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Magisterarbeit, 2003
112 Seiten, Note: Sehr gut
1 Einleitung und Problembegegnung
2 Begriffsklärung
2.1 Nicht behinderte Kinder
2.2 Behinderte Kinder
2.3 Integration
2.4 Sonderpädagogisches Zentrum
2.5 Sonderpädagogischer Förderbedarf
2.6 Integrationsklasse
2.7 Zusammenfassung der Kapitel 1 und 2
3 Forschungsstand
4 Untersuchungsdesign
4.1 Pretest
4.2 Modus der Stichprobengewinnung
4.2.1 Auswahl der Schulklassen
4.2.2 Stichprobe und Population
4.3 Zeitraum der Datenerhebung
4.4 Aufbau des Tests
4.5 Die Test-Items
4.5.1 Soziografische Daten
4.5.2 Items zur Leistungsfeststellung, abhängige Variablen
4.6 Durchführung der Testung
4.7 Auswertung
4.8 Wissenschaftliche Gütekriterien
4.8.1 Objektivität
4.8.2 Reliabilität
4.8.3 Validität
5 Statistische Auswertung
5.1 Beschreibung des Datenmaterials
5.2 Soziogene Daten
5.2.1 Verteilung der Geschlechter
5.2.2 Muttersprache der Probandinnen und Probanden
5.3 Test-Items
5.4 Itemschwierigkeiten
5.5 Dimensionen der Test-Beispiele (Datenreduktion)
5.6 Untersuchung der Arbeitshypothesen
5.6.1 Unterschiede zwischen Regel- und Integrationsklassen
5.6.2 Unterschiede zwischen den Geschlechtern
5.6.3 Unterschiede zwischen den Kindern hinsichtlich der Muttersprache
5.7 Zusammenfassung der Auswertungsergebnisse
6 Resümee und Diskussion der Ergebnisse
6.1 Relevanz der Forschungsfrage
6.2 Ausblick
6.2.1 Die Meinung der Österreichischen Volkspartei
6.2.2 Die Meinung der Freiheitlichen Partei Österreichs
6.2.3 Die Meinung der Grünen
6.2.4 Die Meinung der Sozialdemokratischen Partei Österreichs
6.2.5 Konklusion
Literatur
Anhang
Testbögen
Anhang zu den statistischen Verfahren
Transkription der Interviews mit den Bildungssprechern
der im österreichischen Parlament vertretenen politischen Parteien
„Die Volksschule hat in den ersten vier Schulstufen (Grundschule) eine für alle Schüler gemeinsame Elementarbildung unter Berücksichtigung einer sozialen Integration behinderter Kinder zu vermitteln.“
(Schulorganisationsgesetz, 2. Hauptstück, Teil A, Abschnitt I, § 9 Abs. 2)
In Österreich haben Kinder mit Behinderungen ein verbrieftes Recht auf schulische Integration. Dieses Recht de facto umzusetzen bedarf es einer bestimmten Anzahl von nicht behinderten Kindern, deren Eltern einer Integration zustimmen. Freiwilligkeit ist von beiden Seiten gefordert und auch sinnvoll.
Im Rahmen meiner 25-jährigen Tätigkeit als Volksschullehrerin in Wien begegnet mir jedoch oft das Problem, dass Eltern nicht behinderter Kinder sich weigern, ihre Söhne und Töchter in Integrationsklassen einschulen zu lassen. Der weit verbreitete Hauptvorwurf lautet, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf würden durch ihr intensives Beanspruchen pädagogischer Obsorge den Lernfortschritt auch der nicht behinderten Mitschülerinnen und Mitschüler bremsen und damit das Leistungsniveau der gesamten Klasse drücken. Schon Hans Wocken beschrieb in seinem Buch über Hamburger Integrationsklassen das Phänomen der von den Erziehungsberechtigten befürchteten schulischen Deprivation der nicht behinderten Kinder in Integrationsklassen, welche, evoziert durch den „Ballast“ der behinderten Kinder, eine generelle Verschlechterung der Leistungen mit sich bringen würde. Das Förderpotenzial der Schule würde von den Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf empfindlich herabgesetzt und somit den nicht behinderten Kindern entzogen (Wocken in: Wocken & Antor 1987, S. 280-282). Daraus ergibt sich für viele Volksschuldirektorinnen und –direktoren die prekäre Situation, dass für die gewöhnlichen Regelklassen wesentlich mehr Einschreibungen vorliegen als für die parallel dazu geführten Integrationsklassen.
Wenn schon nicht alle darunter leiden, so könnte es doch sein, dass die überdurchschnittlich intelligenten Kinder in Integrationsklassen zu wenig gefordert und gefördert werden. Also unterstellt Wocken in seiner „Nivellierungshypothese“, dass Hochbegabte in einer so extrem heterogenen Gruppe zu kurz kommen und ihre spezielle Förderung einer imaginären „Gleichmacherei“ zum Opfer fällt. Lehrerinnen und Lehrer könnten einer so weit gefächerten Heterogenität innerhalb der Integrationsklassen nicht mehr zufrieden stellend begegnen und würden ihren Unterricht an einem irrealen Durchschnittsbild orientieren, was sowohl leistungsstarken als auch besonders leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern zum Nachteil gereichen würde (Wocken in: Wocken & Antor 1987, S. 282).
Andrerseits ortet etwa Gerhard Tuschel, Wiener Landesschulinspektor im Inspektorat für Sonderschulen und Integration, zunehmend auch solche Eltern, die für ihre nicht behinderten Kinder Vorteile in der Integration sehen. Sie interessieren sich deswegen für Integrationsklassen, weil sie sich aufgrund geringerer Klassenfrequenz bei gleichzeitig höherem Angebot an pädagogischen Ressourcen, somit einer günstigeren Lehrer-Schüler-Relation, eine Leistungsoptimierung ihrer nicht behinderten Kinder erwarten. Das in österreichischen Integrationsklassen obligate Zwei-Lehrer-System würde in Verbindung mit einer geringeren Klassenschülerzahl die Wahrscheinlichkeit häufigerer Schüler-Lehrer-Interaktionen mit sich bringen, was sich positiv auf die Schulleistung der Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf auswirken könnte.
