Bachelorarbeit, 2020
39 Seiten, Note: 2,0
1. Einleitung
1.1. Methodik
2. Die deutsche Rentenversicherung
2.1. Entwicklung
2.2. Einflussfaktoren
2.2.1. Demografie
2.2.2. Lebensverläufe
3. Sozialer Wandel in Deutschland
3.1. Bevölkerungsentwicklung und -struktur
3.1.1. Die gegenwärtige Bevölkerungsstruktur Deutschlands
3.1.2. Die zukünftige Bevölkerungsstruktur Deutschlands
3.2. Familien und Haushalte
3.2.1. Haushalte
3.2.2. Familien
3.3. Erwerbs- und Bildungsverläufe
3.3.1. Bildungsverläufe
3.3.2. Erwerbsverläufe
4. Die Folgen des sozialen Wandels für das Rentensystem
5. Handlungsempfehlungen in der Diskussion
5.1. Das schwedische Rentenmodell
5.2. Erhöhung des Renteneintrittsalters
5.3. Dem demografischen Wandel entgegenwirken
6. Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildung 1: Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung für Deutschland
Abbildung 2: Privathaushalte nach Haushaltsgröße
Abbildung 3: Verbreitung von Partnerschaften in- und außerhalb des Haushalts
Abbildung 4: Anteile der Erwerbstätigen in den Produktionssektoren seit 1950
Abbildung 5: Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung in Abhängigkeit vom Renteneintrittsalter und Rentenniveau
„Die Rente ist sicher" (Norbert Blüm, zitiert nach Deutscher Bundestag, 2012). Mit diesem bis heute populären Spruch versuchte der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die Rente als Fundament der Alterssicherung in Deutschland keinesfalls vor einem Bedeutungsverlust stehe. Schon in den 1980er stand die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) vor finanziellen Herausforderungen.
In den letzten Jahrzehnten ist das Thema des sozialen Wandels in Deutschland immer populärer geworden. Pauschal wird davon gesprochen, dass die deutsche Bevölkerung immer älter werde und die GRV zukünftig vor einem Kollaps stünde. Die ersten Kohorten der Babyboomer-Jahrgänge können bereits in Rente gehen, in den nächsten Jahren werden weitere Folgen. Damit verschiebt sich das Verhältnis zwischen arbeitenden Personen und Personen in der Nacherwerbsphase massiv zu Ungunsten der GRV. Aufgrund der niedrigen Geburtenrate in Deutschland kann diese Lücke in Zukunft nicht geschlossen werden (Statistisches Bundesamt, 2019, S. 29ff.). Dies führt zu einem Finanzierungsproblem innerhalb der sozialen Sicherungssysteme, denn zukünftig müssen immer weniger Arbeitnehmer für die Rentenzahlungen von immer mehr Rentnern1 aufkommen müssen.
In dieser Arbeit sollen die Folgen und der Einfluss von geänderten Lebensläufen und Demografie genauer untersucht werden. Nach einem kurzen Umriss der Methodik und Historie im zweiten Kapitel werden einzelne Bestandteile des sozialen Wandels im dritten Kapitel eingehend geprüft und Rückschlüsse auf mögliche Folgen für die GRV im vierten Kapitel gezogen. Aufgrund des enormen Umfangs die diese Thematik mit sich bringt, wird sich dabei auf Bevölkerungsstruktur, Bildungs- und Erwerbsleben, sowie Familien und Haushalte beschränkt. Von ökonomischen und politischen Aspekten wird in dieser Arbeit weitgehend abstrahiert, dafür spielt der Aspekt der zukünftigen Finanzierung eine übergeordnete Rolle. Anschließend werden Handlungsoptionen im fünften Kapitel diskutiert und auf ihre Realisierbarkeit geprüft. Abschließend findet eine Handlungsempfehlung im sechsten Kapitel statt, die aufzeigen soll, wie dem sozialen Wandel und die Folgen für die GRV entgegenzuwirken wäre.
