Masterarbeit, 2019
169 Seiten
1 Einleitung
1.1 Hinweise
2 Forschungsdesign
3 Die Persönlichkeitstheorie PSI von Kuhl
3.1 Intentionsgedächtnis (IG)
3.2 Intuitive Verhaltenssteuerungssystem (IVS)
3.3 Extensionsgedächtnis (EG)
3.3.1 Funktionsmerkmale des Selbst
3.4 Objekterkennungssystem (OES)
3.5 Modulationsannahmen
3.5.1 Positiver Affekt bahnt den Willen
3.5.2 Negativer Affekt hemmt das integrierte Selbst
3.6 Selbstkompetenzen
3.6.1 Selbstmotivierung
3.6.2 Selbstbremsung
3.6.3 Selbstentwicklung, Selbstwachstum
3.6.4 Selbstberuhigung
3.7 Beziehungen
3.8 Selbstkompetenzen und schulisches Lernen
3.8.1 Exekutive Funktionen
4 Lernkompetenz
5 Selbstwirksamkeit
5.1 Quellen der Selbstwirksamkeit
6 Selbstbild und Selbstkonzept
6.1 Begriffsklärung
6.2 Unterscheidung gemäss PSI-Theorie
6.3 Selbstkonzept
6.4 Selbstbild nach C. Dweck
6.4.1 Gegenüberstellung
6.4.2 Attributionen und Selbstwertgefühl
6.4.3 Wie wird das Selbstbild geformt oder beeinflusst?
6.4.4 Bezug zur PSI Theorie
7 Motivation
7.1 Selbstbestimmungstheorie
7.1.1 Grundbedürfnisse
7.1.1.1 Nach Deci und Ryan
7.1.1.2 nach Maslow
7.1.1.3 Im Zusammenhang mit PSI
7.1.2 Intrinsische und extrinsische Motivation
7.1.3 Verbindung zur PSI Theorie
7.1.4 Flow-Theorie
7.1.5 Zielorientierungstheorien
7.1.6 Interessentheorien
7.1.7 Neurologische Erkenntnisse zur Motivation
7.2 Was macht also Lernmotivation aus?
8 Resilienz
9 Was meint ‚bedeutungsvoll‘?
10 Lernen
10.1 Lernen ist persönlich
10.2 Lernen ist aktiv und konstruktiv
10.3 Lernen ist emotional
10.4 Lernen ist Einstellungssache
10.5 Lernen ist Beziehungssache
10.6 Lernen ist anstrengend
10.7 Lernen vernetzt, integriert und erweitert
10.8 Lernen ist speichern
10.9 Übung macht den Meister
10.10 Lernen im Schlaf
10.11 Lernen in der Schule
10.12 Erweiterter Lernbegriff
11 Unterstützende Elemente in der Schule
11.1 Die lernende Person
11.1.1 Autonomie
11.1.2 Selbstbestimmtes Lernen
11.1.3 Interessen
11.1.4 Bedeutung
11.1.5 Reflexion und Metakognition
11.2 Die lehrende Person und ihre Haltung
11.2.1 Paradigmenwechsel
11.2.2 Ressourcen und Stärken
11.2.2.1 Ressourcenorientierte Lernarrangements
11.2.3 Umgang mit Schwierigkeiten
11.2.4 Lernprozesse
11.2.5 Lernberatung, Coaching
11.2.6 Pädagogische Kompetenzen und Haltungen
11.3 Die Personen in der Klasse
11.3.1 Interaktion und Dialog
11.3.2 Anerkennungskultur
11.3.3 Feedback
11.3.4 Sicherheit
11.3.4.1 Klassenklima
11.3.5 Beziehung
11.3.6 Kooperatives Lernen
11.4 Unterricht und Curriculum
11.4.1 Personalisiertes Lernen
11.4.1.1 Formatives Assessment
11.4.2 Transparenz
11.4.3 Orientierung
11.4.4 Lebenswelt und Relevanz
11.4.5 Lernprozess
11.4.5.1 Arbeitstechniken und Lernstrategien
11.4.6 Lerntagebuch
11.4.7 Leistung, Erfolg und Fortschritt
11.4.7.1 Kompetenzraster
11.4.7.2 Lernfortschritte
11.4.7.3 Portfolio
11.4.7.4 Beurteilung
11.4.7.5 Noten
11.4.7.6 Fehlerkultur
11.5 Förderliche Lernumgebungen
12 Schule
12.1 Status Quo
12.1.1 Volksschulgesetz
12.1.2 Lehrplan Volksschule (St.Gallen)
12.1.2.1 Bildungsziele
12.1.2.2 Kompetenzen
12.1.2.3 Lern- und Unterrichtsverständnis
12.1.2.4 Kompetenzorientierter Unterricht
12.1.2.5 Beurteilung
12.1.2.6 Stundentafel
12.2 Fazit
13 Conclusio
14 Schlussbemerkungen
14.1 Rückblick
14.2 Ausblick
15 Summary
16 Literaturverzeichnis
17 Anhang
17.1 Buchtipps
17.1.1 Personorientierte Begabungsförderung
17.1.2 Eine starke Reise mit der Klasse
17.1.3 Die Kraft aus dem Selbst
17.1.4 Denkbilder
17.1.5 Exekutive Funktionen
17.1.6 Kooperatives Lernen
17.1.7 Dialogisches Lernen
17.2 Verschiedenes
17.2.1 Bildungs- und Lerngeschichten
17.2.2 Brainology
18 Stichwortverzeichnis
19 Quellenverzeichnis
Die vorliegende Masterarbeit zeigt die gegenseitige Beeinflussung von Persönlich-keit und Lernen auf. Als Grundlage zum Verständnis der Handlungs- und Verhaltenssteuerung dient die Persönlichkeits-Interaktions-Theorie von Kuhl. Im Weiteren werden Konzepte der Selbstmotivation, des Selbstkonzepts oder des Selbstbildes vorgestellt. Auf der anderen Seite wird der Lernbegriff ausgeführt.
Diese beiden Stränge werden verknüpft und daraus förderliche Elemente für bedeu-tungsvolles Lernen in der Schule abgeleitet. Eine Analyse des neuen Volksschul-lehrplans (Lehrplan21) und des Volksschulgesetzes zeigt auf, inwiefern diese Elemente im vorgegebenen Rahmen umsetzbar sind.
Die als Literaturrecherche konzipierte Arbeit zeigt auf, dass das Lernen an sich (das in engem Verhältnis zur lernenden Person steht) in den Fokus des Unterrichts rücken muss. Deshalb richtet sich die vorliegende Masterarbeit an Personen, die im Unterricht oder in der Schulentwicklung tätig sind.
Abbildung 1: Übersicht und Aufbau der Arbeit
Abbildung 2: IG
Abbildung 3: IVS
Abbildung 4: EG
Abbildung 5: OES
Abbildung 6: vier Systeme der Persönlichkeits-Interaktions-Theorie
Abbildung 7: Modulation EG-OES
Abbildung 8: Modulation IG-IVS
Abbildung 9: Selbstmotivation nach Kuhl
Abbildung 10: exekutive Funktionen
Abbildung 11: Lernkompetenz nach Solzbacher
Abbildung 12: Münchner (Hoch)Begabungsmodell
Abbildung 14: Selbstwirksamkeitserwartungen
Abbildung 15: Quellen der Selbstwirksamkeitserwartung
Abbildung 16: Entwicklungszyklus der Selbstwirksamkeit
Abbildung 17: Persönlichkeit (nach Martschinke)
Abbildung 18: Selbstbild und Selbstkonzept
Abbildung 19: hierarchisches Selbstkonzeptmodell nach Shavelson
Abbildung 20: co-kognitive Fähigkeiten nach Renzulli
Abbildung 21: Attributionen nach Weinert
Abbildung 22: Selbstbild und PSI
Abbildung 23: Dynamisches Bedürfnismodell
Abbildung 24: Selbstbestimmungstheorie
Abbildung 25: Kontinuum der Motivationen
Abbildung 26: Meisterung oder Hilflosigkeit
Abbildung 27: Quellen der Lernmotivation
Abbildung 28: Kreisläufe des Lernens (nach Butterworth)
Abbildung 29: erfolgreiches Lernen
Abbildung 30: Kontinuum Resilienz - Vulnerabilität
Abbildung 31: Informationsverarbeitungskapazität
Abbildung 32: Beziehungen – verschiedene Ebenen
Abbildung 32: Gedächtnissysteme
Abbildung 34: erweiterter Lernbegriff nach Bohl
Abbildung 35: Bereiche
Abbildung 36: Kreislauf intrinsische Motivation - Bedürfnisse
Abbildung 37: durch Metakognition zu bewusstem Lernen
Abbildung 38: Lernprozess nach Brüning und Saum
Abbildung 39: Bloom'sche Taxonomie
Abbildung 40: Schrittfolge der Entwicklungsberatung
Abbildung 41: Anerkennungskultur
Abbildung 42: Spannungsfeld der Beziehung L-S
Abbildung 43: Feedback nach Hattie
Abbildung 44: Klassenklima
Abbildung 45: Dreischritt im Kooperativen Lernen
Abbildung 46: persönlicher Lernweg
Abbildung 47: Bezugsnormen
Abbildung 48: Motivationsmodell MUSIC
Abbildung 49: Kompetenzbegriff nach Weinert
Abbildung 50: Lernen und Persönlichkeitsentwicklung
Mit Ausnahme von Abbildung 23 habe ich alle Abbildungen mit der App Publisher Master selber erstellt.