Da der Kritikpunkt in allen Fällen im kognitiven Bereich ansetzt, wird dieser hier anhand der mathematischen Leistungen genauer beleuchtet. Weitere Aspekte eines umfassenden Leistungsbegriffes – etwa das Lesen, die Rechtschreibung, aber auch soziale, kommunikative, emotionale Kompetenzen, das Selbstkonzept, etc. - wurden in früheren Untersuchungen inkludiert, bleiben hier jedoch aus testökonomischen Gründen unbeachtet.
Die Konzentration auf den mathematischen Bereich erfolgt aus mehreren Gründen: Erstens weil die Mathematik den Entwicklungsstand kognitiver Prozesse am reinsten widerspiegelt, zweitens die mathematischen Lernerfolge einer sinnvollen Messung sehr gut zugänglich sind (Ingenkamp 1985, S. 97), weiters davon ausgegangen werden kann, dass die mathematischen Lernleistungsprodukte zumindest im größtenteils nachhilfefreien Volksschulbereich am ehesten und zu einem vergleichsweise hohen Prozentsatz auf schulische und nicht familiäre Förderung zurückzuführen sind und weil außerdem auch untersuchungsökonomische Interessen dafür sprechen.
Es stellen sich nun folgende Fragen: Geht die Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf Kosten der Lernleistung ihrer nicht behinderten Klassenkolleginnen und Klassenkollegen? Bringen heterogene Lerngruppen einen Leistungsnachteil oder werden Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in einer Integrationsklasse sogar besser gefördert als in einer Regelklasse? Gibt es im Volksschulbereich einen Unterschied zwischen den mathematischen Leistungen von nicht behinderten Kindern in Wiener Regelschulklassen und jenen von ebenso nicht behinderten Kindern in Wiener Integrationsklassen?
Auf diesem Hintergrund ergibt sich die Forschungshypothese, die im Weiteren die vorliegende Arbeit leiten soll:
H0: Es gibt keinen signifikanten Unterschied zwischen den mathematischen Lernleistungsresultaten nicht behinderter Kinder der dritten Schulstufe in Wiener Volksschul-Regelklassen und jenen nicht behinderter Kinder der dritten Schulstufe in Wiener Volksschul-Integrationsklassen.
Als Grundlage für die diese Nullhypothese überprüfende empirische Untersuchung diente der mathematische Subtest der beiden standardisierten Schulleistungstests von Helmut Seyfried, AST 2 und AST 3 (Seyfried 1976, S. 5-7 und Seyfried 1978, S. 2-5), bearbeitet und aktualisiert von der Versuchsleiterin und Autorin der vorliegenden Diplomarbeit.
Anschließend an diese Einleitung werden Grundbegriffe definiert, welche für das eindeutige Verständnis der übrigen Abschnitte von Bedeutung sind und eventuelle Missverständnisse vermeiden helfen.
Im dritten Kapitel werden der aktuelle Stand der Forschung und seine historische Entwicklung anhand von Eckdaten empirischer Untersuchungen im europäischen, deutschsprachigen Raum dargestellt.
Das vierte Kapitel der vorliegenden Studie beschreibt detailliert das hierfür verwendete Testinstrument, die Methoden, nach denen es entwickelt wurde, erläutert die einzelnen Items und die Auswahl der Versuchspersonen, referiert über die praktische Durchführung der Untersuchung und begründet die wichtigsten wissenschaftlichen Gütekriterien.
Danach erfolgt eine statistische Auswertung der Datenerhebung in grafischer wie auch beschreibender, analysierender Form. Es wird dafür das Datenanalysesystem SPSS für Windows eingesetzt.
Im Resümee werden die wesentlichen Erkenntnisse zusammengefasst und noch einmal mit der Forschungsfrage in Verbindung gebracht. Ein Ausblick auf die zukünftige Entwicklung der Integrationsklassen in Österreich, basierend auf Interviews mit den Bildungssprechern der vier im Parlament vertretenen politischen Parteien, beendet den Hauptteil dieser Diplomarbeit.
Nach dem Literaturverzeichnis hält der Anhang für die interessierte Leserin oder den interessierten Leser zusätzliche, ergänzende Erläuterungen zur statistischen Auswertung, die beiden Testbögen, sowie die Zusammenfassungen der Politiker-Interviews bereit, welche zwar aufschlussreiche Informationen bieten, jedoch im Hauptteil den Lesefluss stören würden.
In verschiedenen Werken der Fachliteratur werden Begriffe oft in unterschiedlichem Sinn gebraucht. Mag es sich auch nur um feine Nuancen der Interpretation handeln, so verlangt doch der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, verwendete Termini möglichst präzise und unverwechselbar zu definieren und durchgängig in ausschließlich vorgegebener Bedeutung zu verwenden.
Der Begriff „Nicht behinderte Kinder“ steht in der vorliegenden Arbeit für jene Schülerinnen und Schüler, die lediglich nach dem Lehrplan der Volksschule (da es in dieser Arbeit vorrangig um Volksschulkinder geht) unterrichtet werden, also keinen sonderpädagogischen Förderbedarf haben. Ausschließlich diese Kinder stehen im Zentrum des Forschungsinteresses der hier beschriebenen Untersuchung. Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf durften zwar auch an der Testung teilnehmen, jedoch wurden ihre Testbögen nicht in die statistische Auswertung einbezogen.
Obwohl in einschlägiger Literatur immer noch von „behinderten Kindern“ die Rede ist, besteht in Fachkreisen Konsens darüber, dass die Bezeichnung „behindert“ einer entwürdigenden Geringschätzung gleichkommt (die Behinderung bekommt einen allzu hohen Stellenwert, der Wert des Menschen tritt in den Hintergrund), moralisch daher nicht mehr vertretbar ist und somit als Stigmatisierung abgelehnt werden soll. „Was das Lernen eines Kindes behindert und eine adäquate Lernhilfe bedingt, ist nur ein spezialisierter Aspekt des allgemeinen Lernens und Lehrens. Ein Kind, das als `behindert´ bezeichnet wird, ist in erster Linie Kind wie jedes andere auch“ (Speck 1996, S. 56 – 57). Es soll nicht der Aspekt der Behinderung im Vordergrund stehen! Man sieht das Kind heute nicht mehr defizitorientiert (Was kann es nicht?), sondern definiert es zuerst einmal als Kind wie jedes andere auch. In Österreich setzt sich stattdessen mehr und mehr der Begriff „Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf“ durch. Obgleich: Eine Änderung in der Terminologie allein löst noch keine Probleme! Es müssen weitere Schritte folgen, vor allem in der Sozialpolitik und in der Pädagogik.