Aus Sicht der Sozialwissenschaften gibt es in Bezug auf Lebensverläufe und Demografie in Deutschland eine Vielzahl an quantitativen Studien und wissenschaftlichen Beiträgen über viele Jahrzehnte hinweg, die es in Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit in den Kontext der GRV zu setzen gilt. Als Methode wird daher die Literaturanalyse in Anlehnung an das Modell von Philipp Mayring (2015) gewählt. Hierbei wird im Sinne der Sekundärforschung vorhandene Literatur genutzt, um sich kritisch mit dem Thema auseinanderzusetzen. Dabei soll bereits vorhandenes Wissen aufgezeigt und Forschungslücken gefunden werden. Dieser Schritt unterteilt sich in die Literaturrecherche und der Literaturanalyse. Der Vorteil die Fragestellung dieser Arbeit mithilfe der Literaturanalyse zu bearbeiten liegt darin, dass sich auf thematisch vorhandene Literatur konzentriert wird, die im Sinn der Forschungsfrage inhaltlich auszuwerten, zu analysieren und die Ergebnisse zu vergleichen sind. Es kann somit ein weitreichendes Bild der Problematik gezeichnet werden und dabei Gegensätze im wissenschaftlichen Diskurs aufgezeigt werden. Dies passiert dadurch, dass neben der Basisliteratur eine Vielzahl von Beiträgen im wissenschaftlichen Diskurs berücksichtigt werden.
Im Vordergrund steht die Frage nach dem Wandel in Demografie und Lebensverläufen und deren Einfluss auf das Rentensystem in Deutschland. Die Literaturrecherche für diese Arbeit orientiert sich hauptsächlich an der Aktualität der Literatur, da Daten sich im Zeitverlauf wandeln können und Erkenntnisse aus den letzten Jahrzehnten durch unvorhergesehene Ereignisse aus Aussagekraft verloren haben. Um sich dem Thema umfassend zu nähern, wird darüber hinaus Basisliteratur zu den Themen Demografie und Lebenslaufforschung genutzt. Im Folgenden sind fünf Veröffentlichungen Grundlage dieser Arbeit, die vor allem im dritten Kapitel Anwendung finden.
Als Grundlage für die empirische Herleitung eines Wandels dient der Forschungsbericht Lebensverläufe und Altersvorsorge der Personen der Geburtsjahrgänge 1957 bis 1976 und ihrer Partner von Dr. Thorsten Heien und Marvin Krämer (2018), der im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung entstanden ist. Die Relevanz ergibt aus den Ergebnissen der hohen Anzahl an befragten Personen, die ein umfassendes Bild über das Erwerbs- und Vorsorgeverhalten in Deutschland abgeben (Heien & Krämer, 2018, S. 7). Es ist zudem der aktuellste Bericht der Deutschen Rentenversicherung zu diesem Thema.
Einen weiteren Einblick in das Demografiegeschehen in Deutschland gibt der zuletzt veröffentlichte Bericht des Statistischen Bundesamtes Bevölkerung im Wandel aus dem Jahr 2019. In diesem Text werden für diese Arbeit notwendige Bereiche erfasst und ausgewertet dargestellt. So umfasst die auf dem Bevölkerungsstand von 2018 beruhende Berechnung einen Ausblick bis 2060. „Diese [Berechnungen] erlauben die aus heutiger Sicht absehbaren künftigen Entwicklungen aufzuzeigen und Aussagen über den Einfluss der demografischen Komponenten Geburtenhäufigkeit, Sterblichkeit und Wanderungen auf die
Bevölkerungsentwicklung zu treffen (Statistisches Bundesamt, 2019a, S.5). In ihren Annahmen entwickelte das statistische Bundesamt für seine Prognosen drei Varianten, auf die in dritten Kapiteln näher eingegangen wird.
Mit der Veröffentlichung Entwicklung der Privathaushalte bis 2040 durch das Statistische Bundesamt (2020c) können zukünftige Trends und bisherige Ereignisse gut dargestellt werden. Die Daten bieten eine ausreichende Grundlage um Aussagen über zukünftige Wandlungen in den Kontext der weiteren wissenschaftlichen Untersuchungen zu setzen.
Das Buch Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland (2012), herausgegeben vom Forschungsverbund sozioökonomische Berichterstattung, bietet ebenfalls einen guten Überblick über das zu behandelnde Thema und dient als Kernrefernz. Es handelt sich hierbei um sehr umfassende Literatur mit über 700 Seiten. Es wird sich daher hauptsächlich auf die Kapitel im Buch bezogen, in der es um den Umbruch in Lebensverläufen geht.