Tabelle 1: Einflussfaktoren auf Leistung
Tabelle 2: Gegenüberstellung statisches - dynamisches Selbstbild
Tabelle 3: wichtige pädagogische Kompetenzen
Geht es in der Schule primär um Klassen und Fächer oder um Personen, die gemeinsam mit Lernen beschäftigt sind? Lehrende und Lernende verbringen sehr viel Zeit in der Schule. Da muss es um mehr gehen als um die Vermittlung der Kommaregeln. Und noch weniger darf sich alles prioritär um Noten drehen. Mit diesen Fragen setze ich mich schon lange auseinander, und ich habe mir im Laufe meines schon bald 30jährigen Lehrerlebens eine eigene Meinung gebildet. Das Thema, dem ich in dieser Arbeit nachgehe, ist für mich so etwas wie die Sinnfrage schulischen Tuns. Im Rahmen dieser Arbeit habe ich nun die Gelegenheit mich noch tiefer und professioneller in die Materie einzuarbeiten.
In der Folge führe ich einige Zitate auf, denen ich im Verlaufe meiner Recherchen begegnet bin. Sie alle verweisen auf den Zusammenhang zwischen den Polen Lernen, Bildung, Schule auf der einen und Selbst, Persönlichkeitsentwicklung auf der anderen Seite. Welche Rolle spielt das Selbst im Lernprozess?
„Bildung meint die Entwicklung der ganzen Person mit ihren Werthaltungen, ihren kreativen Potenzialen und der Fähigkeit, eigenverantwortlich zu handeln.“ (Kuhl et al. 2011)
„Genau dieses Selbst mit seinen wissenschaftlich erforschten Funktionen hält viele pädagogische Handlungsoptionen bereit […].“ (Künne et al.)
Das Team um Schwer (et al. 2011, S. 51) formuliert: „Unserer Überzeugung nach kann kein Lernen ohne Beteiligung des Selbst (und dem damit verbundenen authentischen Zugang zu eigenen Interessen, Emotionen und Erfahrungen) stattfinden.“
Warnecke (2011, S. 113) verweist auf Gebauer und Hüther, denn „für sie sind vertrauensvolle, menschliche Beziehungen nicht nur ausschlaggebend für die Persönlichkeitsentwicklung, sondern auch die entscheidende Voraussetzung für die Aneignung von Erziehung und Bildung.“
„Lernen können und müssen die Lernenden selbst.“ (Spitzer 2003)
Deci und Ryan (1993, S. 233) haben sich auch Gedanken zum Lernen gemacht. Sie „gehen davon aus, dass hochqualifiziertes Lernen nur durch ein vom individuellen Selbst ausgehenden Engagement erreicht werden kann. Mit anderen Worten: Effektives Lernen ist auf intrinsische Motivation und/oder integrierte Selbstregulation angewiesen.“
Hellmich und Günther (2011, S. 19) beginnen ihren Beitrag mit folgenden Sätzen: „Als ein zentrales Bildungsziel der Grundschule gilt – neben der Förderung von Kompetenzen in den domänenspezifischen Lernfeldern […] die Unterstützung bei der Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung. Hierzu zählen beispielsweise der Umgang mit eigenen Emotionen, der produktive Umgang mit Erfolgen und Miss-erfolgen bei Lehr-Lernprozessen sowie die Entwicklung von Kompetenz-bewusstsein.“
„Denn das Selbstkonzept bildet den Kern der Persönlichkeit, und die Förderung des Selbstkonzepts stellt so einen wichtigen Bestandteil der Persönlichkeitsförderung dar – und diese ist eine der zentralen Säulen grundlegender Bildung. (Renner et al. 2011, S. 248)
Roth (2014, Pos. 327) zitiert den Pädagogen J.F. Herbart mit der Forderung: „Machen, dass der Zögling sich selbst finde, als wählend das Gute, als verwerfend das Böse: Dies oder nichts ist Charakterbildung! Dies Erhebung zur selbst-bewussten Persönlichkeit soll ohne Zweifel im Gemüte des Zöglings selbst vorgehen und durch dessen eigene Tätigkeit vollzogen werden; es wäre Unsinn, wenn der Erzieher das eigentliche Wesen der Kraft dazu erschaffen und in die Seele eines anderen hineinflössen wolle.“
Roth beschreibt, dass die fürs Lernen so wichtigen Persönlichkeitsfaktoren nicht bei allen Menschen gleich ausgeprägt sind, dies auch gesehen in einer zeitlichen Entwicklung. „Mehr denn je ist es also die Aufgabe der Lehrenden, den Lernenden bei der Ausbildung bzw. Weiterentwicklung der genannten Persönlichkeits-eigenschaften zu helfen.“ (Roth 2016, Pos. 10245)
Diese Zusammenstellung macht schon deutlich, dass Lernen und Persönlichkeits-entwicklung nicht getrennt sind. Primäres Ziel dieser Arbeit ist es, dass sich für mich der Sinn von Schule schärft. Als Schulischer Heilpädagoge habe ich in unserer kleinen Schule mit allen Lehrpersonen und allen Kindern zu tun, bin in jeder Kommission und sitze als Lehrervertreter im Schulrat. Ich habe also sehr viele Gelegenheiten meine Meinung kund zu tun. Diese wird geprägt sein von den Erkenntnissen, die sich in dieser Arbeit ergeben.
Kursiv geschrieben sind Ergänzungen oder Erläuterungen aus der Schulpraxis.
Die Fussnoten beziehen sich auf Bereiche, in denen die Schule bedeutungsvolles Lernen unterstützen könnte.
Querverweise (-), die die Vernetzung der Thematik aufzeigen, können in der pdf-Version angeklickt werden.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Lernen und Persönlichkeit? Diese Frage würden die meisten Leute spontan mit ja beantworten. Ich wollte aber genauer und theoretisch fundiert wissen, wie diese beiden Begriffe zusammenhängen. Deshalb habe ich mich methodisch für eine Literaturrecherche entschieden.
Wenn nun Lernen und Persönlichkeit miteinander zu tun haben, dann spielt sich Schule in dieser Schnittmenge ab. Die anschliessende Forschungsfrage lautet für mich deshalb:
Wie kann die Schule bedeutungsvolles Lernen unterstützen?
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Um diese Frage beantworten zu können, besteht diese Arbeit aus mehreren Ebenen.
Die Ebene 1 befasst sich mit der Persönlichkeits-System-Interaktions-Theorie von Kuhl. Die PSI-Theorie bildet quasi das Fundament, weil man hier den zentralen Begriff Selbst verorten kann.
Auf der Ebene 2a sind Theorien und Konzepte angesiedelt, die sich näher mit einzelnen Facetten des Selbst befassen. Einerseits werde ich auf diese Theorien eingehen, andererseits werde ich Brücken schlagen zwischen diesen ergänzenden Konzepten mit dem Fundament, aber auch mit der Schule und dem Lernen.
Mit dem Lernbegriff setze ich mich auf der Ebene 2b auseinander. Hier werde ich auch ausführen, was ich unter bedeutungsvollem Lernen verstehe.
Wo immer ich eine Beziehung sehe zu einem unterstützenden Element der Schule, habe ich eine Fussnote eingefügt. Auf diese Elemente werde ich auf der 3. Ebene näher eintreten. Wie können wir in der Schule eine Lernwelt gestalten, in der sich das Selbst entfalten kann, so dass Lernen wirkungsvoll und nachhaltig wird?
Auf der 4. Ebene kläre ich ab, inwieweit das Volksschulgesetz und der neue Lehrplan 21 es erlauben, ermöglichen oder eventuell erschweren, die oben erwähnten Elemente im Schulalltag anzuwenden.
In der Conclusio werde ich dann die Forschungsfrage beantworten.
Kuhl hat verschiedene Persönlichkeitstheorien in Verbindung mit psychologischen und neurobiologischen Forschungsergebnissen integriert in seine PSI-Theorie. Er beschreibt in eben dieser Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktionen vier psychische Systeme, deren Wechsel- und Zusammenspiel Verhalten verursacht. Denken und Handeln, Emotionen und das Selbst als Kern der Persönlichkeit werden vernetzt. Das Spezielle an der Theorie von Kuhl ist die Hervorhebung der Interaktionen zwischen den Systemen.
