeit und beengte Wohnverhältnisse“ (ebd. 98), welche die Bindungsentwicklung erschweren.
Insbesondere die Depression ist in unserer Gesellschaft zudem weit verbreitet. Sie gilt als multifaktorielles Geschehen (Wittchen/Jacobi/Klose/Ryl 2010, 14). Es sind unter anderem genetische Dispositionen möglich, die für ein vermehrtes Auftreten innerhalb von Familien sorgen, aber auch soziale Faktoren wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit sind als Auslöser bekannt. Frauen sind sowohl von Depressionen als auch von deren rezidivierenden Formen anteilig stärker betroffen als Männer (ebd. 19). In der Studie »Soziale Lebenssituation und Gesundheit von Müttern in Deutschland« gab jede fünfte Mutter erhöhte Angst- sowie Depressivitätswerte an (Sperlich/Arnold-Kerri/Geyer 2011, 739). Die Mütter empfanden den ständigen Familieneinsatz als psychosozialen Stressor, wobei sich jede dritte Mutter stark oder sehr stark belastet fühlt (ebd. 738). Menschen mit Depressionen sind in der akuten Phase in ihrer subjektiven Gesundheit und ihrer Leistungsfähigkeit „massiv bis hin zur Arbeitsunfähigkeit eingeschränkt“ (Wittchen et al. 2010, 12). Für alle Formen der psychischen Erkrankungen - sowohl für die Depression als auch für Psychosen - gilt, dass sie zu den stigmatisierendsten Erkrankungen zählen. Sie werden in unserer Gesellschaft immer noch tabuisiert (Wagenblass 2012, 214).
Auch Suchterkrankungen der Eltern gelten als „eines der zentralsten Risiken für die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen“ (Klein/ Thomasius/Moesgen 2017, 4). Wie viele Kinder bei Eltern mit Suchterkrankungen leben, lässt sich nicht sicher sagen. Die für Deutschland gemachten Studien basieren auf Schätzungen und Hochrechnungen (ebd. 4). Suchtbedingte Verhaltensweisen der Eltern beeinträchtigen die Bindung und die psychische und soziale Entwicklung von Kindern (BAJ 2017, 2). Zu ihnen zählen auch „Lügen, gebrochene Versprechen, Manipulation, Schuldzuweisungen, unberechenbares Verhalten...Kinder lernen, dass nichts in ihrem Leben sicher ist“ (ebd.). Bei Suchterkrankungen gibt es starke innerpsychische Kräfte, welche die elterlichen Ressourcen und deren Energie binden, sowie Zeiten, in denen diese intoxikiert sind und von ihren Kindern nicht angesprochen werden können (Galm et al. 2010, 73). Diese Kinder werden als „vergessene Kinder“ (BAJ 2017, 1) bezeichnet, da die Aufmerksamkeit des Süchtigen vollständig auf das Suchtmittel gerichtet ist. Die Sorge des nicht-süchtigen Elternteils gilt dem abhängigen Partner und nicht den Kindern. Besonders häufig wurden Suchterkrankungen im Zusammenhang mit körperlicher und emotionaler Vernachlässigung beobachtet (Deneke 2005, 144).
Erkrankte Eltern benötigen eine ärztliche Versorgung. Derzeit gibt es in Deutschland einen Ärztemangel (KBV 2018, 1). Besonders betroffen sind die Gruppen der Hausärzte und die fachärztlichen Grundversorger (ebd.). Wartezeiten bei Fachärzten von bis zu vier Wochen gelten als normal (BMG 2017, 1). Des Weiteren beklagt der Hebammenverband, dass sie derzeit eine flächendeckende Versorgung der Frauen aufgrund eines personellen Mangels nicht gewährleisten könnten (DHV 2017). Schwangere Frauen und Mütter, die entbunden haben, finden vor Ort kaum noch Hebammen, welche die Geburtsvorbereitung und die Betreuung im Wochenbett sicherstellen können (ebd.). Hebammen könnten gesundheitliche Probleme von Frauen vor und nach der Entbindung erkennen (ebd. 2). Dies erscheint im Hinblick auf die von Brisch (2009, 133 ff.) beschriebenen Bindungsstörungen wichtig. Ferner spitzt sich die kinderärztliche Versorgung zu. Der Verband der Kinder- und Jugenärzte stellt hierzu fest, dass bereits jetzt viele Familien keinen Arzt mehr für ihr Kind finden (Ärzteblatt 2017, 1).