Das Buch Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland (2012) des Soziologen Bernhard Schäfers ist die vierte Basisliteratur in dieser Arbeit und gibt ebenfalls einen umfassenden Einblick in die Thematik des sozialen Wandels. Auch hier ist es das Ziel im Sinne der Forschungsfrage den Inhalt auf den Wandel und damit verbundene Problematiken für das deutsche Rentensystem herauszuarbeiten.
Bei Jahreszahlnennungen vor den Jahren 1990 sind für die genannten Ereignisse immer die Gebiete der alten Bundesländer Grundlage, solange es keine anderweitige Nennung gibt.
Das Rentensystem in Deutschland basiert auf der gesetzlichen Rentenversicherung als Grundlage des drei Säulen-Systems. Darauf aufbauend folgt als zweite Säule die betriebliche Altersvorsorge, sowie als dritte Säule die private Altersvorsorge. Letztere nehmen an Bedeutung in der Altersvorsorge in Deutschland stetig zu, während die staatliche Rentenleistung immer weiter an Stellenwert zu verlieren droht. Im Folgenden geht es daher hauptsächlich um die deutsche Rentenversicherung und die Gründe eines Bedeutungsverlustes und potentielle Lösungen dafür zu erläutern. Das Betrachten der zwei weiteren Säulen schafft eine Komplexität des Themas, insbesondere bei Hinzunahme der Einflussfaktoren demografischer Wandel und Lebensläufe, die das Ausmaß dieser Arbeit überschreitet. So wird die nichtstaatliche Altersvorsorge nur als Teilaspekt in diese Arbeit einfließen.
Die Aufgabe der deutschen Rentenversicherung ist es, die Aufrechterhaltung des Lebensstandards auch nach einem altersbedingten Ende der Erwerbstätigkeit zu gewährleisten (Blania, 1991, S. 75). Insofern kann die Rentenzahlung als Lohnersatzzahlung in der Nacherwerbsphase einer Lebensbiografie gesehen werden. Zusätzlich deckt die deutsche Rentenversicherung weitere Lebensrisiken wie zum Beispiel Invalidität ab.
Zum 31.12.2016 lag die Anzahl der Versicherten ohne Rentenbezug bei 54.445.352 Personen in Deutschland (Deutsche Rentenversicherung, 2018 S. 4). Versicherte sind „alle Personen, die in ihrem Leben rentenrechtliche Zeiten zurückgelegt haben sowie Personen, die aufgrund eines Versorgungsausgleichs Entgeltpunkte erhalten haben" (Deutsche Rentenversicherung, 2018 S. 11). Dabei wird zwischen aktiven und passiven Mitgliedern unterschieden. Aktive Versicherte haben zum Stichtag der Zählung durch die deutsche Rentenversicherung in ihrem Versicherungskonto einen rentenrechtlichen Anspruch, wie zum Beispiel die Zahlung des Rentenversicherungsbeitrages, gespeichert. Hier beträgt die Anzahl 37.599.266 Personen. Demgegenüber stehen passive Versicherte, also Mitglieder die zum Stichtag in ihrem Versicherungskonto keine rentenrechtliche Zeit vorweisen können. Ihre Anzahl liegt bei 16.846.086 Personen (Deutsche Rentenversicherung. 2018 S. 4). Zu den passiven Versicherten zählen Personen, die keine Beiträge zur GRV entrichten oder sozialversicherungspflichtig in Deutschland gearbeitet haben, mittlerweile aber im Ausland leben und dort Altersvorsorge betreiben (Deutsche Rentenversicherung, 2018 S. 20).
Vor der Industrialisierung im 18. Jahrhundert in Deutschland gab es weltweit kein Alterssicherungssystem, welches über das Konzept der Absicherung innerhalb der Familie hinausging. Das altersbedingte Einkommensrisiko wurde über intrafamiliäre Transfers von Kindern zu den Eltern abgesichert. Erst im Zuge der industriellen Revolution und die damit einhergehende Veränderung von Mobilität und Erwerb kam es gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu ersten Überlegungen hinsichtlich staatlicher Sicherungssysteme für die Bevölkerung. Reichskanzler Bismarck erkannte das erhebliche Potential politischer Sprengkraft durch die veränderte Situation und wollte dem, auch aus machtpolitischen Gründen, entgegentreten.