Die vier Teilsysteme, die in den folgenden Kapiteln näher ausgeführt werden, sind:
- das Intentionsgedächtnis (IG), oder auch Arbeitsgedächtnis oder Verstand
- die intuitive Verhaltenssteuerung (IVS)
- das Extensionsgedächtnis (EG), das auch das Selbst beinhaltet; Erfahrungsgedächtnis
- das Objekterkennungssystem (OES), oder auch Fehler-Zoom
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Im Intentionsgedächtnis sind Vorhaben und Absichten abge-legt, deren Umsetzung aber nicht zu einfach ist, wo Hinde-rnisse überwunden oder Probleme gelöst werden müssen. Deshalb sind Nachdenken und Planen gefragt, also bewusste, analytische, sequentielle, logische Prozesse. Die Ausführung wird also erstmal zurückgestellt und die Intuitive Verhaltens-steuerung gehemmt. Wäre das nicht der Fall, würde man vorschnell und unüberlegt agieren. Das bedeutet also, dass das Intentions-gedächtnis in einem Widerstreit steht zur Intuitiven Verhaltenssteuerung.
Bei hyperaktiven Kindern funktioniert oft genau diese Hemmung nicht. Sie handeln impulsiv und können sich nur schwer selber steuern.
Es gibt aber auch das Gegenteil, dass nämlich die Hemmung nicht aufgehoben werden kann. Man schiebt das Vorhaben vor sich her. Und jeder unerledigte Vorsatz verstärkt die Ausführungshemmung, so dass man sich immer weniger vornimmt.
Die meisten von uns wissen, dass ein noch so gut gemeinter Vorsatz leicht gefasst aber oft nicht (leicht) umgesetzt wird (Stichwort Neujahr). Es braucht deshalb ein verhaltenssteuerndes System, das die Ausführungsenergie zur Verfügung stellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wie es der Name schon ausdrückt, ist die intuitive Verhaltens-steuerung aktiv, wenn automatisierte Handlungen ausgeführt werden. Es geht weniger um Planung als vielmehr um ‚unbewusstes’ Abspulen von Routinen. Wenn wir Auto fahren, handeln wir weitgehend intuitiv. An diesem Beispiel wird sehr gut die enorme Leistungsfähigkeit dieses Systems gezeigt, denn es muss Handlungsabläufe (schalten, bremsen), Verhaltensroutinen (Blick in den Rückspiegel) und oft unbewusste Wahrnehmungen (Bremslichter leuchten auf) koordinieren. Dieses System arbeitet oft so gut, dass wir uns nach der Fahrt durch die Stadt zum Arbeitsplatz an keine Details mehr erinnern.
Das Intuitive Verhaltenssteuerungssystem ist aber nicht nur aktiv, wenn es um die Ausführung von Routinen geht. Es ‚springt auch an’, wenn die Gelegenheit günstig ist um ein Vorhaben umzusetzen. Und es ist zuständig für die konkrete, kontext-gebundene Ausführung der eher abstrakten Absicht.1
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
“Das Extensionsgedächtnis ist ein ganzheitliches Erfahrungs-system, das den Überblick über alle Lebenserfahrungen liefert, die in der momentanen Situation relevant sein könnten, der wegen der immensen Ausdehnung aller gleichzeitig berücksichtigten Erfahrungen nicht vollständig bewusst werden kann.“ (Kuhl 2005) Das Extensionsgedächtnis ist ein Netzwerk von Erfahrungen, Gefühlen, Handlungsoptionen und selbst erlebten Situationen; es ist die gesammelte Lebenserfahrung, der Erfahrungsschatz.
Das Selbst ist ein integrierendes, parallel arbeitendes System, das Erfahrungen hinsichtlich der Bedeutung für die Person speichert und nutzt. „Als Selbst gilt in der PSI-Theorie der Anteil des Erfahrungsgedächtnisses, der sich auf die eigene Person bezieht, mitsamt all ihren Bedürfnissen, Ängsten, Vorlieben, Werten und bisherigen Erfahrungen.“ (Storch und Kuhl 2016)
Wenn das Extensionsgedächtnis aktiviert ist, dann steht nicht nur der gesamte Erfahrungsschatz zur Verfügung, dann ist das System auch in alle Richtungen offen für neue Eindrücke. Es wird so viel gleichzeitig verarbeitet und ‚zur Verfügung gestellt‘, dass man das meiste nicht trennen und versprachlichen kann. Deshalb passt das Wort ‚Fühlen’ gut in diesen Kontext. Das Extensionsgedächtnis kann auch negative Gefühle integrieren, „wenn gesichert ist, dass die Gesamtbilanz positiv bleibt.“ (Kuhl 2005)
Ohne eine fest verankerte emotionale Basis, die die eigene Existenz ohne Vorbedin-gungen bejaht und mit positiven Gefühlen verknüpft, kann das EG sein Wahrhaftigkeits-potenzial nicht ausschöpfen, sondern muss schmerzhafte Erfahrungen „verdrängen“, damit sie nicht die Selbstwahrnehmung nachhaltig eintrüben. Verfügt das Selbst aber über eine unerschütterliche positive Gefühlsbasis, dann vermittelt der Zugang zur Selbst-wahrnehmung, die ja zu den Aufgaben des Extensionsgedächtnisses gehört, ein enormes Potenzial für die Einbindung und Bewältigung auch schwieriger Gefühle. (Kuhl 2005)
Die meisten Schülerinnen oder Schüler erleben auch Enttäuschungen und Frustrationen. Und wie oben erwähnt ist es sehr wichtig, dass das Kind ‚Urvertrauen’ hat, dass es weiss, dass es bedingungslos geliebt wird. Hier spielt das Elternhaus eine grosse Rolle, aber auch die Lehrpersonen tragen viel zu dieser Vertrauensbasis bei. Man darf auch nicht alle Arten von Druck und Stress oder Schwierigkeiten und Problemen von den Kindern fernhalten. Wichtig ist, dass man ihnen zeigt, wie man mit solchen unangenehmen Situationen umgehen kann.2
Menschen machen Erfahrungen, ständig, und diese Erfahrungen nähren das Selbst. Was man in der Vergangenheit erlebt und erfahren hat, das wirkt ins aktuelle Verhalten hinein.
Bei ihren Entscheidungen lassen sich die Menschen – ohne es zu wissen – von unbe-wussten Erfahrungen, Gefühlen und der damit verbundenen selektiven Wahrnehmung der Umwelt manipulieren. In die Entscheidungen (und damit ins Verhalten) ‘geht die gesamte bewusste und unbewusste kognitive und emotionale Vorerfahrung eines Menschen ein […]. (Müller 2013, S. 48)
Storch und Kuhl (2016) erwähnen in ihrem Buch „Die Kraft aus dem Selbst„ sieben Funktionsmerkmale des Selbst.
- Das Selbst ist stark vernetzt mit Gefühlen und bindet auch Körperwahr-nehmungen ein. Storch erwähnt Forschungen, die ergeben haben, dass Signale des Körpers Botschafter der Gefühle sind (somatische Marker, nach Damasio).
- Viele Informationen und Gefühle werden parallel verarbeitet und nicht sequentiell, wie durch den Verstand. Es werden auch gegensätzliche Dinge berücksichtigt, denn es gilt das sowohl-als-auch-Prinzip. Das ergibt in Bruch-teilen von Sekunden eine viel breitere Entscheidungsgrundlage.
- Affekte werden reguliert, ohne dass andere Bezugspersonen benötigt werden.
- Durch die innere Sicherheit kann das Selbst auch bei belastenden Erfahrungen wieder auf die eigenen positiven Kräfte zurückgreifen. Die Basis für dieses elementare Merkmal wird schon beim Lebensanfang gelegt (Urvertrauen) und nachher ausgebaut. Bauer (2016) erklärt in seinem Gespräch über beziehungsorientierte Pädagogik, dass die Kinder in den ersten Monaten körperlich und emotional erleben müssen, dass sie sich in einem wohlwollenden System befinden. Durch diese verinnerlichte Liebe werden im Kleinkind Anti-Stress-Blockaden abgebaut. Später entwickeln sich Quellen wie die Selbstwirksamkeit (Ich kann etwas bewirken. è 5) oder das Kohärenzgefühl (Mein Leben, meine Bedürfnisse, meine Erfahrungen bilden ein passendes Ganzes.) „Nur wer innere Sicherheit entwickelt hat, kann es sich leisten, auch Fehler und negative Erfahrungen an sich heranzulassen, um aus ihnen lernen zu können. (Storch und Kuhl 2016, Pos. 702)
- Das Selbst steuert unbewusst und lässt sich nur schwer direkt vom Verstand kontrollieren.
- Das Selbst wertet die Auswirkungen des eigenen Handelns vor allem auf-grund von körperlich gespürten Rückmeldungen aus. Dieses Feedback wird sofort wieder in die Parallelverarbeitung eingespeist und führt unter Umständen zu einer Verhaltensänderung.
- Im Hintergrund des Bewusstseins wirkt die Wachsamkeit. Dies ist eine besondere Form der Aufmerksamkeit, denn „sie beschränkt sich nicht nur auf den aktuellen Handlungskontext, sondern sie überwacht sämtliche persönlich relevanten Informationen.“ (Storch und Kuhl 2016, Pos. 1121)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wenn nicht das grosse Ganze wichtig ist, sondern das Detail, dann ist das Objekterkennungssystem aktiv. Es richtet den Fokus auf Einzelheiten, die aus dem Ganzen herausragen, also vor allem Fremdes, Unerwartetes oder Fehler. Storch und Kuhl (2011) bezeichnen es darum manchmal auch als „Fehler-Zoom“. Das Objekterkennungssystem ist vor allem aktiv, wenn eine ängstliche Stimmung herrscht oder Gefahr droht.