Als „behindert“ gelten in dieser Arbeit alle Kinder, denen aufgrund geistiger und/oder physischer und/oder psychischer und/oder sozialer Bedingungen ein erfolgreiches Erfüllen aller Mindestanforderungen des Regelschullehrplanes (hier insbesondere des Volksschullehrplanes) unmöglich gemacht wird. Sie werden teilweise – dort, wo es unbedingt nötig ist – nach dem Lehrplan einer Sonderschule unterrichtet und benotet, sofern sie in einer Integrationsklasse beschult werden können. Anderenfalls besuchen diese Kinder disziplinspezifische Sonderschulen (siehe Kapitel 2.3 sowie 2.6).
Folgende sechs Einschränkungen können in verschiedenen Graden die betroffenen Kinder beeinträchtigen: Körperliche Behinderung, geistige Behinderung, Sinnesbehinderung (Hör- oder Sehbehinderung, Gehörlosigkeit, Blindheit), Sprachbehinderung, Lernbehinderung, Verhaltensauffälligkeit, wobei nicht selten zwei oder mehrere Behinderungsarten gleichzeitig auftreten.
Die Frage der Integrationsmöglichkeit hängt entscheidend vom Grad der Beeinträchtigung ab, da in vielen Regelschulen etwa die architektonischen Gegebenheiten für jene körperbehinderten Schülerinnen und Schüler, die zu ihrer Fortbewegung einen Rollstuhl brauchen, nicht geeignet sind, Therapieangebote nicht zur Verfügung gestellt werden oder aber andere materielle oder personelle Voraussetzungen nicht oder nicht rechtzeitig geschaffen werden können.
Aus dem Stowasser:
integrare = wieder herstellen; wieder aufnehmen, von neuem beginnen, erneuern
integratio = Erneuerung
(Der kleine Stowasser 1970, S. 274)
Erneuerung soll im Sinne von „Wiederherstellung eines Ganzen“ verstanden werden. Durch Integration wird aus Teilen ein Ganzes – in Bezug auf die Sozietät der Kinder, in Bezug auf ein bestimmtes Gesellschaftssystem, in Bezug auf eine Staatengemeinschaft o. ä. - wieder hergestellt. Für Feuser bedeutet Integration „Wiedereingliederung bereits ausgeschlossener Kinder wie Erhalt der Eingliederung der von Ausschluss bedrohten Kinder“ (Feuser in: Olechowski & Wolf 1990, S. 208). Integration als ein Prozess der Annäherung zielt darauf ab, „dass Menschen in sozialen Gruppen und Institutionen zusammenleben, d. h. sich gegenseitig akzeptieren und einander unterstützen und ergänzen, gleichgültig, ob sie ansonsten eine Behinderung aufweisen oder nicht“ (Speck 1996, S. 399).
„Integration ist ein Bekenntnis zur Vielfältigkeit“ meinen Wocken und Antor (Wocken & Antor 1987, S. 8). Jede Gesellschaft ist geprägt von einer weitreichenden Heterogenität, die auf den ersten Blick zu Gliederung, Spaltung, Aussonderung anregen könnte, die aber andererseits auch zu Integration, zur positiven Bewältigung dieser Heterogenität, zu einer sinnvollen Nutzung aller verschiedenen Ressourcen oder zumindest zu einem Akzeptieren der Vielfalt motivieren könnte. Jedes Individuum birgt in sich gesellschaftlich anerkannte, aber auch von der Gesellschaft abgelehnte Anteile. Wie aus der Psychoanalyse bekannt, verfügen wir über verschiedene Abwehrmechanismen, mit deren Hilfe wir die unerwünschten Eigenheiten zu verdrängen, verleugnen oder etwa auf andere Personen zu projizieren trachten. Bloß: Durch Verleugnen, Verdrängen, Projizieren werden Probleme nicht gelöst und vermeintliche Unzulänglichkeiten nicht aus der Welt geschafft, dadurch wird aus einem Menschen keine integrierte Persönlichkeit. Die Annahme von eigenen Behinderungen und von ungeliebten Persönlichkeitsanteilen wäre hingegen eine wichtige Voraussetzung dafür. „Integration ist auch ein Akt der Selbstliebe und erweist sich in einem freundschaftlichen Umgang mit den eigenen Gebrechlichkeiten. Behinderungen sind menschlich; sie bei uns selbst und bei anderen zu akzeptieren, ist Gegenstand der Menschwerdung des Menschen“ (Wocken in: Wocken/Antor/Hinz 1988, S. 441). Integration müsste daher bei uns selbst, im Akzeptieren der eigenen Schatten beginnen.
„Integration bedeutet Eingliederung. Die Integrationsfähigkeit hängt aber keineswegs nur vom Außenseiter, vom `Nichtnormalen´, in der Schule, also vom Leistungsschwachen und Anpassungsbehinderten ab, sondern ebenso davon, was man als Norm bezeichnet und wie sich die Gruppe der `Normalen´ selbst begrenzt und definiert“, meint Reinhart Lempp in seinem Beitrag über Möglichkeiten und Grenzen der Integration von Schülern mit besonderen Bedürfnissen. Und weiter fasst derselbe zusammen: „Eine Integration, die nur die Angleichung der Behinderten oder `Nichtnormalen´ an die selbst definierte `Norm´ versteht, leistet keine Integration, sondern Desintegration, Ausgrenzung. Integration kann nicht die Forderung der `Normgruppe´ an die Außenseiter sein. Integration ist Anpassungsbereitschaft auf Gegenseitigkeit“ (Reinhart Lempp in: Olechowski & Wolf 1990, S. 70 und S. 74). Es geht bei Integration eben nicht um Gute und Schlechte, nicht um Starke und Schwache, sondern 1. darum, zu sehen, dass Normen von uns selbst gemacht sind und 2. zu erkennen, dass jeder Mensch in irgendeiner Weise diesen selbst errichteten Normen nicht immer zu hundert Prozent entspricht.