„... Aber auch diejenigen, welche durch Alter oder Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß an Fürsorge, als ihnen bisher hat zuteilwerden können. Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens steht." (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. V. Legislaturperiode. I. Session 1881/82, Berlin 1882, S. 2)
Diese Worte von Kaiser Wilhelm im Jahr 1881, verfasst und verkündet auf Anraten von Reichskanzler Bismarck, werden als der Beginn der Sozialversicherung in Deutschland gesehen. Aus ihnen geht, wenn auch verhältnismäßig rudimentär, das erste Alterssicherungssystem für Deutschland hervor. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von unter 50 Jahren bei Männern im Jahr 1900 (Statistisches Bundesamt, 2020), konnten im Regelfall erst Industriearbeiter ab dem 70. Lebensjahr eine Rente beziehen. Die ländliche Bevölkerung, die sich innerhalb der Familie selbst versorgen konnte, wurde gänzlich vom Anspruch auf Alterssicherung ausgenommen (Heidler, 2018, S. 5ff.). Somit war der Beginn des Rentensystems in Deutschland eher ein theoretisches Konstrukt und fand in der Praxis kaum Anwendung.
Am 20. Dezember 1911 wurde im Berliner Reichstag die Reichsversicherungsordnung beschlossen, die ein Jahr später in Kraft trat. In ihr wurden erstmals die Alters-, Kranken- und Unfallversicherung zusammengefasst. Durch die Verordnung war es erstmals möglich Rentenleistungen für Hinterbliebene zu bekommen. So waren Ehepartner zum ersten Mal staatlich abgesichert, sollten sie nach dem Tod des Partners nicht in der Lage sein sich finanziell eigenständig zu versorgen. Die Reichsversicherungsordnung war bis 1992 ein Hauptbestandteil des deutschen Sozialrechts.
Ausgehend von der Monarchie hatte die darauffolgende Weimarer Republik nach dem Ende des ersten Weltkriegs erhebliche administrative, politische und rechtliche Ressourcen geerbt, die den Ausbau des Sozialstaats deutlich begünstigten. Hinzu kam der gewonnene Einfluss durch Gewerkschaften und links ausgerichteten Parteien (Schmidt, 2005, S. 45). Der Bedarf an einem Ausbau des Sozialstaats war durch die gegebenen Umstände der ersten Nachkriegsjahre hoch, bedingt durch eine Demobilisierung der Bevölkerung und des Abbaus der Kriegswirtschaft. Es folgte ein Ausbau der sozialen Sicherung in den wirtschaftlichen Blütejahren der Weimarer Republik. So stieg der Anteil der Versicherten in der Altersversicherung von 57 Prozent im Jahr 1919 auf 69 Prozent im Jahr 1929 (Schmidt, 2005, S. 47). Konterkariert wurde der Wunsch nach einer weiteren Zunahme der staatlichen Sicherungssysteme durch kriegsbedingte Lasten, sowie die Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 und eine stetig ansteigende Inflation. Dadurch wurden in den Folgejahren Versicherungsleistungen teils drastisch gekürzt und verändert.
Unter dem Einfluss der nationalsozialistischen Herrschaft unter Adolf Hitler spricht Christoph Butterwegge (2018, S. 59) von einer Zentralisierung, Entdemokratisierung und Ethnisierung der bis dahin vorhandenen Sozialsysteme Deutschlands. Die Exklusion ethnischer Bevölkerungsgruppen wie den Juden zeigte schon zu Beginn den Charakter der NS-Diktatur. Noch unter dem Einfluss der Kürzungen der Jahre 1929 bis 1933 kam es darauffolgend zwar zu keinem radikalen Umbau im Bereich der Alterssicherungssysteme, jedoch hatten propagierte sozialpolitische Verbesserungen eher den Effekt eines Befriedungsmittel und nicht als wohlfahrtsökonomisch sinnvoll zu dienen (Schmidt, 2005, S. 63.). Bilanziert sieht Schmidt (2005, S. 71) in den Trendbrüchen des Regimes eher einen Anstieg der Ungleichheit, auch wenn die Aufwertung der Arbeit und damit verbundene Abbau von Unterschieden von Arbeitern und Angestellten eine erwähnenswerte Ausnahme sei, da dies auch unmittelbar die Menschen im Alterssicherungssystem betraf.