Nachfolgend sollen ökonomische und soziale Faktoren betrachtet werden, die bei Vernachlässigung beobachtet wurden. Eine angespannte finanzielle Situation kann durch geringe finanzielle Ressourcen, Einkommensarmut und Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung sowie Arbeitslosigkeit entstehen (Schorn 2011, 19). Die wissenschaftliche Meinung, ob Armut und Vernachlässigung in einem direkten Zusammenhang stehen, ist geteilt (Galm et al. 2010, 14). Nach Galm et al. (ebd. 15) ist Vernachlässigung aufgrund von Armut möglich, wenn weitere Faktoren hinzutreten oder sich entwickeln, und dadurch eine Situation entsteht, die die Fürsorgetätigkeit der Eltern einschränkt. Sie bezeichnen diese als „Prozesse...wie depressive Verstimmungen und Hoffnungslosigkeit der Eltern“ (ebd.).
In den letzten Jahren gab es politische Reformen, die zu einer Veränderung der Einkommensstruktur geführt haben (Oschmiansky 2014, 1). Etwa jeder vierte Arbeitnehmer in Deutschland arbeitet im Niedriglohnsektor und gilt trotz einer Beschäftigung als arm (ebd.). Zudem wurde das Sozialgesetzbuch II transformiert und im Rahmen eines aktivierenden Arbeitsmarktprogrammes eine neue Sozialleistung geschaffen (Kievel/Erdbauer 2014, 2). Diese gilt als das sozioökonomische Existenzminimum und wird als Arbeitslosengeld II, nachfolgend ALG II, bezeichnet. Es ist umstritten, ob Leistungen in Form des ALG II eine neue Armut darstellen oder ob sie den Bedarf ausreichend sichern und somit oberhalb der Armutsschwelle liegen (Butterwegge 2012, 22). Im Gegensatz zum vorherigen Sozialhilfesystem ist der Erhalt von Leistungen, die zudem eine Krankenversicherung beinhalten, an die Erfüllung von Pflichten geknüpft (Erdbauer/Kievel 2014, 144). Pflichtverletzungen nach den §§ 31 und 32 SGB II wie fehlende Mitwirkung und Meldeversäumnisse haben Rechtsfolgen (ebd. 145).
Rechtsfolgen sind sukzessive Kürzungen des Geldes in Form von Sanktionen (ebd. 143). Bei einer vollständigen Sanktionierung werden neben dem Regelbedarf, der zum Beispiel den Stromabschlag, die Bedarfe für Lebensmittel und eine Pauschale für Medikamente enthält, zudem die Kosten für Unterkunft und Heizung sowie die Beiträge zur Sozialversicherung nicht mehr übernommen. Um wieder krankenversichert zu werden, fordern viele Krankenkassen zuvor die vollständige Rückzahlung der versäumten Beiträge (Trabert 2013, 12). Im Leistungsbezug des ALG II sind auch sucht- und psychischkranke Menschen. Sie gelten trotz ihrer Erkrankungen als erwerbsfähig (Edbauer/Kievel 2014, 42). Zudem benötigen viele alleinerziehende Eltern das ALG II. In 2011 bezogen circa 40 Prozent der alleinerziehenden Haushalte diese Leistung (IAB 2011, 11). Sie gelten als „arm bzw. armutsgefährdet“ (Lenze/Funcke 2016, 6).
Eine Korrelation von Armut und Gesundheit gilt als nachgewiesen. Die Studie »Zusammenhang von Armut, Schulden und Gesundheit« hat dies untersucht. Dabei wurde zudem erkannt, dass „65% der Befragten...aus Geldmangel die vom Arzt verschriebenen Medikamente nicht gekauft“ (Trabert 2013, 11) haben.
Nach Galm et al. (2010, 16) würde die Rückkehr in ein Erwerbsverhältnis grundsätzlich vor Armut schützen und Kinder könnten davon profitieren. In den USA haben aktivierende Arbeitsmarktprogramme bei besonders belasteten Eltern zwar zu einem geringen, aber messbaren Anstieg der „Gefährdungsmeldungen und Fremdunterbringungen“ (ebd.) geführt. Ob dies auf Deutschland übertragbar ist, kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden. Es sei jedoch „bemerkenswert“ (ebd.), dass Kinderschutzaspekte in Deutschland bei der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik kaum beachtet werden.
Auch der Wohnraum und dessen Umfeld gilt als Kontextfaktor. Nach Schone et al. (1997, 29) sind Zusammenhänge zwischen den sozialen Bedingungen und Vernachlässigung bekannt. Eine Studie von Trube-Becker hat hierzu Erkenntnisse gewonnen (Trube-Becker 1982 zit. n. Schone et al. 1997, 30). Darin wurden Fälle von Vernachlässigung mit Todesfolge untersucht. Es wurde festgestellt, dass viele Familien in „verschmutzter, beengter Umgebung“ (ebd.) lebten. Schorn (2011, 19) schreibt, dass „arme, deprivierte“ Wohngegenden als relevanter Faktor für Vernachlässigung zu bezeichnen sind.