Das Objekterkennungssystem fungiert auch als ‚Quarantäne-Schleuse’ für Erfahrungen, die momentan zu viele negative Emotionen hervorrufen. Abwehr-mechanismen wie Verdrängen übernehmen eine Selbstschutzfunktion. In einer beruhigten Phase kann diese Erfahrung dann verarbeitet werden. Die Objekt-erkennung löst Einzelwahrnehmungen aus dem Zusammenhang, befreit sie von allzu grosser negativer Konnotation, verallgemeinert sie und ist so Zulieferer für das Extensionsgedächtnis.
Wenn das Objekterkennungssystem in gewissen Situationen nicht gehemmt werden kann, dann verliert der Schüler die Übersicht, den roten Faden.
Es besteht auch die Gefahr, dass man zu sehr auf Fehler und Bedrohliches fokussiert ist.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wie schon in der Einleitung dieses Kapitels erwähnt, werden Handlungen durch das Zusammenspiel dieser vier Systeme ausgelöst. Zudem zeigt sich eine Wechsel-wirkung zwischen der Aktivierung einzelner Systeme und der Affekte und Stimmungen. Kuhl hat dazu Modulationsannahmen formuliert.
Affekte, Emotionen und Stimmungen können sowohl die Aktivierung psychischer Systeme als auch den Informationsaustausch zwischen ihnen beeinflussen. (Storch und Kuhl 2016, Pos. 354)
Die Affekte können einerseits von aussen, also durch andere Personen verändert werden (Trost, Aufmunterung), andererseits ist es von Vorteil und deshalb anzu-streben, dass man die Affektregulation aus sich selbst schafft – also Selbst-steuerung. Und das bedeutet im Wortsinne, dass das Selbst die Gefühle reguliert.
„Die Intuitive Verhaltenssteuerung, die zur Umsetzung aller im Intentionsgedächtnis gespeicherten Absichten notwendig ist, wird durch positiven Affekt aktiviert.“ (Kuhl 2005, S. 10). Diesen Prozess, der das Intentionsgedächtnis IG mit der Intuitiven Verhaltenssteuerung verbindet, nennt man „Willensbahnung“ (Kuhl et al. 2014, S. 94). Ohne vorgefasste Absicht erleichtert eine positive Stimmung das intuitive, spontane und flexible Handeln in der aktuellen Situation.
„Schwierige oder unangenehme Absichten behält man nur im Gedächtnis, wenn man den Verlust von positivem Affekt, den jede schwierige oder unangenehme Situation mit sich bringt, eine Weile aushalten kann.“ (Kuhl 2005, S. 10) Wenn also das Intentionsgedächtnis aktiv ist – also in Phasen des Nachdenkens, Analysierens und Planens – wird der positive Affekt gedämpft. Diesen Zusammenhang muss die Person aushalten. Kuhl und andere (2014, S. 94) sprechen hier auch von „Frustrationstoleranz“.
Um eine Absicht in die Tat umzusetzen, muss man die Umsetzungshemmung überwinden. Die dafür nötige Handlungsenergie bekommt man durch Ermutigung von aussen oder durch die Fähigkeit sich in eine positive Stimmung zu versetzen. Das gelingt einem, wenn man sich dafür motivieren kann. Diese wichtige Selbst-kompetenz wird „Selbstmotivierung„ (Kuhl et al. 2014, S. 95) genannt.
Eine positive Grundstimmung an sich reicht aber noch nicht aus, denn im Intentions-gedächtnis muss ja zuerst eine Absicht hinterlegt sein, bevor sie umgesetzt werden kann.
Es reicht für eine tadellose Arbeitshaltung also nicht aus, wenn der Schüler gerne in die Schule geht und sich wohl fühlt. Er muss in seinem Intentionsgedächtnis verankert haben, dass er während den Arbeitsphasen zielgerichtet arbeiten will. Zudem muss er um die bevorstehende Anstrengung wissen und sie annehmen.
Dazu hat (Kuhl 2005, S. 10) einen praktischen Tipp, den er „Pendelübung“ nennt.
Erst führt man sich vor Augen, wie schön es wäre, wenn man die Absicht umgesetzt hätte, dann denkt man über das Ziel und die zu überwindenden Schwierigkeiten nach (man lädt das Absichtsgedächtnis), dann pendelt man in der Phantasie wieder zu positiven Gefühlen (z. B. wenn man an das schöne Gefühl denkt, das sich einstellt, wenn man es erledigt hat) und zum Schluss pendelt man wieder zurück zu der schwierigen Absicht.
Es gibt einen Zusammenhang zwischen Zufriedenheit und Leistung. Ein gutes Gefühl stellt sich ein bei Erfolg – und für Erfolg muss man etwas tun. Um die Schwelle zwischen Wunsch und Leistung, zwischen Ziel und Handlung zu überwinden, braucht es Willen, auch volitionale Stärke genannt. Volition ist „die Überwindung von Unlustgefühlen oder anderen Handlungsbarrieren durch eine willentliche, gezielte Steuerung von Gedanken, Motiven, Emotionen und Handlungen zur Zielerreichung.“ (Müller 2013, S. 85)
Eine deutlich schlechte Grundstimmung hemmt den Zugang zum Extensions-gedächtnis mit seinem ganzen Erfahrungsschatz. Zudem geraten negative Situationen in den Fokus (Fehler-Zoom). Wenn man also belastet oder gestresst ist, dann tendiert man dazu, nur noch das wahrzunehmen, was die schlechte Stimmung auslöst. Man verliert den Abstand zur Situation und somit den Überblick. Dadurch gerät man in einen Teufelskreis. „Die Herauslösung einzelner Objekte aus ihrem Zusammenhang und die Beachtung von Unstimmigkeiten und Fehlern wird durch negativen Affekt verstärkt.“ (Kuhl 2005, S. 12)
Um wieder handlungsfähig zu werden, muss man sich emotional so beruhigen können, dass man wieder Zugang findet zum Extensionsgedächtnis mit seinen Lösungsmöglichkeiten.
Wenn es gelingt, negativen Affekt aktiv wieder unter eine kritische Schwelle zu regulieren, dann spürt man sich selbst wieder stärker, wird also ganz wörtlich „selbst-bewusster“ und hat dann den ausgedehnten Überblick über die vielen Erfahrungen, Handlungsmöglich-keiten, kreativen Einfälle und sinnstiftenden Einsichten, die das Extensionsgedächtnis anzubieten hat. (Kuhl 2005, S. 12)
Dieses Gefühl kennen sicher viele Lehrpersonen im Umgang mit verhaltens-auffälligen Schülern oder Schülerinnen. Man wird völlig von den Auffälligkeiten vereinnahmt, man erwartet sie förmlich, man reagiert wieder falsch, man weiss keinen Ausweg. Und wenn man im Lehrerzimmer den Kolleginnen sein Leid klagt, und wenn diese weitere Episoden desselben Stücks beisteuern, dann wird man diese Schwierigkeit auch nicht überwinden können. Man muss einen Schritt zurücktreten und den Horizont erweitern oder die Perspektive ändern. Palmowski (2007, S. 11) schreibt in der Einleitung zu seinem Buch, das systemische Beratung im schulischen Kontext unterstützt: „Ziel und Anstoss dieses Buches ist es, vom Stein des Anstosses zum Anstoss des Steines zu kommen und so den Stein wieder ins Rollen zu bringen.“
Auch Prüfungsangst fällt in dieses Muster. Die Schülerin ist so von Angst erfüllt, dass der Zugang zum abgefragten Wissen verschüttet ist.
Aus den bisherigen Ausführungen geht hervor, dass man möglichst schon als Kind lernen sollte, mit Gefühlen umzugehen und Affekte zu steuern oder ‚zu machen’. Das willentliche Handeln braucht Affektregulation.
Die Effektivität und Nachhaltigkeit des Lernens selbst hängt maßgeblich von einigen persönlichen Kompetenzen (auch Selbstkompetenzen genannt) ab, die wir als wichtigen Teil der Persönlichkeit ansehen (Kuhl et al. 2011)
Ein angelegtes Potenzial entfaltet sich durch Lernen in Leistung. Und Lernen ist eine sehr persönliche Angelegenheit, denn eigene Fähigkeiten sind es (unter anderem), die diesen Prozess beeinflussen. Die PSI-Theorie nennt sie Selbst-kompetenzen. Die Selbstregulation sorgt im Idealfall dafür, dass zur Bewältigung einer Aufgabe immer die geeigneten Kompetenzen eingesetzt werden.
Kuhl hat mit seiner Osnabrücker Persönlichkeitsforschung bereits etwa hundert Selbstkompetenzen ermittelt. Beispiele dafür sind hier aufgezählt und teilweise in den nächsten Kapiteln beschrieben.