Da sich diese Arbeit mit schulischer Integration beschäftigt, sei auch die Definition aus dem „Wörterbuch Pädagogik“ zitiert:
„Allgemein: Soziale Prozesse der Eingliederung von Menschen in gesellschaftliche Systeme, z. B. von Einzelpersonen in Gruppen, von Gruppen in ein Gesellschaftssystem oder Vereinigung von Gesellschaftssystemen“ (Schaub & Zenke 1995, S. 275-276). Diese Diplomarbeit widmet sich dem gesellschaftlichen System Schule, hier geht es also um den Prozess schulischer Erziehung und Bildung, und beleuchtet darin den besonderen Aspekt der Eingliederung behinderter Kinder in das Regelschulwesen und dessen Auswirkungen auf die schulischen Leistungen nicht behinderter Kinder. Und weiter heißt es: „In der Pädagogik wird der Begriff in verschiedenen Zusammenhängen definiert verwendet. (…) Die Integration von Behinderten und Nichtbehinderten in Regelschulen führte seit den achtziger Jahren vermehrt zum gemeinsamen Lernen in Integrationsklassen, sodass eine Aufnahme in die Sonderschule nicht notwendig wurde. Das bedeutet: Reduzierung der Klassenfrequenz, Zwei-Lehrer-System (Grundschullehrer, Erzieher oder Sonderschullehrer), offene Lernformen und zieldifferentes Lernen, Raumgestaltung und veränderte räumliche Bedingungen, Abschaffung des Ziffernzeugnisses und Einführung des individuellen Entwicklungsberichtes, Fortbildung und Ausbildung der Lehrerschaft und Kooperation mit therapeutischem, psychologischem und medizinischem Fachpersonal“ (Schaub & Zenke 1995, 275 - 276). Hier werden bereits die erwünschten Rahmenbedingungen für ein gedeihliches Miteinander im schulischen Alltag aufgezählt.
Integration ist nichts Statisches, sondern sie stellt – wie oben zitiert - einen Prozess dar, „der sich auf einem Kontinuum von segregativen bis voll integrativen Formen abspielt“ (Bürli 1997, S. 71). Segregation, das diametrale Pendant zur Integration, meint „Aussonderung“, eine strenge Teilung in so genannte „Behinderte“ und „Nicht Behinderte“, indem jene ausschließlich in disziplinspezifische Sonderschulen, diese in Regelschulen unterrichtet werden sollen. Wie oben erwähnt war dies im Großteil Europas, vor allem aber im deutschsprachigen Raum bis in die Achtzigerjahre gängige Praxis. Schulische Integration jedoch beginnt bei der Betreuung durch Förder- oder Stützlehrerinnen bzw. Förder- oder Stützlehrer innerhalb einer Regelklasse und führt über zeitweise kooperierende Klassen zu Integrationsklassen, die sich im Gebäude einer Regelschule befinden und Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf gemeinsam fördern. Auch Feuser streicht den Prozess-Charakter hervor, wenn er meint, man könne nicht einfach von einem gewohnten Erziehungssystem auf ein neues umschalten. Integration wäre vielmehr „ein Prozess mit momentanen Höhepunkten und mit langen Durststrecken“ (Feuser in: Olechowski & Wolf 1990, S. 209). Als Durststrecken bezeichnet er jene Zeit, „die benötigt wird, bis eine entsprechende bewusstseinsmäßige Umstellung bei uns selbst erfolgt ist“ (Feuser in: Olechowski & Wolf 1990, S. 209).
In Österreich gibt es für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Pflichtschulbereich derzeit vier Organisationsformen von Integration. Kinder, die bloß in einem Gegenstand nach dem Lehrplan einer Sonderschule unterrichtet werden müssen („…wenn die zusätzliche Fördernotwendigkeit nur gering ist …“ Mörwald & Pannos 2002a, S. 4), können eine gewöhnliche Regelschul-Klasse besuchen, in der sie zusätzlich zur Klassenlehrerin oder zum Klassenlehrer auch noch von einer Stützlehrerin oder einem Stützlehrer bzw. einer Förderlehrerin oder einem Förderlehrer, medizinischen oder therapeutischen Fachleuten betreut werden. In dieser Einzelintegration (Der Begriff „Einzelintegration“ wird in Deutschland anders verwendet! Siehe dazu: Feuser in: Olechowski & Wolf 1990, S. 211) ist die Stützlehrerin oder der Stützlehrer bzw. die Förderlehrerin oder der Förderlehrer für den Unterricht und die Benotung jenes Gegenstandes verantwortlich, in dem das Kind nach einem Sonderschullehrplan unterrichtet wird (Zur Benotung siehe unter 2.6 „Integrationsklasse“!). Muss ein Kind in mindestens zwei Fächern nach einem Sonderschullehrplan unterrichtet werden, so kann es seinen Schulbesuch in einer Integrationsklasse absolvieren.
Es besteht für Sonderschulen die Möglichkeit, mit allgemeinen Schulen (Volks-, Haupt- oder Polytechnischen Schulen) zusammenzuarbeiten, d.h. den Unterricht in einzelnen Stunden oder Fächern zeitweise, vielleicht projektbezogen oder schwerpunktmäßig, gemeinsam zu gestalten. Diese Kooperation – man spricht von „Kooperationsklassen“ - regelt der Absatz 1a im § 9 des Schulunterrichtsgesetzes.
Die vierte Variante schulischer Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf besteht in so genannten Aufbauklassen, die dazu gedacht sind, dass sie Kinder, deren Beeinträchtigung erst während ihrer Schullaufbahn eintritt bzw. erst dann festgestellt wird – dies ist auf jeden Fall bei Lernbehinderung der Fall, kann aber auch bei allen anderen Behinderungen zutreffen -, nicht von sonderpädagogischen Fördermaßnahmen ausgeschlossen werden müssen. Eine Klassenlehrerin oder ein Klassenlehrer beginnt eine erste Volksschulklasse mit 15 Kindern, um die restlichen Plätze für jene Kinder, deren sonderpädagogischer Förderbedarf erst später evident wird, frei zu halten. Förder- und Stützmaßnahmen werden der Klasse aufbauend, dem Zuwachs an Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf synchron, vom nächstliegenden sonderpädagogischen Zentrum zugeteilt. Nach Erreichen einer zumutbaren Klassenschülerfrequenz besteht kein Unterschied zwischen einer Aufbauklasse und einer Integrationsklasse.