Derzeit wird eine zunehmende Segregation sozialer Schichten und eine soziale Diskriminierung „bestimmter Nachfrager“ (Brülle 2015, 2) beobachtet. Hierzu zählen kinderreiche Familien, alleinerziehende Eltern und transferleistungsberechtigte Menschen. Zudem führt eine zunehmende Polarisierung der Einkommensverteilung zu Gentrifizierungsprozessen, die Wohnraum verteuern und eine Aufspaltung in arme und reiche Stadtteile begünstigen (Butterwegge 2012, 77). Nach Geene (2013, 189) können schlechte Wohnverhältnisse und ein belastendes Wohnumfeld wiederum eine gesundheitliche Belastung darstellen.
Bei Vernachlässigungsprozessen wurde auch eine Überforderung und fehlende Unterstützung sowie eine soziale Isolation bei betroffenen Eltern beobachtet (Schorn 2011, 19). Diese Faktoren kommen besonders dann zum Tragen, wenn diese erhöhten Erziehungs- und Betreuungsanforderungen ausgesetzt sind und über keinerlei Hilfe verfügen. Besonders problematisch ist dies bei alleinerziehenden Eltern oder, wenn mehrere Kinder im Haushalt versorgt werden müssen (ISA et al. 2012, 28). Nach Böhnke (2007, 235) sind ausreichende soziale Beziehungen und Integration für das Individuum von besonderer Bedeutung. Soziale Beziehungen ermöglichen Hilfe, bieten emotionalen Halt, sind eine „Quelle diverser Gefälligkeiten“ (ebd.) und Informationen und bieten bestenfalls auch alltagspraktische Unterstützung. Soziale Isolation hingegen führt zu Angst, Depression, einer Abnahme des allgemeinen Wohlbefindens und reduziert den Gesundheitszustand. Des Weiteren kann auch Armut zu sozialer Isolation führen, denn die Betroffenen und ihre Familien ziehen sich zurück (Geene 2013, 19). Dies hat zur Folge, dass die Größe ihrer unterstützenden Netzwerke und ihre Einbindung in das Gemeinwesen abnimmt.
Bisher fehlt ein Nachweis, dass Präventionsprogramme zu einer „deutlichen“ (Galm et al. 2010, 131) Reduzierung schwerwiegender Vernachlässigung geführt haben. Die Evaluationen haben ergeben, dass Eltern dadurch „im Mittel ihre Kompetenzen in verschiedenen Bereichen zumindest moderat steigern“ (ebd.) konnten. Belastete Eltern gelten als schwer erreichbar, universelle Programme seien zu wenig an ihrer „speziellen Lebenswirklichkeit“ (ebd. 127) und „ihren spezifischen Bedarfen“ (ebd.) orientiert. Auch die Ansprechbarkeit betroffener Eltern sei schwierig, weil diese kaum Kontakte in das Gemeinwesen hätten (Jugendamt Oldenburg 2008, 14). Nach Galm et al. (2010, 117) seien Familien „alltäglichen Nöten“ ausgesetzt, denen mit alltagspraktischer Unterstützung „relativ einfach“ zu begegnen sei. Zudem ist erkannt worden, dass Bildungsangebote für Eltern niedrigschwellig konzipiert werden müssten, die derzeit vorhandenen seien zu mittelschichtsorientiert und würden deshalb nicht angenommen (Ifb 2010, 2; Galm et al. 2010, 136). Von Seiten des Unterstützungssystems müsste aktiv auf die Eltern zugegangen werden und es könne nicht davon ausgegangen werden, dass diese von alleine kommen (Galm et a. 2010, 141). Es sei des Weiteren nötig, „nicht-stigmatisierende Zugänge“ zu entwickeln (ebd. 133). Ferner wäre der Ausbau „zielgruppenunspezifischer Familienbildungs- und Beratungsangebote“ nötig (ebd.127). Zudem müssten Hilfen passgenau sein und in der Fläche verbreitet werden (ebd. 145).