In den Nachkriegsjahren regierten in Deutschland die Jahre der Not. Die Rentenversicherung wurde in Ostdeutschland zu einer Einheitsversicherung unter der Führung des Freien Deutsche Gewerkschaftsbunds, die mit der späteren Wiedervereinigung abgeschafft wurde.
In Westdeutschland wurde das Rentensystem wieder unter eine dezentrale Selbstverwaltung gestellt, die Funktionen aber weitestgehend beibehalten. Das ist insofern beachtlich, als dass nach dem zweiten Weltkrieg zusätzlich zu unzähligen Menschen, die Angehörige verloren hatten, Millionen von Geflüchteten und Vertriebenen in das System integriert werden mussten. Mit der Rentenreform im Jahr 1957 erhält das bisher als Unterstützungscharakter arbeitende Rentensystem einen Meilenstein in seiner Geschichte. Das Rentenneuregelungsgesetz unter Konrad Adenauer vom 23.2.1957 ermöglichte eine beitragsäquivalente und einkommensbezogene Altersrente in der Form, in der wir sie heute als umlagefinanziertes System kennen. Ziel dieser Reform war es laut des damaligen Bundesarbeitsministers Anton Storch, dass „jeder Rentenbezieher am Aufstieg seines Standes oder seines Berufes teilnimmt, und zwar nach Maßgabe seiner individuellen Position im Sozialgefüge, die er sich und den Seinen während der Dauer seines Arbeitslebens erarbeitet hat" (Verhandlungen des Deutschen Bundestages (1956), Stenographische Berichte,154. Sitzung, zitiert nach Schmidt, 2005, S. 79). Dieser Schritt begründet den Generationenvertrag.
In den Jahren nach 1957 stieg die Bruttorente der Versicherten deutlich an. Bis 2003 gab es insgesamt 45 Anpassungen, durch die die Rente um das 8,5fache anstieg. Preisbereinigt ergibt das eine Erhöhung um den Faktor 2,2 (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2017). Auf dem Weg dorthin wurde das System unter Ludwig Erhardt, Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt immer weiter ausgebaut, sowie für neue Versichertenkreise wie Selbstständige und Hausfrauen geöffnet. Erst im Jahr 1984, unter Bundeskanzler Helmut Schmidt, kam es zu ersten Konsolidierungsmaßnahmen wie „Veränderungen bei der Rentenanpassung, Einführung des Eigenanteils der Rentner zur gesetzlichen Krankenversicherung und der Einbeziehung der Sonderentgelte wie Weihnachts- und Urlaubsgeld in die Beitragspflicht.“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2017).
Im weiteren Verlauf bis zum heutigen Tag kam es immer wieder zu Veränderungen im deutschen Rentensystem. Zunächst wurde mit der Wiedervereinigung eine Anzahl von ca. 4 Millionen Menschen aus der ehemaligen DDR in die Rentenversicherung aufgenommen. Auf eine hohe Arbeitslosigkeit und der sich anbahnende demografische Wandel im Jahr 1992 reagierte die Politik mit einer Erhöhung des Renteneintrittsalters von 60 und 63 Jahren auf 65 Jahre, dass ab dem Jahr 2001 galt (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2017). Ebenfalls im Jahr 2001 änderte sich die als Berechnungsgrundlage dienende Rentenformel, infolge dessen das Rentenniveau insgesamt sank. Als Gegenmaßnahme führte die damalige Bundesregierung die bis heute gültige Riester-Rente ein (Schmidt, 2005, S. 116ff.). Die Riester-Rente ist eine staatliche Förderung von Privatpersonen, die zusätzliche Altersvorsorge betreiben. Dies kann zum Beispiel durch Zahlungen in Bank- oder Fondssparpläne der Fall sein. Eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalter beschloss die Große Koalition unter dem Druck steigender Rentenbeiträge und dem anhaltenden demografischen Wandel am 20. April 2007. Somit ist die Kohorte aus dem Jahr 1964 die erste, die 2029 im Regelalter von erst 67 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen kann (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2017).
Auf jüngere Reformen und Entwicklungen des deutschen Rentensystem, gerade mit Blick auf die Fragestellung und der Einflussgrößen demografischer Wandel und Lebensverläufe, wird im Verlauf der Arbeit weiter eingegangen.