„Sonderpädagogische Zentren sind Sonderschulen, die die Aufgabe haben, durch Bereitstellung und Koordination sonderpädagogischer Maßnahmen in anderen Schularten dazu beizutragen, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in bestmöglicher Weise auch in allgemeinen Schulen unterrichtet werden können“; so die Erklärung des Schulorganisationsgesetzes (SchOG § 27a Abs. 1). Das heißt, dass das sonderpädagogische Zentrum sowohl die Sonderschullehrerinnen und Sonderschullehrer für Integrationsklassen zur Verfügung stellt, sie berät und unterstützt, aber auch die für den Unterricht nötigen zusätzlichen Mittel (etwa therapeutische Hilfsmittel oder Anschauungsmaterial) den Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf bereitstellt. Sonderpädagogische Zentren nehmen zudem Verbindung mit außerschulischen Unterstützungssystemen auf dem gesundheits- und sozialpolitischen Gebiet auf und vernetzen diese miteinander und mit den Integrationsklassen.
Die Leiterin oder der Leiter eines Sonderpädagogischen Zentrums hat die Eltern zu beraten, wenn es um die Frage eines eventuellen sonderpädagogischen Förderbedarfs geht. Sie oder er ist außerdem ein Glied der sonderpädagogischen Kommission, deren Aufgabe darin besteht, einem beantragten sonderpädagogischen Förderbedarf stattzugeben oder ihn abzulehnen. Weiters hat das Sonderpädagogische Zentrum darauf zu achten, dass die Integration möglichst wohnortnahe durchgeführt werden kann. Dazu obliegt es dem Sonderpädagogischen Zentrum, bei Bedarf sich um die Einrichtung einer neuen Integrationsklasse zu bemühen. Dies alles sollte im Einvernehmen mit allen involvierten oder hilfreichen Institutionen (Regelschule, Schulpsychologie, andere sonderpädagogische Zentren) und Personen (dem Kind selbst, seinen Eltern, Schulinspektoren) geschehen.
Zusammenfassend werden die folgenden drei Funktionen eines Sonderpädagogischen Zentrums hervorgehoben, die vorrangig einerseits den sonderpädagogischen Kompetenztransfer und andrerseits die Sicherstellung sonderpädagogischer Betreuungsqualität gewährleisten sollen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
(Hovorka in: Schule gestalten, S.162 - 169)
Österreich gehört hinsichtlich schulischer Integration nicht zu den Vorreitern innerhalb Europas. Mehrere Länder, ganz besonders Italien, Dänemark, Schweden und Norwegen legten schon lange vor uns Gesetze zur Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf vor und vollzogen diese auch Jahre vor uns. Ebenso verabschiedeten die USA bereits 1978 ein Gesetz für die integrative Beschulung (Benkmann & Pieringer 1991, S. 19-20).
Umso erfreulicher, dass seit 1993 nun endlich auch Österreich über eine gesetzliche Verankerung der Integration in Volksschulen, seit 1997 über eine ebensolche für die Sekundarstufe verfügt. Der gesamte Paragraf 8 des aktuellen österreichischen Schulpflichtgesetzes beschäftigt sich mit dem Schulbesuch bei sonderpädagogischem Förderbedarf. War in der früheren Fassung des österreichischen Schulpflichtgesetzes noch davon die Rede, dass schulpflichtige Kinder mit physischer oder psychischer Behinderung eine ihrer Eigenart entsprechende Sonderschule oder Sonderschulklasse zu besuchen haben, so ersetzt das Bundesgesetzblatt BGBl. Nr. 513/1993, §8 Abs. 1 die Überschrift „Besuch einer Sonderschule“ durch den Begriff „Schulbesuch bei sonderpädagogischem Förderbedarf“.
Seit diesem Zeitpunkt werden Kinder mit Behinderungen nicht mehr ausschließlich und zwingend in Sonderschulen abgeschoben, sondern es gibt nun auch die Möglichkeit, diese Kinder integrativ in gewöhnlichen Regelklassen oder in Integrationsklassen zu unterrichten. „Aus der bisherigen Selektionsdiagnostik soll daher eine maßnahmenorientierte Förderdiagnostik werden, die auf die Berücksichtigung der besonderen Erziehungsbedürfnisse eines behinderten Kindes abzielt“ (Gruber in: Bundesministerium für Unterricht und Kunst 1993, S. 16). Es wird nun nicht mehr nach der richtigen Form von Sonderschule gefragt, sondern nach der optimalen Abstimmung von besonderem Förderbedarf und den verfügbaren Förderkompetenzen. Nach Erstellen verlässlicher Diagnosen kann das Kind in einem oder mehreren Gegenständen nach dem seiner Behinderung entsprechenden Sonderschullehrplan unterrichtet werden; in einer Regelklasse dann, wenn bloß in einem einzigen Fach nach Sonderschullehrplan unterrichtet wird, und in einer Integrationsklasse sofern zwei oder mehr Gegenstände davon betroffen sind (Mörwald & Pannos 2002b, S. 4). § 8 lit. a Abs. 1 des geltenden Schulpflichtgesetzes erklärt dies folgendermaßen: „Schulpflichtige Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf (…) sind berechtigt, die allgemeine Schulpflicht entweder in einer für sie geeigneten Sonderschule oder Sonderschulklasse oder in einer den sonderpädagogischen Förderbedarf erfüllenden Volksschule (…) zu erfüllen, (…)“ (Schulpflichtgesetz 1993, BGBl. Nr. 513 § 8a Abs. 1).