- Selbstmotivierung
- Selbstbremsung, Umsetzungshemmung
- Selbstberuhigung
- Selbstentwicklung
- Selbstkonfrontation
- Absichten in Taten umsetzen, Intentionsausführung
- Planung
- Aufmerksamkeit aufrechthalten
- Leistungsziele ins Selbst integrieren
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die ersten der genannten Fähigkeiten gehören zur Selbststeuerung. Selbstkom-petenzen können nicht per Instruktion vermittelt werden, sie entwickeln sich im Selbst der Schülerinnen und Schüler im Kontakt mit dem Selbst der Lehrperson.
Durch Selbstmotivierung generiert man die positive Stimmung, die nötig ist, um Absichten (die vielleicht mit Schwierigkeiten oder Anstrengungen verbunden sind) in die Tat umzusetzen. Einen Ansatz dazu findet man im Extensionsgedächtnis, in dem die Erfahrungen mit ähnlichen Problemen abgelegt sind. Es müssen nicht zwingend eigene Lösungen vorhanden sein, es helfen auch ‚gute Beispiele’. Der Zugriff auf die „gesammelte Lebenserfahrung […] ermöglicht einzuschätzen, ob man einer Aufgabe gewachsen ist oder nicht, ob ein Ziel realistisch ist oder nicht und welche konkreten Handlungsmöglichkeiten Erfolg versprechend sind.“ (Kuhl 2011)3
Schwarzer und Jerusalem (2002, S. 37) sehen einen engen Zusammenhang zwischen Selbstregulation und Selbstwirksamkeit, denn „immer dann, wenn es um selbstregulative Zielerreichungsprozesse geht, spielen Selbstwirksamkeits-erwartungen eine wesentliche motivationale und volitionale Rolle.“ (è 5) Die Motivationsphase umfasst dabei den Start, das In-Angriff-nehmen, den ersten wichtigen Schritt. Nicht weniger wichtig ist die Volitionsphase, die auch mit der Selbstwirksamkeit zusammenhängt. Hier geht es nämlich darum, dran zu bleiben, Ausdauer aufrecht zu halten, Ablenkungen zu widerstehen, das Ziel fest im Auge zu behalten.
Deutlich wird dabei, dass Motivation zur (Hoch-)Leistung letztlich auf eigenen Entschei-dungen (Volition) der Lernenden basiert und diese in Abwägung der Erwartungen oder Risiken aufgrund der eigenen Lerngeschichte und in enger Verbindung mit dem eigenen Selbstkonzept, der Vorstellung von den eigenen Fähigkeiten und der Erreichbarkeit von Zielen getroffen wird. (Müller-Oppliger in Weigand et al. 2014, S. 73)
Schwarzer und Jerusalem belassen es aber nicht bei der Feststellung eines Zusammenhanges, sie formulieren sogar eine Abhängigkeit.
Selbstwirksamkeit bzw. optimistische Selbstüberzeugung stellt somit einen Schlüssel zur kompetenten Selbstregulation dar, indem sie ganz allgemein das Denken, Fühlen und Handeln sowie – in motivationaler wie in volitionaler Hinsicht – Zielsetzung, Anstrengung und Ausdauer beeinflusst. (Schwarzer und Jerusalem 2002, S. 37)
Wenn man dieses Wechselspiel zwischen den Systemen genauer anschaut, dann kann man daraus allenfalls Ansatzpunkte für die Förderung von Motivation finden. Fehlt überhaupt schon eine Absicht oder ist die Grundstimmung mehrheitlich negativ? Hat man schon mal ähnliche Schwierigkeiten überwunden und als Lösungsmöglichkeiten im Erfahrungsschatz abgelegt? Kennt man das gute Gefühl, etwas geschafft zu haben, so dass man sich darauf freuen kann?
Es ist also ganz entscheidend, wie bzw. womit das Extensionsgedächtnis gefüllt wird. Hier fällt der Familie, aber auch der Schule, eine ganz besondere Rolle zu. Darauf werde ich im Kapitel 3.7 näher eingehen. Man kann aber schon voraus-nehmen, „dass Beziehungserfahrungen im Kontext von Herausforderungen besonders wichtig für die Entwicklung von Motivation sind.“ (Strehlau und Künne 2011, S. 33)
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Diese Kompetenz erlaubt es – wie der Name schon sagt – innezuhalten und nachzudenken und nicht sofort zu handeln. Man muss die oftmals euphorische Stimmung dämpfen und in einen neutralen Affekt kommen. Impulsives Handeln verhindert, dass Vorsätze im Absichtsgedächtnis abgelegt bzw. aufrecht gehalten werden.
In der Schule begegnen wir häufig Kindern, denen es an genau dieser Selbst-bremsung mangelt. Sie handeln impulsiv, sie beginnen mit der Lösung bevor sie die Aufgabe ganz durchdacht haben, sie lesen den Auftrag nicht (genau) durch, sie schwatzen drein ohne sich zu melden u.v.m.
Die Selbstbremsung steht natürlich auch im Zusammenhang mit den exekutiven Funktionen (è 3.8.1).
Bei schmerzhaften Erlebnissen, Enttäuschungen oder Frustrationen entsteht ein negativer Affekt, und die Aufmerksamkeit verengt sich auf das verursachende ‚Objekt‘ (Objekterkennung). Es kann sein, dass man in diese Verengung ‚gesogen’ wird und aus dem Teufelskreis ausbrechen muss. Es ist aber auch möglich (und oftmals nötig), dass man sich der unangenehmen Erfahrung stellen und sie genau betrachten muss.
Diese Erlebnisse bzw. Ergebnisse müssen dann in Kontakt gebracht werden mit der Lebenserfahrung (Extensionsgedächtnis), und dadurch relativieren sie sich. Die Situationen werden so verarbeitet und werden Bestandteil der Erfahrung. Diesen Prozess nennt Kuhl Selbstentwicklung.
Basis dafür ist einerseits eine Begleitung innerhalb einer liebevollen zwischen-menschlichen Beziehung oder das schon erlebte Urvertrauen und die sich daraus entwickelnde innere Sicherheit (è 3.7). „Die innere Sicherheit beruht auf der Fähigkeit, auch bei Konfrontation mit negativen Erfahrungen das Vertrauen in die Wiederherstellbarkeit positiver Gefühle nicht zu verlieren.“ (Kuhl 2011)
Andererseits gelingt diese Verbindung aber nur, wenn man die negativen Emotionen herunterregulieren kann. Es besteht im Falle von schmerzlichen Erfah-rungen, die ins Selbst integriert werden sollen, also ein enger Zusammenhang zwischen Selbstberuhigung und Selbstentwicklung.
„Da in der Medien- und Leistungsgesellschaft das logische Ich sehr viel mehr in seiner Entwicklung unterstützt wird als das ganzheitliche Selbst, ist es heute zunehmend wichtig, Trainingsmöglichkeiten für die Selbstentwicklung anzubieten.“ (Kuhl 2011) Die Schule beschäftigt sich immer noch hauptsächlich mit dem kognitiven Part der Lernenden. Die ganzheitliche Entwicklung des Menschen hat nicht die oberste Priorität – zumindest in der Volksschule. (è 17.1.3)
Man muss sich mit belastenden Situationen auseinandersetzen.4 Dadurch wird das Extensionsgedächtnis aktiviert und damit alle Erfahrungen mit ähnlichen Situationen. Wenn positive Erfahrungen häufiger oder intensiver im Gedächtnis abgelegt sind, dann stehen Lösungsansätze zur Verfügung, und das ungute Gefühl nimmt ab. Das Grübeln und sich im Kreis drehen wird durchbrochen, der negative Affekt wird herunterreguliert. Hier spricht man von Selbstberuhigung.
Vor einer Prüfung, einem Vortrag oder einem Auftritt verspüren die meisten von uns Nervosität, vielleicht sogar Versagensängste. Hier ist es wichtig, dass man diese Sorgen soweit herunter regulieren kann, dass sie nicht das ganze Denken bestimmen.
Es gibt einen zweiten Aspekt, der die Selbstberuhigung für die Lehrpersonen selber so wichtig macht. Sie müssen in schwierigen, stressigen oder traurigen Situationen Zugang zu ihrem Selbst haben, sie müssen authentisch sein, sie müssen das Gegenüber verstehen und wahrnehmen, wenn sie mit dem Kind in einen entwicklungs-förderlichen Kontakt treten wollen. Der Schüler oder die Schülerin kann die Ermutigung oder den Trost nur ins eigene Selbst integrieren, wenn dieses aktiv ist. Und diese Aktivierung wiederum basiert darauf, dass sich der Mensch ernst genommen fühlt.
Wie entwickeln sich selbstregulatorische Fähigkeiten? „Das geht umso besser, je häufiger man Beziehungen erlebt hat, in denen ein anderer Mensch einem solche positiven Deutungen vermittelt hat, die Trost und Sinn stiften.“ (Kuhl 2005, S. 16) Die Bezugspersonen der Schülerinnen und Schüler – namentlich die Eltern und die Lehrpersonen – bekommen somit eine wichtige Rolle. Bauer (2016, ab 14.06) führt dazu aus: „Wir sehen bereits bei Säuglingen, dass wir von Natur aus, dass wir von der Biologie her als Menschen auf gute Beziehungen hin konstruierte Wesen sind.“ Was damit gemeint ist, zeigt sehr eindrücklich das ‘still face experiment’ von Dr. E. Tronick, das man auf youtube anschauen kann (è17.2).