Wie im vorherigen Kapitel benannt, finanziert sich die deutsche Rentenversicherung über das Umlageverfahren. Im Umlageverfahren zahlen die arbeitenden Kohorten die Rentenzahlungen für die Personen, die die Regelaltersrente beziehen. Dies ist aber nicht die einzige Finanzierungsquelle, da die Einnahmen über die Rentenversicherungsbeiträge die Ausgaben nicht decken würden. So stehen im Jahr 2018 Ausgaben in Höhe von 307.851 Millionen Euro Einnahmen durch Beiträge i.H.v. 236.404 Millionen Euro gegenüber (Deutsche Rentenversicherung, 2019, S. 234ff.). Weitere Einnahmen werden durch allgemeine und zusätzliche Bundeszuschüsse, Vermögenserträge, Erstattungen und sonstige Einnahmen generiert, sodass am Ende des Jahres 2018 noch ein Überschuss i.H.v. 4.432 Millionen Euro zu Buche stand (Deutsche Rentenversicherung, 2019, S.234).
Auch wenn staatliche Zuschüsse und Vermögenserträge keinen unerheblichen Teil der Finanzierung der Rentenversicherung ausmachen, wird doch offensichtlich, dass der überwiegende Teil aus Beiträgen der Versicherten stammt. Gerade die Beitragseinnahmen und die Rentenzahlungen sind in absoluter Abhängigkeit zu der Lebens- und Erwerbsbiografien, sowie zum demografischen Wandel zu sehen. Im Folgenden werden diese Einflussfaktoren gesondert erläutert.
Aus dem griechischen abgeleitet bedeutet Demografie Volksbeschreibung (Thurich, 2011, S. 16). Wenngleich die Beschäftigung mit den Determinanten Bevölkerungsstruktur und Bevölkerungsentwicklung, beides wird durch die Demografie beschrieben, schon immer von gesellschaftlicher Bedeutung war, so ist es erst eine aus dem 17. Jahrhundert datierte wissenschaftliche Disziplin. Zu diesen Zeiten wurden erstmal Daten zur Bevölkerungsstruktur erfasst, zuerst von der Kirche, später dann auch auf Bestreben der staatlichen Seite (Niephaus, 2012, S. 19). Diese werden bei den vorgestellten Texten mit der Kohorten- Komponenten-Methode erhoben, sodass eine Struktur in Abhängigkeit zu Geburtsjahrgängen deutlich wird. Die andere Variante zur Erhebung von Bevölkerungsstatistiken lautet Periodenanalyse. Sie legt eine „querschnittliche Perspektive zugrunde und lässt die Zeitabhängigkeit demographisch relevanter Ereignisse unbeachtet“ (Niephaus, 2012, S. 43).
Nach Niephaus (2012, S. 19) teilt sich diese Bevölkerungswissenschaft in Bevölkerungspolitik, Bevölkerungstheorie und Bevölkerungsstatistik auf. Letzteres ist hier in Hinblick auf den demografischen Wandel von Bedeutung, da dort die Dynamik und Struktur von Populationen als relevante Größen gelten. Ulrich Mueller (2000, S. 1) definiert diesen Vorgang wie folgt:
Die Struktur einer bestimmten Bevölkerung wird beschrieben durch die absolute Zahl der Einheiten sowie die Verteilung der jeweils interessierenden Merkmalsausprägungen bei den Einheiten dieser Bevölkerung zu einem bestimmten Zeitpunkt t. Die Dynamik einer Bevölkerung wird beschrieben durch die Angabe ihrer jeweils interessierenden Struktur zu verschiedenen Zeitpunkten t1 , t2, tn in Zukunft oder Vergangenheit; das Gesamtintervall o. ,t,J gibt den Zeitraum der Beschreibung an.
Im Fall der Demografie bestimmt das Statistische Bundesamt neben Alter und Geschlecht daher noch Einflussfaktoren wie Fertilität, Mortalität, Lebenserwartung und Migration. Diese werden im Folgenden kurz beschrieben.
Fertilität
Als Gegenstand der Bevölkerungssoziologie beschreibt die Fertilität den sozialen Vorgang der Nachwuchserzeugung und sollte nicht mit der biologischen Fähigkeit der Nachwuchserzeugung gleichgesetzt werden (Niephaus, 2012. S. 51ff.).