Das Fachkonzept Sozialraumorientierung ist in der Praxis der Sozialen Arbeit seit vielen Jahren bekannt und teilweise umgesetzt (Früchtel/Cyprian/Budde 2007 b, 11). Dennoch gibt es in der Fachwelt keine Einigkeit darüber, was Sozialraumorientierung genau ist (Kessl/Reutlinger 2007, 37). Mitunter wird der Begriff als Etikett verwendet, damit Konzepte innovativ wirken. Zunächst soll deshalb geklärt werden, was in der Sozialen Arbeit unter dem Konzept der Sozialraumorientierung verstanden wird. Anschließend folgt eine Beschreibung der theoretischen Konzeptionen die dessen Grundlage bilden (Früchtel et al. 2007 b, 22 ff.). Diese sind das Konzept der Lebensweltorientierung, die Gemeinwesenarbeit, die Organisationsentwicklung, der Ansatz Empowerment und die Theorie des Sozialen Kapitals. Anschließend werden die verschiedenen Handlungsfelder sozialräumlicher Arbeit beschrieben (ebd. 25 ff). Sozialarbeiterisches Handeln findet demnach auf der Ebene der Sozialstruktur, der Organisation, des Netzwerkes und auf der Ebene des Individuums statt. Des Weiteren folgt eine Beschreibung der praktischen Arbeitsorganisation, denn Sozialraumorientierung ist ein Konzept, das hierbei Spezifika aufweist. Diese sind die methodische Offenheit, die besonderen Teamstrukturen und die Möglichkeit des fallunspezifischen und bereichsübergreifenden Arbeitens.
Sozialraumorientierung ist ein Fachkonzept, das die klassische Abgrenzung von Fallarbeit, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit aufgibt und diese vielmehr zu einem „mehrschichtigen Ansatz“ (Früchtel et al. 2007 b, 11) zusammenführt. Diese Kombination der Arbeitsformen bietet sich immer an, wenn der Problemhorizont der Klienten über die „engen institutionellen Beschränkungen hinausweist“ (Köngeter/Eßer/Thiersch 2004, 95). Den Problemhorizont stellen Lebensbedingungen wie Armut, soziale Isolation, Arbeitslosigkeit und fehlender Wohnraum dar. Die Basis des Konzeptes bildet die sozialarbeiterische Haltung, dass Menschen ihren „Alltag in Familie, Schule oder Beruf zufriedenstellend gestalten“ (Budde/Früchtel 2006, 29) wollen. Menschen haben Ziele, und was sie handeln lässt, ist die Motivation eben diese Ziele zu erreichen (ebd.). Sozialräumlich ausgerichtete Hilfestellungen zielen darauf ab, dass Menschen durch Unterstützung ihre Lebenswelten so gestalten können, dass sie auch in „prekären Lebenssituationen“ (Hinte 2006, 9) zurechtkommen. Den Kern des Konzeptes bildet der „konsequente Bezug auf die Interessen und den Willen der Menschen“ (ebd.). Sozialraumorientierung ist somit keine Theorie, die mit anderen Theorien konkurriert, sondern eine Perspektive. Sie ist der konzeptionelle Hintergrund des Arbeitens in verschiedenen sozialen Arbeitsfeldern. Das Fachkonzept nutzt und entwickelt verschiedene theoretische und methodische Blickrichtungen bzw. Konzeptionen.
Den theoretischen Hintergrund des Arbeitsansatzes Sozialraumorientierung bilden fünf Konzeptionen (Früchtel et al. 2007 b, 22 ff). Diese sind das Konzept der Lebensweltorientierung, der Gemeinwesenarbeit, der Organisationsentwicklung, des Sozialen Kapitals und des Empowerments. Sie werden nachfolgend im Einzelnem dargestellt.
Das Konzept der Lebensweltorientierung entstand in den 1960er-Jahren als neues Arbeitskonzept (Thiersch/Grunwald/Köngeter 2012, 179). Es richtete sich gegen von Obrigkeiten bestimmte, disziplinierende und expertokratische Arbeitsformen und versuchte neue und somit alternative Arbeitskonzepte zu entwerfen. In der Perspektive der Lebensweltorientierung wird der Mensch und sein Handeln in seinen sozialen Bezügen gesehen. Lebensweltorientierung ist somit die Abkehr von einem individualisierenden, defizitären Blick auf soziale Probleme. Ziel sozialarbeiterischer Arbeit ist ein gelingender Alltag von Menschen.
Hierbei knüpfen Strukturmaximen an lebensweltliche Erfahrungen, an kritische sozialethische Dimensionen und an soziale Gerechtigkeit an. Diese Maximen sind Prävention, Regionalisierung, Alltagsnähe, Integration, Partizipation und Gestaltung der Arbeit im Zeichen der Lebensverhältnisse (Grunwald/Thiersch 2008, 26). Der sozialarbeiterische Blick fokussiert das „Zusammenspiel“ (Thiersch et al. 2012, 175) eigentlicher Gegen-sätze. Diese sind Probleme und Möglichkeiten, Stärken und Schwächen im sozialen Feld und daraus entwickelt sich ein Handlungsrepertoire. Thiersch et al. (ebd.) beschreiben dies als Spektrum zwischen „Vertrauen, Niedrigschwelligkeit, Zugangsmöglichkeiten und gemeinsamen Konstruktionen von Hilfeentwürfen“. Es geht einerseits um das Akzeptieren der individuellen Lebensentwürfe und anderseits um das Einmischen in Verhältnisse (ebd.).
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