Bei älteren Kindern geht es dann einerseits auch um die Vorbildfunktion in schwierigen Situationen und andererseits um Rückmeldungen bei Frustrations-erfahrungen.
Selbstregulation geht aber einen Schritt weiter, denn das Selbst (das Extensions-gedächtnis) muss Beruhigung aktiv produzieren. Das bedeutet, dass das Selbst mit diesen oben erwähnten tröstenden, beruhigenden, positiven Impulsen der Bezugs-person verknüpft werden muss. Neurologisch werden Verknüpfungen dann gebildet, wenn die beiden Dinge quasi gleichzeitig passieren. Es muss also das Selbst in der Trost spendenden Situation aktiv sein. Und was das bedeutet, schreibt Kuhl (2005, S. 16) in diesem – wie ich finde – sehr bedeutungsvollen Satz: „Das Selbst einer Person ist solange aktiviert, wie ein Mensch sich als Person ernst genommen und verstanden fühlt.“ Und das geschieht durch Blickkontakt oder durch die Unmittel-barkeit einer Handlung oder eines emotionalen Ausdrucks als direkte Reaktion auf den Ausdruck von Gefühlen oder Zuständen des Kindes. Aufmunternde oder beruhigende Worte bleiben an der Oberfläche oder in der Situation verhaftet, wenn der Empfänger nicht das Gefühl hat, dass er verstanden wird.
„Hier liegt die wissenschaftliche Erklärung für die immense Bedeutung der Beziehungsqualität für alles Lernen, das von Selbstkompetenzen abhängig ist.“5 (Kuhl 2011)
Diese Verknüpfung von positiven Erfahrungen mit dem Selbstsystem nennt die PSI-Theorie Systemkonditionierung.
Auch Kuhl erwähnt immer wieder die ausserordentlich grosse Bedeutung der Beziehung.
„Persönliche Begegnung, liebe- und verständnisvolles Eingehen auf einen Menschen als Ganzes ist die Schlüsselerfahrung, durch die das Selbst die Fähigkeit erlangt, den Wechsel zwischen gegensätzlichen Emotionen ‚selbständig‘ herbeizuführen.“ (Kuhl 2005, S. 21)
„Die Entwicklung von Selbstkompetenzen hängt massgeblich von der Qualität der Beziehung zwischen Lernendem und Lehrendem ab.“ (Kuhl et al. 2011)
Vom Philosophen Martin Buber stammt das dazu passende Zitat: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“ Diese Aussage passt auch zu der Überzeugung, dass es für die Entwicklung des Selbst von zentraler Bedeutung ist, dass Bezugspersonen dem (Klein)Kind seine Gefühle, Fähigkeiten, Erlebnisse und Absichten angemessen widerspiegeln.
Lehrpersonen, die ihren Kernauftrag darin sehen, ein Fach zu unterrichten und Stoff zu vermitteln, die vernachlässigen wahrscheinlich die Beziehungsebene. Ein belehrender Monolog oder ein Frage-Antwort-Dialog ist keine Interaktion. Die unterrichteten Schülerinnen und Schüler fühlen sich wohl eher als Lern-Objekte denn als Personen wahrgenommen.
Wenn das Selbst nicht aktiv bzw. gehemmt ist, dann können Erfahrungen (sogar angenehme und gute) nicht in den persönlich relevanten Erfahrungsschatz integriert werden. Und das hat weitreichende Folgen, denn Selbstkompetenzen wie Motivation und Beruhigung entstehen durch „Verinnerlichung (Internalisierung) solcher beruhigenden (bzw. ermutigenden) Erfahrungen […], die in der Kindheit (und auch in der Schule) durch die prompte und auf die Bedürfnisse des Kindes abgestimmte Reaktion von Bezugspersonen ausgelöst werden.“ (Kuhl et al. 2011)
Diese Reaktionen nennt Juul Interaktionsprozesse. Die Beziehungsgestaltung kann destruktiv sein oder sie kann „insofern gesund sein, als dass sie die konstruktivsten Qualitäten beider Parteien aktiviert. (Juul 2012, S. 78) Wie auch immer, die volle Verantwortung für die Interaktionsprozesse zwischen Lehrpersonen oder Eltern und Kindern tragen immer die Erwachsenen. „Kinder und Jugendliche entwickeln sich oder leiden unter der Qualität des Prozesses oder dem Mangel an Qualität, aber sie haben weder die Einsicht in noch das Verständnis für Prozesse.“ (Juul 2012, S. 78) Dieser Verantwortung müssen sich die Lehrpersonen bewusst sein und sich ihr stellen. Die Schülerinnen und Schüler merken, ob die Lehrperson authentisch ist, ob die Interaktion zwischen den Rollen Lehrer und Schüler stattfindet oder zwischen zwei Menschen. Nur als Mensch fühlen sie sich ernst genommen und aktivieren ihr Selbst – was Voraussetzung ist für persönliche Entwicklung.
Am Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung (nifbe) hat man sich mit der Frage beschäftigt: „Wodurch wird die Schulleistung eigentlich beeinflusst?“ (Kuhl et al. 2011) Wie an anderer Stelle schon erwähnt hat man an diesem Institut schon ungefähr hundert Kompetenzen gefunden – und ist auch in der Lage sie zu messen. Konstrukte wie Selbstwirksamkeit, Kontrollüberzeugung oder Wohlbefinden können in etwa voraussagen, in welchem Masse sich Begabung in Leistung umsetzt. Sie können aber nicht hinreichend erklären, welche spezifischen Mechanismen wirksam werden. Das Team um Biebrich hat in statistischen Modellen fünf Faktoren eruiert, die die Umsetzung in Leistung beeinflussen.
Tabelle 1: Einflussfaktoren auf Leistung
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Wie schon beschrieben, bildet die innere Sicherheit des Kindes das Fundament, auf dem das Selbst ruht und worauf sich die Kompetenzen entwickeln. Neben dem in frühester Kindheit gelegten Urvertrauen kommen später Selbstwirksamkeit und Kohärenzgefühl als Nährquellen dazu. Letzteres bedeutet, dass Erfahrungen und Bedürfnisse zueinander passen.
Haben wir nicht bei vielen Schülerinnen oder Schülern „das Gefühl, dass das eigentliche Leben an ihnen vorbeirauscht. Dass sie irgendwie nur funktionieren und ihre Pflicht erfüllen, dass dies alles aber nicht den Kern des wahren Lebens trifft.“ (Storch und Kuhl 2016, Pos. 1380) Und oftmals ‚funktionieren’ sie aber auch nicht. Wenn die Schule und das eigene Leben zwei verschiedene Paar Schuhe sind, kann man dann nachhaltig lernen geschweige denn seine Begabungen entfalten? Ist es nicht Aufgabe der Schule, den Satz „non scholae, sed vitae discimus“ mit Inhalt zu füllen? Wenn ja, dann sind dazu persönliche Gespräche nötig (Selbst-Selbst-Kontakt).[6]
Der Lehrplan Volksschule (Bildungsdepartement Kanton St.Gallen 2017, S. 14) (Bildungsdepartement Kanton St.Gallen) definiert die Selbstkompetenzen wie folgt:
- Selbstreflexion: eigene Ressourcen kennen und nutzen7
- Selbständigkeit: Schulalltag und Lernprozesse zunehmend selbständig bewältigen, Ausdauer entwickeln8
- Eigenständigkeit: eigene Ziele und Werte reflektieren und verfolgen
Die geistigen Fähigkeiten, die das Denken und Handeln steuern, nennt man exekutive Funktionen oder Selbstregulation. „Wir benötigen sie, um zu organisieren und zu planen, eine Aufgabe zeitig anzufangen und dran zu bleiben, Impulse zu kontrollieren, Emotionen wie Frustration und Wut zu regulieren, sowie kreativ zu denken und flexibel nach Lösungen zu suchen.“ (Spitzer im Vorwort zu Walk und Evers 2013, S. 5) Diese Aufzählung macht deutlich, welchen entscheidenden Einfluss diese Funktionen auf das Sozialverhalten und das Lernen haben.
Das exekutive System lässt sich in drei Unterfunktionen aufgliedern: das Arbeitsgedächtnis, die Inhibition und die kognitive Flexibilität.
Das Arbeitsgedächtnis speichert (eine begrenzte Anzahl von) Informationen, bearbeitet sie weiter oder stellt eine Verbindung her zu abgespeicherten Inhalten aus dem Langzeitgedächtnis.