Das Statistischen Bundesamtes errechnet die Fertilität anhand von Messungen, die sich auf die relative Geburtenhäufigkeit bezieht. Sie errechnet sich aus der Geburtenhäufigkeit einer Frau in jedem einzelnen Altersjahr. Aufsummiert ergibt sie die zusammengefasste Geburtenziffer. Die Geburtenziffer beeinflusst die Vorausberechnungen der neuen Jahrgänge.
Mortalität und Lebenserwartung
Mortalität beschreibt die Sterblichkeit als einen Hauptbestandteil der Bevölkerungsbewegung. „Unter Sterblichkeit wird hier die Zahl der Sterbefälle während eines Zeitraums bezogen auf die Bevölkerung verstanden. Dabei können die Sterbefälle insgesamt oder untergliedert nach Alter oder Geschlecht im Verhältnis zur jeweiligen Bevölkerungsgruppe betrachtet werden" (Statistisches Bundesamt, 2020). Die Mortalität ist Basis für die berechnete Lebenserwartung, daher werden beide Komponenten oftmals in den Zusammenhang gestellt.
Anhand der Mortalität kann geschätzt werden, wie viele Lebensjahre männliche und weibliche Neugeborene zu erwarten hätten, wenn ihr Sterberisiko zum Zeitpunkt ihrer Geburt unverändert bleibt (Statistisches Bundesamt, 2019, S. 36).
Migration
Zu Beginn der Aufzeichnung von Wanderungsbewegungen innerhalb der Gesellschaft waren vor allem natürliche demografische Prozesse wie Fertilität oder Mortalität von Bedeutung. Die Bewegung im Raum als Aspekt der Bevölkerungssoziologie kam zuletzt in das bevölkerungswissenschaftliche Bewusstsein (Niephaus, 2012, S. 105). Neuere Definitionen bestimmen Migration folgendermaßen:
„Der Begriff Migration bezieht sich auf räumliche Bevölkerungsbewegungen, sowohl über Staatsgrenzen (grenzüberschreitende bzw. transnationale Migration) wie innerhalb eines politisch-territorialen, sozialen oder kulturellen Raumes (interne Migration). Er schließt den Prozess der Wanderungsentscheidung ein, sowohl für Migration mit dauerhafter Bleibeperspektive wie mit offenem Zeithorizont oder auch Wanderungen auf Zeit mit der Absicht, im Zielgebiet eine Zeitlang zu leben und zu arbeiten“ ((Hoerder et al. 2007, S. 36)
Heute werden Migrationsentscheidungen auch im Aspekt von politischen, ökologischen, ökonomischen und demografischen Ereignissen und Zuständen gesehen. Dazu zählt im Fall von Deutschland zum Beispiel die politische Entscheidung der Europäischen Union von Freizügigkeit, die neue Migrationsströme ermöglichte. Auch Unvorhersehbarkeiten wie Kriege, Naturphänomene oder politische Verfolgungen erzwingen Migration nach Deutschland. Eine langfristige Prognose abzugeben ist daher kaum möglich. So spielen in dieser Arbeit lediglich gesicherte Erkenntnisse über andauernde oder bisher geschehene Ereignisse eine Rolle.
Die Lebenslaufforschung als eigenständiges Forschungsfeld findet in der Soziologie erst seit den 1960er Jahren statt und gilt heute als eine der wichtigsten konzeptionellen Innovationen innerhalb der letzten Jahrzehnte (Wingens, 2020, S. 1). In der Lebenslaufforschung wird das Alter von Individuen erstmals nicht als bloßer Fakt, ähnlich dem Geschlecht, gesehen, sondern auch soziokulturell eingeordnet. Heute ist der Lebenslauf als soziales Konstrukt der fundamentale Gegenstand von soziologischer Lebenslaufforschung (Wingens, 2020, S. 31).