Die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs kann entweder von den Erziehungsberechtigten oder von Amts wegen (etwa von der Schulleitung) vor Schuleintritt, bei Vorliegen einer Lernbehinderung erst am Ende der Grundstufe I (d. h. am Ende der zweiten Volksschulklasse) beantragt werden. Nötige Gutachten, verfasst von der Leiterin oder dem Leiter des Sonderpädagogischen Zentrums, der Schulärztin oder des Schularztes, in begründeten Fällen auch von der Schulpsychologin oder dem Schulpsychologen oder von anderen mit der Behinderung vertrauten Fachleuten, liegen dem Ansuchen bei. Die regionale Kommission, bestehend aus der Bezirksschulinspektorin oder dem Bezirksschulinspektor, der betreffenden Schulleiterin oder dem betreffenden Schulleiter, der Leiterin oder des Leiters des zuständigen Sonderpädagogischen Zentrums, der Schulpsychologin oder dem Schulpsychologen, gibt dem Antrag statt oder lehnt ihn begründet ab (Mörwald & Pannos 2002b, S. 8). Die zuständige Bezirksschulinspektorin oder der zuständige Bezirksschulinspektor erteilt nach positiver Behandlung aller Unterlagen den Bescheid auf sonderpädagogische Förderung. Dies wird immer dann der Fall sein, wenn zu befürchten ist, dass das begutachtete Kind aufgrund seiner Behinderung dem Unterricht nach Volksschullehrplan nicht ohne zusätzliche Hilfsangebote folgen kann.
Nach einer angemessenen Beobachtungsfrist genehmigt der Bezirksschulrat den Unterricht nach dem der Behinderung des Kindes entsprechenden Sonderschullehrplan (SchUG[1] § 17 Abs. 4). Die Schulkonferenz hat zu entscheiden, „ob und in welchen Gegenständen der Schüler nach dem Lehrplan einer anderen Schulstufe, als der seinem Alter entsprechenden, zu unterrichten ist“ (SchUG § 17 Abs. 4b). Es hängt von der Art der Behinderung und vom Grad deren Ausprägung ab, welcher Lehrplan für welches Kind und in welchem Gegenstand der optimale ist. Dies muss von den Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern individuell diagnostiziert, begründet und festgelegt werden.
Eigentlich ist es irreführend, die Integrationsklasse einer Regelklasse gegenüberzustellen, zumal in Österreich schon 1993 Volksschul-Integrationsklassen aus dem seit dem Schuljahr 1986/87 laufenden Schulversuch ins Regelschulwesen übergeführt wurden – im Sekundarbereich geschah dies im Rahmen der 17. SchOG[2] -Novelle im Jahr 1996 - , somit der Ausdruck „Integrative Regelklasse“ eher dem Gesetz entsprechen würde. Dennoch hat sich im Sprachgebrauch der Begriff „Integrationsklasse“ durchgesetzt und auch für die gewöhnlichen Pflichtschulklassen gibt es keine andere Bezeichnung als die der „Regelklasse“.
„Eine Integrationsklasse versteht sich als eine Stammgruppe von behinderten und nicht behinderten Kindern, die während der gesamten Grundschulzeit zusammen bleibt“ (Wocken in: Wocken/Antor/Hinz 1988, S. 396). So erläutert Hans Wocken, der Doyen der Integration in Deutschland, kurz und prägnant die zum Zeitpunkt dieser Aussage noch ganz junge Organisationsform.
Der Wiener Schulführer 2003, herausgegeben vom Stadtschulrat für Wien, definiert „Integrationsklasse“ folgendermaßen:
„Gemeinsamer Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern. Im Unterricht wird grundsätzlich ein/e Lehrer/in mit sonderpädagogischer Ausbildung, die auf die jeweilige Behinderungsart der Kinder Rücksicht nimmt, zusätzlich eingesetzt“ (Stadtschulrat für Wien 2003, S. 185). Die Sonderpädagogin oder der Sonderpädagoge steht während der gesamten Unterrichtszeit zur Verfügung. Im Sinne einer multiprofessionellen Versorgung kann bei Bedarf (je nach Behinderungsart und -grad) gleichzeitig eine weitere Fachkraft, etwa eine Physiotherapeutin oder ein Physiotherapeut, eine Ergotherapeutin oder ein Ergotherapeut, ein Gebärdendolmetsch etc., zu Rate gezogen werden.
Integrationsklassen sind meist räumlich und institutionell in Regelschulhäuser eingegliedert. (Es gibt heute – zwar ohne gesetzlichen Rückhalt[3] - auch schon Fälle von umgekehrter Integration, das heißt, es werden Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in bestimmte Sonderschulklassen aufgenommen, also integriert. Diese Klassen sind dann natürlich in den Gebäuden der betreffenden Sonderschule untergebracht.)
Für die Schülerinnen und Schüler einer Integrationsklasse gibt es somit mindestens zwei Lehrerinnen oder Lehrer als Ansprechpartner, im für die vorliegende Arbeit relevanten Volksschulbereich sind das eine Volksschullehrerin oder ein Volksschullehrer plus eine Sonderschullehrerin oder ein Sonderschullehrer. Aufgrund der unterschiedlichen Ausbildung widmet sich die Sonderpädagogin oder der Sonderpädagoge vorrangig den Bedürfnissen der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, während die Volksschullehrerin oder der Volksschullehrer in erster Linie für die Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf zuständig ist. Es sollen allerdings beide Pädagoginnen oder Pädagogen beiden Schülergruppen ihre Aufmerksamkeit schenken und den Unterricht in ständiger Absprache gemeinsam planen und durchführen (Mörwald & Pannos 2002a, S. 4). „Es arbeiten (…) alle Lehrer als gleichwertige Partner; jeder der in der Klasse tätigen Lehrer ist für ALLE Kinder zuständig“ (Mörwald & Pannos 2002b, S. 14).