Inhibition ist gefragt, wenn es darum geht, Impulse zu kontrollieren oder unpassendes Verhalten zu unterdrücken. Es umfasst auch die Aufmerksamkeits-steuerung, denn Störreize müssen ausgeblendet werden. Konzentration, Fokussierung und Ausdauer hängen stark mit der Inhibition zusammen. Die kognitive Flexibilität erlaubt es, sich auf neue Situationen oder Anforderungen einzustellen. Sie dient aber auch dazu, verschiedene Perspektiven einzunehmen
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Der schweizerische Lehrplan benannte früher die Sach-, Sozial- und Selbst-kompetenz. In der aktuellen Form (Lehrplan 21) unterscheidet er die fachlichen und die überfachlichen Kompetenzen. Letztere bestehen aus der Selbst-, der Sozial- und der Methodenkompetenz.
Solzbacher (2011, S. 40) fasst die vier oben schon erwähnten Kompetenzen zusammen unter dem Begriff „Lernkompetenz“
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“Wir gehen allerdings davon aus, dass der Lernerfolg mit der Selbstkompetenz viel enger verzahnt ist als mit den anderen drei Kompetenzen, weil Lernen die Beteiligung des Selbst voraussetzt.“ (Solzbacher et al. 2011, S. 41)
Im Vorschul- und sicher auch noch im Primarschulalter dürfte die Beziehungsebene Lehrperson – Lernende die Sachebene dominieren.
Ähnlich argumentiert Juul (2012, S. 34), der der Schule ankreidet, dass sie Inhalt und Prozess nicht nur trennt, sondern dem Inhalt klare Priorität einräumt. Mit Prozess umschreibt er die Beziehung, die Art und Weise, wie man etwas erklärt, fordert, rückmeldet, die Atmosphäre und die Stimmung. Für Juul sind bezüglich Prozess zwei Sachen klar: Erstens ist der Prozess entscheidender als der Inhalt, und zweitens trägt immer der Erwachsene (Lehrperson) die Verantwortung über den Prozess, wenn Kinder beteiligt sind.9
Müller (2013, S. 174) definiert Lernkompetenz „als Fähigkeit, Informationen über Sachverhalte und Zusammenhänge selbständig oder gemeinsam mit anderen zu encodieren, zu verstehen, auszuwerten und in gedankliche Strukturen einzuordnen.“
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Das Münchner (Hoch)Begabungsmodell von Heller und Perleth zeigt sehr schön auf, wie die Umsetzung von Potenzial in Leistung beeinflusst wird. Potenzial bedeutet nach Duden „als Möglichkeit gegeben“. Es gibt verschiedene Begabungs-faktoren (musisch, kreativ, intellektuell, praktisch u.a.), die in unterschiedlichen Leistungsbereichen ihren Ausschlag finden (Technik, Mathematik, Sport, Sprachen u.a.m.). In ihrer Ausformung werden sie durch Umweltmerkmale (Familien- oder Klassenklima u.a.m.) beeinflusst. Weil diese Elemente hier nicht vorrangiges Thema sind, habe ich sie in der Abbildung nur angedeutet.
Entscheidend sind die gelb eingefärbten Persönlichkeitsmerkmale, denn hier findet man die Selbstkompetenzen wieder. Und man erkennt deutlich den Einfluss, den die Selbstkompetenzen auch auf die schulischen Leistungen haben müssen. Die Schule muss sich diesem Komplex annehmen.10
Martschinke und Frank (2015, S. 9) bestimmen die emotionalen, personalen und sozialen Kompetenzen als zentrale Merkmale der Persönlichkeit. „Dies sind klassische Entwicklungs- und Bildungsbereiche des Vorschul- und Grundschul-alters.“
Zu den emotionalen Kompetenzen gehört es, dass man eigene Gefühle wahrnimmt, dass man sie ausdrückt und reguliert. Man nimmt aber auch Gefühle der Mit-menschen wahr, man versteht sie und man nimmt daran Anteil. Zudem kann man über Gefühle reden und gewünschte Gefühle bei anderen hervorrufen. Es geht aber auch um Impulskontrolle, um Gerechtigkeitssinn.11
Personale Kompetenzen zeigen sich darin, dass man eigene Stärken bewusst wahrnimmt, dass man sich und sein Können positiv einschätzt, dass man sich etwas zutraut und sich von auftretenden Schwierigkeiten nicht übermässig verun-sichern lässt. Auch Durchhaltevermögen, Zielbewusstsein und Fleiss gehören dazu.12
Sozial kompetent zeigt sich, wer das eigene Verhalten und das der anderen wahrnimmt, wer sein Verhalten kontrolliert und steuert, wer seine eigenen Zielvor-stellungen verträglich durchsetzen kann, wer tolerant ist und sich auch für andere interessiert, wer Hilfe geben und suchen kann.13
Diese Kompetenzen sind eng miteinander verzahnt. Mein weiss, dass „hohe emotionale Kompetenzen bessere soziale Kompetenzen voraussagen. […] Für emotionale und soziale Kompetenzen im Zusammenspiel ist belegt, dass sich positive Fähigkeiten in beiden Kompetenzbereichen auf das Lernverhalten direkt und auf den Schulerfolg indirekt auswirken.“ (Martschinke und Frank 2015, S. 11) In hohem Masse haben die personalen Kompetenzen Einfluss auf die schulischen Leistungen. Die emotionalen, sozialen und personalen Kompetenzen werden zu den Schlüsselqualifikationen gezählt, die über die Schule hinaus für die Gesellschaft wichtig sind.
Die Wichtigkeit der Selbstkompetenzen im schulischen Kontext ist unbestritten. Häufig nimmt man diese Persönlichkeitsmerkmale aber als gegeben und als Voraussetzung an. Eher selten stehen diese Selbstkompetenzen im Zentrum der Förderung, häufig orientiert man sich an Sachkompetenzen. „Geringe Selbstkom-petenzen als Ursache für eine eingeschränkte oder nicht begabungsgerechte Leistungsentfaltung mitzudenken“ (Solzbacher et al. 2011, S. 40) ist eine pädagogische Aufgabe.
Im Zusammenhang mit Begabungsentwicklung und –förderung rückt zunehmend die Persönlichkeitsentwicklung in den Fokus. Schwer (et al. 2011, S. 52) postulieren sogar, „dass in dem Mass, in dem sich die Persönlichkeit entwickelt, sich auch die individuellen Begabungen entfalten, da diese nicht losgelöst von der Persönlichkeit eines Kindes zu definieren sind.“ Die Kinder brauchen also ein Umfeld, in dem sie vielfältige Erfahrungen machen können, wo sich Interessen ausbilden können, in denen sie ihr Können zeigen und weiterentwickeln können. Die Lehrpersonen ihrerseits müssen die Lernenden beobachten, prozessorientiert beraten, ihnen Wertschätzung entgegenbringen und Selbstreflexion anregen – und das alles auf der Basis von Vertrauen und Zutrauen.14
Im Lehrplan Volksschule (Bildungsdepartement Kanton St.Gallen 2017) wird auch der Bildungsauftrag aufgeführt, so wie er im Harmos-Konkordat im Artikel 3 Grund-bildung formuliert ist. „Die Schülerinnen und Schüler werden in ihrer Entwicklung zu eigenständigen Persönlichkeiten, beim Erwerb sozialer Kompetenzen sowie auf dem Weg zu verantwortungsvollem Handeln gegenüber Mitmenschen und Umwelt unterstützt.“ Die überfachlichen Kompetenzen und insbesondere die Persönlichkeitsentwicklung bekommen ausgesprochen eine Wichtigkeit.
Wenn man sich einer Anforderung gegenübersieht, die Aufwand und Mühe bedeutet, dann ist die Erwartungshaltung massgebend für die Energie, die Motivation und den Durchhaltewillen. „Erfolg im Umgang mit Widerständen setzt voraus, an die eigenen Fähigkeiten zu glauben.“ (Müller 2013, S. 81) Es kommt also entscheidend darauf an, wie man die Herausforderung, die Schwelle, die Schwierig-keit einschätzt in Bezug auf die eigene Kompetenzen.15
Aber woher kommt diese Erwartungshaltung? Wie im Kapitel è 3.6.1 beschrieben, kommt dem Extensionsgedächtnis eine wichtige Rolle zu im Zusammenhang mit der Selbstmotivation.
Bandura hat eine sozial-kognitive Theorie entwickelt, bei der subjektive Überzeu-gungen kognitive, motivationale, emotionale und aktionale Prozesse steuern. Im Speziellen meint er damit die Handlungs-Ergebnis-Erwartung und die Selbstwirk-samkeitserwartung. „Selbstwirksamkeitserwartung wird definiert als die subjektive Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungssituationen aufgrund eigener Kompetenz bewältigen zu können.“ (Schwarzer und Jerusalem 2002, S. 35) Im Gegensatz zur Selbstwirksamkeitserwartung, die direkt mit einem selbst zu tun hat, hat die Handlungs-Ergebnis-Erwartung auch eine allgemeine Komponente (wenn man für die Prüfung lernt, dann kann man sie schaffen).