Das Lebensalter von Individuen innerhalb der Gesellschaft nimmt eine relevante Größe für die GRV ein. Nach Voges (1987, S. 9) dient die Differenzierung der Gesellschaftsmitglieder nach dem Lebensalter dazu, „im Prozeß der Vergesellschaftung Zäsuren zu schaffen, altersspezifische Handlungsmuster bereitzustellen, Identitätsstabilität bei Statuspassagen zu gewährleisten und auch der Gesellschaft eine relativ eindeutige Setzung von Verhaltenserwartungen zu ermöglichen“. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass es einen Mechanismus von Altersgrenzen in Abhängigkeit zu staatlichen Systemen gibt, die einen Übergang innerhalb der Lebensphase ermöglicht. Zusammenfassend bildete sich die Dreiteilung von Jugend, Erwerb und Ruhestand des Lebenslaufs aus. Als Beispiel sei hier der Übergang in die Phase des Nacherwerbs, also der Rente zu nennen, die an das Übertreten einer Altersschwelle gekoppelt ist. Aus dieser Teilung und der Orientierung am Lebensalter entstand der auf den Soziologen Martin Kohli (1997) zurückgehenden "institutionalisierte Lebenslauf", welcher im Folgenden näher dargestellt wird.
Der institutionalisierte Lebenslauf
Voraussetzung zur Entstehung des institutionalisierten Lebenslaufs in der Soziologie war ein Wandel von zufällig erscheinenden Ereignismustern innerhalb einer Lebensspanne zu einem planbaren, „vorhersehbaren“ Lebensverlauf (Wingens, 2020, S. 53). Wingens (2020, S. 50ff.) macht dies am Vergleich der durchschnittlichen Lebenserwartung von 1871 bis 2017 fest, in dem ein deutlicher Anstieg zu sehen ist. Aufbauend darauf war es erstmals möglich die Phasen des Lebens deutlicher zu gliedern, da es einen Wandel von einer unsicheren zu einer sicheren Lebenszeit gab. Das lange Leben wurde damit zum „Normalfall“ (Wingens, 2020, S. 53ff.) und durch die Einführung des deutschen Rentensystems im 19. Jahrhundert wurde eine neue Lebensphase, die Nacherwerbsphase, "institutionalisiert".
Die Einteilung in drei Lebensphasen bringt es mit sich, dass in jeder Phase der Übergang in die nächste vorbereitet werden muss. So kann eine fehlende Schulleistung die Determinante für ein ausbleibendes Studium oder Ausbildung sein, ebenso macht das Fehlen einer Arbeitsstelle in der zweiten Lebensphase einen Übergang in die Nacherwerbsphase weitaus schwieriger. So können bereits Versäumnisse in der ersten Phase des Lebens große Auswirkungen auf die letzte Lebensphase haben, denn der institutionalisierte Lebenslauf als Regelsystem konstituiert ein lebenszeitliches Ablaufprogramm, an dem die Individuen einer Gesellschaft sich orientieren können oder sogar müssen (Wingens, 2020, S. 62). Dem Wandel innerhalb dieser Lebensläufe wird im folgenden Kapitel Rechnung getragen.
Die Strukturen innerhalb einer Gesellschaft wandeln sich stetig und zunehmend in einem beschleunigten Tempo. So ist der Wandel in verschiedenen Disziplinen der Wissenschaft zu einem Gegenstand der Diskussion avanciert. Das dazu existierende Literaturmaterial in seiner kaum noch zu überblickenden Vielschichtigkeit liefert auf die Frage nach dem Wandel ebenso unterschiedlichste Prognosen und Aussichten, wobei Prognosen allenfalls mögliche Pfade beschreiben, keinesfalls aber eine Aussage treffen können, wie sich ein Wandel ereignet und welche Auswirkungen dieser auf das soziale Handeln und Institutionen haben wird (Schäfers, 2012, S. 5). Im Folgenden wird der Begriff des sozialen Wandels definiert und wesentliche Aspekte verdeutlicht, um später seinen Einfluss auf die GRV zu untersuchen.
Eine Begriffsbestimmung für den sozialen Wandel gestaltet sich auch aus historischer Sicht durch seine pluralen Betrachtungsmöglichkeiten als schwierig. In den Anfängen betrachtete Auguste Comte den sozialen Wandel als eine zunehmende Nutzung von wissenschaftlichen Methoden, wogegen Talcott Parsons ihn als einen Wandel der normativen Kultur sah. Für Karl Marx war der soziale Wandel eine Konflikttheorie in Sinne von Widersprüchen zwischen Produktivkräften einer Gesellschaft und ihren Eigentums- oder Klassenverhältnissen.
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1 In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum verwendet. Weibliche und andere Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist.
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