Als zusätzliche Hilfe sollen die Kinder selbst ermutigt werden, ihren Fähigkeiten entsprechend einander zu helfen. Soziales Lernen spielt eine umso größere Rolle, je vielfältiger sich die heterogene Klassengemeinschaft präsentiert. „Besonderes Augenmerk wird auf ein soziales Klima gelegt, innerhalb dessen die SchülerInnen einander mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen, individuellen Bedürfnissen und Kommunikationsfähigkeiten akzeptieren und wertschätzen und die unterschiedlichsten Tätigkeiten gemeinsam durchführen“ (Mörwald & Pannos 2002a, S. 4). Die vorhandene Heterogenität wird nicht durch eine Strategie der unbedingten Homogenisierung, auch nicht durch ein Anpassen einer Minderheit an die Mehrheit bewältigt, sondern durch Binnendifferenzierung, Individualisierung und aktive Zusammenarbeit aller am Unterricht Beteiligten. „Alle Kinder, behinderte wie nicht behinderte, sollen ihrem Vermögen gemäß beansprucht werden, und sie sollen dabei auch miteinander und voneinander lernen. Das Ziel eines integrativen Unterrichts ist die allseitige Förderung aller Kinder durch gemeinsame Lernsituationen“ (Wocken in: Wocken & Antor 1987, S. 72).
In einer Integrationsklasse darf jeder in Österreich zugelassene Lehrplan zur Umsetzung gelangen, jedes Kind erhält den für seine Fähigkeiten optimalen und wird danach auch beurteilt. Das Schulorganisationsgesetz bringt dazu im §10 Abs. 4 folgendes zur Kenntnis: „Für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf findet der Lehrplan der Volksschule insoweit Anwendung, als erwartet werden kann, dass ohne Überforderung die Bildungs- und Lehraufgabe des betreffenden Unterrichtsgegenstandes grundsätzlich erreicht wird; im übrigen findet der der Behinderung entsprechende Lehrplan der Sonderschule Anwendung“ (BGBl.[4] Nr. 512/1993, Z 10).
Diesem Lehrplan entsprechend wird dann auch die Leistung des Kindes beurteilt und im Zeugnis vermerkt, welcher Sonderschullehrplan bzw. der Lehrplan welcher Schulstufe zur Beurteilung herangezogen wurde (SchUG § 19 Abs. 2 und § 22 Abs. 2 lit. i).
Zur Klassenfrequenz in Volksschul-Integrationsklassen findet sich im Schulunterrichtsgesetz folgender Satz: „In Volksschulklassen, in denen Kinder ohne und mit sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam unterrichtet werden, soll der Anteil an Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf nur jenes Ausmaß betragen, bei dem unter Bedachtnahme auf Art und Schweregrad der Behinderung die erforderliche sonderpädagogische Förderung erfolgen kann“ (Schulunterrichtsgesetz 2001, §9 Abs.1). Es obliegt dem Ermessen der zuständigen Pädagogen, die Anzahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf individuell festzulegen. Handelt es sich ausschließlich um lernbehinderte Kinder – was laut Aussage von Alfred Brader, Bildungssprecher der ÖVP, in den meisten Fällen zutrifft – so wird diese Zahl höher sein als wenn mehrfach- oder schwerstbehinderte Kinder betroffen sind.
Für das Bundesland Wien legt das Wiener Schulgesetz im 2. Hauptstück §10 Abs. 2 die Klassenschülerhöchstzahl für Integrationsklassen fest: „Im Fall des gemeinsamen Unterrichts von nicht behinderten Kindern und Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf vermindert sich die Klassenschülerhöchstzahl für jedes leistungsbehinderte oder lernschwache Kind um eins und für jedes Kind mit anderer Behinderungsform um zwei. Dabei soll eine Klassenschülerzahl von 22 nicht überschritten werden (LGBl. Nr. 49/1994 Art I Z 9)“ (Wiener Schulgesetz, II. Hauptstück, 1. Abschnitt, §10). Im Regelfall wird diese Grenze auch nicht überschritten, umso mehr verwundert es, dass von den getesteten 13 Integrationsklassen ein recht hoher Prozentsatz, nämlich 4 Klassen, über dem empfohlenen Limit von 22 Schülerinnen und Schülern liegt.
Dem Prinzip der Freiwilligkeit gehorchend liegt die Entscheidung, ob ein Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Sonderschule oder eine Integrationsklasse besucht, bei den Erziehungsberechtigten, die – so sie in Wien wohnen - im Zweifelsfall eine Beratung der Integrationsberatungsstelle des Stadtschulrates für Wien in Anspruch nehmen können, zumal die Entscheidung, welche Schulform bzw. welche Klassenform für das betreffende Kind die richtige sein wird, oft nicht sehr leicht ist.
Die Integration von Kindern mit Behinderungen in Regel-Volksschulen (Es geht in dieser Arbeit vorrangig um Volksschulen, nicht um Hauptschulen, Polytechnische Schulen oder Höhere Schulen!) ist in Österreichischen Schulgesetzen seit nunmehr zehn Jahren verankert. Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, das sind alle Kinder, die ohne zusätzliche Hilfe nicht imstande wären, den Volksschullehrplan zu erfüllen und somit zum Teil einem Sonderschullehrplan folgen, werden in disziplinübergreifenden Integrationsklassen gemeinsam mit Kindern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf unterrichtet. Die Zusammensetzung richtet sich nach der Art und dem Schweregrad der Behinderungen. Bei einer reduzierten Klassenschülerhöchstzahl liegt der Anteil der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Österreich etwa zwischen 20 und 25%. Zwei Lehrerinnen oder Lehrer, nämlich eine Volksschullehrerin oder ein Volksschullehrer und eine Sonderschullehrerin oder ein Sonderschullehrer (von einem Sonderpädagogischen Zentrum der Volksschule zugewiesen), gestalten den Unterricht in Teamwork so, dass auf die Bedürfnisse aller Schülerinnen und Schüler möglichst optimal eingegangen werden kann. Die regelmäßige Evaluierung des Leistungsstandes gibt Auskunft darüber, ob der ursprünglich festgestellte sonderpädagogische Förderbedarf weiterhin besteht oder bereits aufgegeben werden kann.
„Auch die integrationsfähige Schule muss den Auftrag erfüllen, die Kinder in die grundlegenden Kulturtechniken einzuführen und Qualifikationen für das spätere Berufsleben vorzubereiten. (…) Es erscheint mir deshalb unbestritten, dass für die Beurteilung von Integrationsversuchen die Wirkungen der leistungsheterogenen Bezugsgruppe auf den Erwerb der elementaren Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen untersucht werden müssen“ (Haeberlin in: Zeitschrift für Pädagogik 37/91, S. 174). Was Haeberlin hier für die Schulversuche fordert, sollte sich nicht darin erschöpfen. Vorhandene Befunde müssen immer wieder aufs Neue hinterfragt und evaluiert werden. Das ist die Aufgabe der empirischen Wissenschaften.