„Aber wir bilden nicht nur eher die Absicht, etwas zu tun oder auch zu lassen, sondern wir arbeiten zudem intensiver an der Erreichung unserer Ziele, wenn wir von vornherein glauben, dass wir aus eigener Kraft Erfolg haben können.“ (Satow 2002, S. 174) Es besteht also eine klare Verbindung zwischen der Selbstwirksam-keitserwartung und dem Intentionsgedächtnis (è 3.1). Je nach Kompetenz-erwartung wird die Umsetzung der Absicht also gehemmt oder vorangetrieben. Zudem steuert die Selbstwirksamkeit auch das Ausmass der Anstrengung, des Engagements.16 Selbstregulation und Selbstwirksamkeitserwartung gehen also Hand in Hand.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Schwarzer und Jerusalem (2002, S. 38) äussern sich sehr explizit. „Selbstwirksam-keitserwartungen liefern also einen eigenständigen Beitrag zu Leistungsergebnissen und sind nicht einfach Ausdruck der intellektuellen Fähigkeiten.“
Es gibt verschiedene Bereiche, in denen Selbstwirksamkeitserwartungen auftreten.
A gnes ist sehr unsicher. Sie fürchtet sich vor überraschenden Ereignissen. Alleine fühlt sie sich verloren. Sie traut sich sehr wenig zu.
B alz mag Mathematik nicht. Kopfrechnen fällt ihm nicht leicht. Er weiss aber, dass er genügende Leistungen erzielen kann, wenn er aktiv mitmacht und übt.
C indy ist überzeugt, dass sie grosses Fingergeschick hat. Sie spielt begeistert Geige. Nun probiert sie aus, ob ihre Fingerfertigkeit auch beim Erlernen von Kartentricks nützlich ist.
D ario spielt beim FC Bayern München. In seinem Trikotkragen steht „mia san mia“. Mit breiter Brust laufen er und seine Kollegen auf. Sie sind überzeugt, dass sie dieses Spiel gewinnen werden.
Schwarzer und Jerusalem zitieren Untersuchungen, die belegen, „dass optimistische Kompetenz- oder Selbstwirksamkeitserwartungen eine Grundbe-dingung dafür darstellen, dass Anforderungen mit innovativen und kreativen Ideen aufgenommen und mit Ausdauer durchgesetzt werden. Ein in diesem Sinne kompetenter Umgang mit schulischen Anforderungen stellt sowohl für Lehrer als auch für Schüler eine wichtige Voraussetzung für hohe Motivation und hohes Leistungsniveau, für psychisches und körperliches Wohlbefinden und für hohe Berufs- und Lebenszufriedenheit dar.“ (Schwarzer und Jerusalem 2002, S. 36)
Die Schule muss es sich zur Aufgabe machen, den Schülerinnen und Schülern immer wieder Gelegenheiten zu schaffen, in denen sie sich kompetent erleben können.17 Dies entspricht einem der Grundbedürfnisse (è 7.1.1). Wenn Schüle-rinnen oder Schüler eigenaktiv sind, wenn der Lerninhalt auf einer Ebene mit ihrer Person zu tun hat (Interesse, Ehrgeiz, Neugier, Beziehungen – wenn gemäss PSI-Theorie das Selbst aktiv ist – dann ist Lernen selbstwirksam. „Selbstwirksames Lernen ist nur dann möglich, wenn Erfolgserfahrungen bei der Bewältigung ansprechender und herausfordernder Aufgaben gemacht werden können.“ (Solzbacher et al. 2011, S. 43) Müller (2013, S. 192) fordert in diesem Zusammen-hang: Schule muss erfolgreich sein, bzw. „Lernwege müssen gepflastert sein mit Erfolgserlebnissen.“ Vor dem Blick nach vorn kommt also immer zuerst ein Blick nach hinten. Die neue Herausforderung wird verglichen mit ähnlichen der Vergangenheit. „Konnten sie diese mit positiven Emotionen erleben und Stolz empfinden, werden sie auch der neuen, als vergleichbar eingestuften Aufgabe mit Zuversicht begegnen.“ (Weber 2012, S. 12)
Da sich die Selbstwirksamkeitserfahrung ja so stark auf die Selbstregulation aus-wirkt, ist es pädagogisch wichtig, dass solche Kompetenzen gestärkt werden. Nach Bandura (Schwarzer und Jerusalem 2002, S. 42) gibt es vier unterschiedlich starke Quellen für die Selbstwirksamkeit.
Am stärksten wirken eigene Erfolgserlebnisse, die auch den eigenen Fähigkeiten und/oder Anstrengungen zugeschrieben werden. (è 6.4.2) Es hängt von der Stärke der Selbstwirksamkeitsüberzeugung ab, ob bzw. wie stark sich Misserfolge negativ auswirken.18
Auch stellvertretende Erfahrungen durch Lernen am Modell können eine Wirkung erzielen. Am grössten ist der Effekt, wenn sich Lernender und Modell möglichst ähnlich sind (è 11.3.6). Es ist auch wichtig, dass man sich hier am Prozess orientiert. (Die Kollegin hatte auch mit Problemen zu kämpfen – wie hat sie es nun geschafft, die Schwierigkeiten zu überwinden?)19
Die dritte Quelle ist der Zuspruch, die Aufmunterung. Eine aussenstehende Person verweist auf die Stärken und das Potenzial. Diese Art der Unterstützung erlebt man im Elternhaus und in der Schulstube oft. Die Wirkung ist in der Regel aber nicht nachhaltig. Und der Effekt kann sich ins Gegenteil verkehren, wenn die nachfol-genden Anstrengungen und Bemühungen erfolglos sind.20
Die gefühlsmässige Erregung (in positiver oder negativer Form) hat den geringsten Einfluss auf die Selbstwirksamkeit.
Müller (2013, S. 81) führt noch zwei weitere Quellen auf. Die Befindlichkeit, eine grundsätzlich gute Stimmung, das ‘Gefühl, Bäume ausreissen zu können’ – all das hat sicher auch eine positive Wirkung. Und er beschreibt noch eine Quelle, die die Schule mitbeeinflussen kann, nämlich die Kompetenz zur Reflexion und Meta-kognition21. Durch diese Fähigkeit kann man die Erfahrungen nutzen und ist ihnen nicht nur ‘ausgeliefert’.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
“Ich-Stärke wird massgeblich im Dialog erlernt.“ (Solzbacher et al. 2011, S. 43) Man muss in der Schule also Situationen schaffen, in denen das Kind und die Lehr-person in ein Gespräch über das Gelernte und das Lernen kommen. In diesen Momenten der Nähe – in denen das Selbst aktiviert ist – kann das Kind Wert-schätzung erfahren und diese wertvollen Rückmeldungen in seinen Erfahrungs-schatz integrieren.22
Diese Quellen der Selbstwirksamkeit können pädagogisch gespeist werden. Nah-ziele setzen, Bewältigungsstrategien unterstützen, Lernkonferenzen, peer Tutoring, Coaching sind passende Stichwörter, auf die ich im Kapitel è 11 zum Teil näher eingehe.
Satow schreibt dem Unterrichtsklima eine wichtige Rolle in der Selbstwirksamkeits-dynamik zu. Diesen interessanten Ansatz werde ich im Kapitel è 11.3.4.1 etwas näher beleuchten.23
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Selbstwirksamkeitserwartungen, Leistungserfahrungen, Commitments und Attributionen stehen in engen Beziehungssystemen. Geschickt gesetzte Nahziele ermöglichen Erfolge. Die Erfahrung, dass der erbrachte Einsatz Früchte getragen hat, stärkt die Kompetenzerwartung. Die gesteigerte Motivation hebt z.B. das Fach in der persönlichen Wertigkeit und steigert das Engagement. 24
Natürlich gibt es auch negative Rückkoppelungen. Schlechte Leistung, selbstwert-schädigende Attributierung, Motivationsverlust, tiefe Selbstwirksamkeitserwartung sind die im Alltag oft vorkommenden Stichworte.
Für Schwarzer und Jerusalem (2002, S. 50) „ist die Förderung von Selbstwirk-samkeit in der Schule25 eine besonders vielversprechende Massnahme, die einen breiten Wirkungsbereich im Hinblick auf Motivation, Lernen und Leistung haben dürfte.“
[...]
1 Routinen, Regeln, Gewohnheiten
2 Umgang mit Schwierigkeiten, Fehlerkultur
3 Reflexion, Lerndialog, Erfolg
4 Reflexion, Sicherheit, Fehlerkultur, Beziehung
5 Beziehung LP-S
6 Lernberatung, Sicherheit, Beziehung
7 Reflexion, Ressourcen
8 Autonomie, Selbständigkeit
9 Interaktion
10 Reflexion
11 Reflexion, Dialog
12 Reflexion, Ressourcenorientierung, Umgang mit Schwierigkeiten
13 Kooperation
14 Interessen, Ressourcenorientierung, Anerkennungskultur, Reflexion, Lernberatung
15 Umgang mit Schwierigkeiten, Reflexion
16 Reflexion, Lernberatung, Anerkennungskultur, Erfolgserlebnisse
17 Erfolgserlebnisse, Kompetenzerfahrung
18 Reflexion, Anerkennungskultur, Umgang mit Schwierigkeiten
19 Dialog, Kooperation
20 Lernberatung
21 Reflexion
22 Dialog, Lernberatung, Kooperation
23 Sicherheit
24 Reflexion, Lernberatung
25 Erfolge, Lernfortschritte
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