Es erhebt sich daher die Frage, ob dies tatsächlich gelingt, ob auch die Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in Integrationsklassen gleich gut gefördert werden wie in traditionellen Regelklassen. Dazu gibt es verschiedene Theorien und Meinungen, von absolutem Vorteil der integrativen Erziehung über eine Pattstellung bis hin zu einer nachteiligen Leistungsentwicklung in Integrationsklassen. Skeptikerinnen und Skeptiker bezweifeln die Gleichwertigkeit der beiden Klassentypen und unterstellen, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit des Lehrpersonals auf sich ziehen und dadurch den Leistungsstand der gesamten Klasse, insbesondere aber jenen der Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf herabsetzen. Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf würden somit in Regelklassen mehr lernen als in Integrationsklassen.
Es ist nun das Ziel dieser Diplomarbeit zu überprüfen, ob der genannte, an Integration zweifelnde Vorwurf seine Berechtigung hat oder unter dem Titel „Vorurteil“ abgewiesen werden kann. Dazu wird das folgende Kapitel erst einmal darstellen, welche Untersuchungen zu diesem Thema bereits existieren, um danach die eigene empirische Untersuchung vorzustellen, zu analysieren, auszuwerten und die neuen Erkenntnisse zu interpretieren.
Sowohl in Deutschland als auch in Österreich begannen, angeregt durch Elterninitiativen, die ersten intensiven Bemühungen um integrative Beschulung in den frühen Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Das Interesse galt zuerst vorrangig den Kindern mit Behinderungen. Man wollte sie nicht mehr vom „normalen“ Leben aussperren (Recht auf Normalität). Sie sollten so wie im privaten Bereich auch in der Schule gemeinsam mit nicht behinderten Kindern leben und lernen. Im Laufe der Zeit mehrten sich jene Effizienzforschungen, die klar machen sollten, ob Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Sonderschulen oder in Integrationsklassen besser gefördert werden. Zum anderen war es ein Bedürfnis, schon im Kindesalter nicht behinderten Schülerinnen und Schülern erfahrbar zu machen, wie Menschen mit Behinderungen leben, was sie brauchen und wie man mit ihnen kommuniziert.
So waren die ersten Forschungsfragen auf das Befinden der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf gerichtet, doch schon bald danach interessierte auch das der nicht behinderten Kinder. Wie geht es ihnen in einer Integrationsklasse im Zusammenleben (emotionaler und sozialer Aspekt) und im gemeinsamen Lernen (kognitiver Aspekt) mit behinderten Kindern? Kommt die Integrationsklasse ihren Erziehungsaufgaben allen Kindern gegenüber – jenen, die sonderpädagogische Betreuung brauchen genauso wie jenen, die ohne diese zurechtkommen – nach?
In diesem Kapitel wird der historischen Entwicklung letztgenannter Forschung nachgegangen. Es werden in chronologischer Folge deren Meilensteine innerhalb des deutschsprachigen Raumes synoptisch dargestellt und die einschlägigen empirischen Untersuchungen von ihren Anfängen bis zum heutigen Stand skizziert.
Vor etwa zwanzig Jahren begann man in verschiedenen Städten Deutschlands mit der Erforschung des Leistungsstandards in Integrationsklassen. Als erste groß angelegte wissenschaftliche Untersuchung führte Hans Wocken ab dem Schuljahr 1983/84 in Hamburg seine Studien durch. Er begleitete dort die ersten Integrationsklassen in den Grundschulen.
Die hier beschriebene Testung fand in den beiden Schuljahren 1984/85 und 1985/86 statt und umspannte 13 erste Klassen, ausschließlich Integrationsklassen, und auf der zweiten Schulstufe sieben Integrationsklassen und sieben Regelklassen.
Die Klassenfrequenz in den Integrationsklassen betrug entweder 18 nicht behinderte Kinder plus zwei behinderte Kinder oder elf nicht behinderte Kinder plus vier behinderte Kinder. Diese Klassen-Zusammensetzung unterscheidet sich gravierend von jener der heutigen österreichischen Integrationsklassen! Die größte Gruppe der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf waren geistig behindert, die zweitgrößte Gruppe hatte Körper- oder Lernbehinderungen. Auch in diesem Punkt unterscheiden sich die Hamburger Klassen von den aktuellen österreichischen Integrationsklassen (hier überwiegen die Kinder mit Lernbehinderungen, während geistig behinderte Kinder nicht allzu häufig in Integrationsklassen zu finden sind), aber auch von den weiter unten beschriebenen Schweizer Integrationsklassen, welche – zumindest zur Zeit der Untersuchungen von Bless und Klaghofer - ausschließlich lernbehinderte Kinder integrierten. Und noch ein drittes Prinzip der hier untersuchten Integrationsklassen weicht ab von jenem, welches die aktuellen österreichischen Integrationsklassen kennzeichnet: In Hamburg waren für den Unterricht nicht nur zwei sondern drei Pädagoginnen oder Pädagogen zuständig, außer dem Grundschullehrer bzw. der Grundschullehrerin und der Sonderschullehrerin oder dem Sonderschullehrer wurden die Kinder auch noch von einer Erzieherin oder einem Erzieher versorgt (Wocken/Antor/Hinz 1988, S. 13).
Die Testleistungen der nicht behinderten Kinder im ersten Schuljahr verglich Wocken mit den Ergebnissen der Eichstichprobe eines standardisierten Tests. Im zweiten Schuljahr bildete er dann mit Hilfe der parallel geführten Regelklassen Kontrollgruppen. Getestet wurden die beiden Kulturtechniken Lesen und Rechnen.
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[1] SchUG … Schulunterrichtsgesetz
[2] SchOG … Schulorganisationsgesetz
[3] siehe Anhang: Interview mit Dieter Brosz!
[4] BGBl. … Bundesgesetzblatt